Duisburger Filmwoche 32
schläft ein bild in allen dingen
3. bis 9.11.2008

Festival Plakatmotiv

Grafik: Tilman Lothspeich

Preisträger:innen

3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

In die Welt
von Constantin Wulff

Der Ort des Geschehens ist klar umrissen: eine Geburtsklinik in Wien. Welche Schritte sind notwendig, damit ein Mensch zur Welt kommen kann? Im beobachtenden Modus der Direct-Cinema-Schule protokolliert der Film die Abläufe innerhalb einer Institution und eröffnet dem Zuschauer eine Welt standardisierter Prozesse – Beratung, Untersuchung, Verwaltung und schließlich die Geburt selbst. Für das Miteinander von Patientin und Personal ist alles geplant, vieles bleibt dennoch unwägbar. Durch die Reibung eines Regelwerks mit Momenten individuellen Glücks und Leidens entwickelt „In die Welt“ seine besondere Spannweite: nüchtern und zugleich von physischer Wucht, intim, doch nicht voyeuristisch, distanziert, aber nie teilnahmslos.

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Die Blumenbrücke
von Thomas Ciulei

Wir sind in einem Dorf in Osteuropa, kurz hinter der Grenze der Europäischen Union. Der Bauer Costica lebt mit seinen drei Kindern allein und versucht, mit Zärtlichkeit und Strenge den Alltag zu bewältigen. Die Mutter ist fern, um Geld zu verdienen. Das Telefongespräch mit ihr klingt erstaunlich unpersönlich. Irgendwann kommt ein Paket aus Italien mit Parmesan, Sonnenbrille und Blumensamen.
Ein Film über eine Abwesenheit, der auch einer über die Präsenz und gegenseitige Unterstützung ist. Ein Film über Beziehungen. In der Familie. Zwischen Reich und Arm, EU- Europa und außerhalb. Und dem Filmemacher und seinen Helden. Besonders Vater Costica spielt seine Rolle mit Einsatz.
Ein Leben in Armut. Doch das Elend wird weder ausgestellt noch besungen. Der Filmemacher hat sich dafür entschieden, statt spektakulärer Extreme das Anpacken des alltäglichen Lebens in den Vordergrund zu stellen und auszuleuchten. Wir danken dem Filmemacher dafür, uns bei diesem Gang über die Grenze mitzunehmen.

Förderpreis der Stadt Duisburg

Sollbruchstelle
von Eva Stotz

Ein Mensch ist, was er arbeitet. Wenn er keine Arbeit hat oder sie verliert, was ist er dann? Eva Stotz projiziert ein Szenario zeitgenössischer Arbeitswelten, in denen die einen krampfhaft dort ausharren, wo sie nicht mehr geduldet werden, und die anderen nicht wissen, wo sie einsteigen können: ein Manager, der nach einer unrechtmäßigen Kündigung von Arbeitskollegen gemobbt wird; ein junger Mann, der sich als öffentliche Werbefigur erniedrigt; eine Schülerin, die sich bange nach ihren beruflichen Chancen fragt. Auf assoziative Weise verknüpft „Sollbruchstelle“ urbane Alltagsszenen und gleichnishafte Reflexionen zu einer Momentaufnahme Deutschlands in der Orientierungslosigkeit. Mit so eindringlichen wie diskursiven Mitteln regt der Film den Zuschauer an, den eigenen Standpunkt zu überprüfen, die eigene Sollbruchstelle zu finden.

Dokumentarfilmpreis des Goethe Instituts

Zuletzt befreit mich doch der Tod
von Beate Middeke

„Ich möchte, dass wenn ich zu Tode kommen sollte, dass etwas unternommen wird.“
Die Filmemacherin Beate Middeke hat mit „Zuletzt befreit mich doch der Tod“ etwas unternommen.
Ihr Film umkreist das Schicksal der jungen Frau Kay, die auf den Namen Gwendolin getauft wurde, mit Tagebucheinträgen und Gesprächen mit Familienangehörigen, Verwandten, Freunden, Betreuerinnen und einem Gutachter. Nach jahrelangen Therapieversuchen begeht Kay 2001 Selbstmord.
Die Not der jungen Frau wird im Laufe des Films immer offensichtlicher. Vermeintliche Gewissheiten werden jedoch immer wieder in Frage gestellt. Die vielfältigen Zugänge, die die Filmemacherin gewählt hat, offenbaren die Komplexität des Themas, der Wunsch des Zuschauers nach eindeutigen Antworten wird nicht erfüllt.
Das Thema des Films wird in der öffentlichen Diskussion nach wie vor häufig tabuisiert, ist jedoch weltweit von hoher Brisanz. Die Jury des Goethe-Instituts ist darüber hinaus der Ansicht, dass die Filmemacherin mit diesem Film einen außerordentlichen Zugang gefunden und eine Anregung gegeben hat, den eigenen Gewissheiten in jeder Hinsicht kritisch gegenüber zu stehen und sich wach mit seinem Umfeld auseinanderzusetzen.

Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film

Sonbol
von Niko Apel

Jurys

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Silvia Hallensleben (Berlin)
Marie-Claude Reverdin (Paris)
Frank Wierke (Unna)

3sat-Dokumentarfilmpreis

Joachim Huber (Berlin)
Dominik Kamalzadeh (Wien)
Michèle Wannaz (Zürich)

Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts

Bill Gilcher (Washington)
Carmen Hof (Rom)
Bernd Pirrung (Johannesburg)
Susanne Ponn-Rassmann (München)
Paul Püschel (Prag)
Annette Rupp (München)
Xinping Zhou (Shanghai)

Kommission

Werner Dütsch
Geboren 1939. Kindheit, Jugend und Schulen im Rheinland und im Ruhrgebiet. Arbeit in der Chemieindustrie, in Filmclubs, Filmtheatern und der Kinemathek in Berlin. Über drei Jahrzehnte Redakteur beim WDR: Filmprogramme, Produktion von Filmsendungen und Dokumentarfilmen – bis 2004. Dozent an der Kunsthochschule für Medien Köln.

Vrääth Öhner, Dr. phil.
Geboren 1965 in Linz (OÖ). Film-, Medien- und Kulturwissenschaftler. Studium der Publizistik- und Kommunikations- sowie der Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zu Theorie, Ästhetik und Geschichte von Film und Fernsehen, zu Medien- und Populärkultur. Arbeitet derzeit am Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft an einer Fallstudie über den „Justizpalastbrand 1927 als Krisensymptom gerichtlicher Ordnungsmacht“. Lebt in Wien.

Peter Ott
Geboren 1966. Filmemacher, Produzent und Lehrer. Seit 2007 Professur für Film und Video an der Merz-Akademie, Stuttgart. 2005 Gründung der Produktionsfirma abbildungszentrum2. 2001 Gründung der Produktionsfirma abbildungszentrum oHG. 1994 Gründungsmitglied Abbildungszentrum. 1986-92 Studium an der HfbK in Hamburg, Visuelle Kommunikation. Filmografie: 2007 „Hölle Hamburg“, Spielfilm, zusammen mit Ted Gaier, 88 min., www.hoellehamburg.org; 2007 „Übriggebliebene Ausgereifte Haltungen“, Dokumentarfilm, 85 min.; 2004 „Jona (Hamburg)“, Dokumentarfilm, 86 min.), www.otthollo.de/jona; 1998 „Die Spur“, Spielfilm, 90 min. 1995 „Der Renegat“, Videomagazin fortlaufend, zus. mit Silke Fischer & Jan Peters, insgesamt 240 min.; 1993 „Teiresias 2.0“ 40 min.; 1992 „Arbeitszeit“ 30 min.; 1990 „Praktische Ethik“ 6 min.; 1988 „Rekapitulation“ 12 min.

Andrea Reiter
Geboren 1973 in Mainz (DE), kam 1984 in die Schweiz. Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Zürich & Köln. 2001-06 Regieassistentin & Producerin für die Dokumentarfilmproduktion Boomtownmedia in Berlin. Lebt und arbeitet als freie Autorin und Dokumentarfilmerin in Zürich. Filmografie: 2008 etoy – Mission Eternity; 2004 Lebenslust und Lampenfieber

Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Arbeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.

Gudrun Sommer
Geboren in der Steiermark. Studium der Philosophie in Graz und Bochum. Mitarbeit bei verschiedenen Film- und Fernsehfestivals wie der International Public Television Screening Conference, den Kurzfilmtagen Oberhausen und dem Forum der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Konzeptionen für Filmreihen (Hartware Projekte, Dortmund: 2001 „passengers – dokumentarische Positionen beim Anblick der Grenze“, 2002: „was bisher geschah: erinnerungstechniken im dokumentar- und experimentalfilm“) und Ausstellungen (u.a. G.R.A.M., Peter Piller, thanatotronics) für die Duisburger Filmwoche. Gelegentlich Beiträge für das Feuilletonmagazin „Schreibkraft“, zur Zeit redaktionell für den Themenschwerpunkt „Mitte“ tätig. Seit 2001 Projektleitung von „doxs! Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche“.

Filme

Henners Traum – Das größte Tourismusprojekt Europas (Klaus Stern | DE 2008)
Unten links (Holger Mohaupt | DE 2008)
km 43.3 Der Transsylvanische Holzfall (Georg Tiller, Claudio Pfeifer | AT/DE 2007)
Weit weg von hier (Kristina Konrad | DE 2008)
Verlorene Zeit (Elisa Iven, Benjamin Greulich | DE 2008)
Sollbruchstelle (Eva Stotz | DE 2008)
Bergauf, bergab (Hans Haldimann | CH 2008)
Playgirl (Anna Wahle | CH/DE 2008)
The Moon, The Sea, The Mood (Philipp Mayrhofer, Christian Kobald | AT/FR/IT 2008)
Die Blumenbrücke (Thomas Ciulei | DE/RO 2008)
Ich gehe jetzt rein… (Aysun Bademsoy | DE 2008)
TransAsia Express (Manuel Uebersax, Özay Sahin | CH 2008)
Los Guerrilleros Colombianos (Peter Atanassow | DE 2007)
Alle Kinder bis auf eines (Andreas Bolm, Noëlle Pujol | DE 2008)
Was du willst (Bettina Braun | DE 2008)
Die abgesagte Hochzeit (Gunther Merz | DE 2007)
In die Welt (Constantin Wulff | AT 2008)
X-Mission (Ursula Biemann | CH 2008)
Sonbol (Niko Apel | DE 2008)
Bartóks Requiem (Jan N. Lorenzen | DE/HU 2008)
Chinesisch von Vorteil (Sylvie Boisseau, Frank Westermeyer | DE 2008)
Loos Ornamental (Heinz Emigholz | AT 2008)
Agridulce (Julia Keller | DE 2008)
Heidelberg (Norman Richter | DE 2008)
Mein Halbes Leben (Marko Doringer | AT/DE 2008)
Übertragung (Harun Farocki | DE 2007)
Der Cousin (Mareille Klein, Julie Kreuzer | DE 2008)
Zuletzt befreit mich doch der Tod (Beate Middeke | DE 2008)
Tote Schwule, lebende Lesben (Rosa von Praunheim | DE 2008)
Der Weg nach Mekka – Die Reise des Muhammad Asad (Georg Misch | AT 2008)

Extras

Was durch die Leinwand schlägt. Ein Vortrag von Michael Girke

Unformatisiertes Format. Es diskutieren AutorInnen und Programmverantwortliche, moderiert von Catherine Ann Berger

Die Farbe der Wahrheit, Hito Steyerl

Nuit et brouillard (Nacht und Nebel) (Alain Resnais | FR 1955)

Motto

schläft ein bild in allen dingen

Bilder der Welt zu sehen – Sehnsucht und Versprechen, längst bis zum Überdruss erfüllt und eingelöst. Aber welche Bilder sind dies zumeist? Erwartbare Konfektion, die überrumpelt statt überrascht, überredet statt überzeugt. Der Dokumentarfilm, wie wir ihn in Duisburg verstehen und propagieren, ist damit nicht einverstanden: Wir sind auf der Suche nach anderen Bildern, nach anderen Erzählungen, nach anderen Ideen. Um vielleicht neu auf die Welt und ihre Dinge zu schauen.