Film

Sollbruchstelle
von Eva Stotz
DE 2008 | 61 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 32
04.11.2008

Diskussion
Podium: Eva Stotz, Patricia Fürst (Buch)
Moderation: Hilde Hoffmann
Protokoll: Sven Ilgner

Synopse

Manager Franz wird nach 40 Jahren betriebsbedingt gekündigt, nach gewonnenem Rechtsstreit verbringt er 9 Monate in einem leeren Büro. Saskia lernt alles über die richtige Bewerbung. Gunnar erfährt, dass Körperwahrnehmung der Schlüssel zum Erfolg ist. Leben für die Arbeit.

Protokoll

EVA UND DAS TRAURIGE SCHAF

Hilde Hoffmann stellt zu Beginn fest, dass der Film sich dem Lebensgefühl in Deutschland nähert, indem er die verschiedenen Facetten von Arbeit einfängt: Broterwerb, soziale Komponente, Lebensaufgabe und letztlich eine Form von struktureller Gewalt. Eva Stotz bestätigt diese Einschätzung. Sie erzählt von ihrer Rückkehr aus Afrika nach Deutschland. Sie habe die Gesichter und Gespräche der Menschen anders wahrgenommen. Dazu kam die immanente Präsenz der Situation ihres Vaters. Seit sie 16 Jahre alt war, schwebte die Geschichte vom Mann, der täglich in sein leeres Büro geht ohne zu arbeiten oder ohne arbeiten zu dürfen, über Allem. Vielleicht sei der Film auch eine Befreiung von der Geschichte des Vaters.

Die Co-Autorin Patricia Fürst hatte den Auftrag eines Fernsehsenders, eine Sitcom über Arbeitslosigkeit zu entwickeln. Sie bekam allerdings die „absurde“ (Fürst) Vorgabe, dabei keine Begriffe wie „Hartz IV“ und „arbeitslos“ zu verwenden. Im Laufe der Recherche konnte sie den Blick von Eva Stotz auf die Arbeitswelt bestätigen. Dazu kam die Geschichte von Franz, eines Mannes anderer Generation, mit anderen Wertvorstellungen und Definitionen von Arbeit. Es sollte aber kein reines Portrait über den Vater entstehen. So musste, laut Fürst, das Projekt wie eine Zwiebel von einzelnen Schichten und Schalen befreit werden, um weitere Komponenten zu erschließen und Türen zu öffnen. Hilde Hoffmann stellt den systemischen Blick des Films heraus, der durch die Motivauswahl (Urbanes, Architekturbetrachtungen, Naturaufnahmen) entsteht. Doch erst die Verknüpfung erzeugt die Wirkung. Wie entstand die Zusammenstellung?

Ausgangspunkt war das Interview mit dem Vater. Im Laufe der Zeit wurde es immer wieder erweitert. Die Regisseurin entdeckte etwa einen Mann, der für eine Werbeaktion acht Tage in einem Plakat sitzt oder machte sich auf, Arbeitstrainings zu dokumentieren. Sie hörte einen Radiobericht über Philosophieunterricht in der Schule und fand dort schlicht Bilder. Ein Bild von flatternden Krähen im Abendhimmel fällt ihr ein. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie, sie brauchte dieses Bild. Wozu, das konnte sie dem Kameramann damals nicht erklären. Die Produktion zog sich über mehrere Jahre hin und dabei sammelte die Regisseurin ihre Bestandteile, ihre filmischen Antworten. Hilde Hoffmann greift das Thema auf. Was macht die Struktur aus, wie ist die Wertigkeit unter den Bildern? Wie sind die seriellen Bildfolgen von Gesichtern zu deuten? Die Regisseurin zitiert für ihre Antwort Andres Veiel: „Bilder als Resonanzraum“. Eva Stotz sieht die Bilder als Projektionsfläche, als Teile eines Puzzles. Ein Puzzle, das auffängt. Die seriellen Bilder von Schlafenden, Rennenden oder Wartenden sollten ein versöhnliches und warmes Gegengewicht zu den Situationen der Portraitieren erzeugen. Gleichzeitig sollten die Bilder neue Felder aufmachen, ab von der Geschichte von Franz, um das Puzzle zu vollenden. Ein Diskutant bestätigt die Arbeit der Filmemacher durch sein Lob, dass ihm kein Bild dieses Films zufällig gewählt erscheint. Als Zuschauer fühle man sich an mancher Stelle durch die Versöhnlichkeit der Bilder fast wie in einem Liebesfilm. Diese „Luft zum Atmen“ sei unbedingt notwendig, um sich dann wieder auf die „Eifrigkeit der Ausgestoßenen“ einlassen zu können.

Ein weiterer Diskutant hinterfragt die Schafgeschichte. Seiner Meinung nach handelte der zweite Schäfer korrekt, da das letzte Schaf zurück zur Herde gebracht werden würde. Somit sei die Geschichte gar nicht so grausam wie der Vater schildert. Patricia Fürst bestätigt, dass es sich um einen Almauftrieb handelt. Die Zweideutigkeit und falsche Deutung sei aber beabsichtigt, denn dies sei die Wahrnehmung von Franz. Franz entdeckt sich selber als trauriges Schaf, es ist eine Übersetzung seiner Situation. Er steckt einerseits in einer Opferrolle und kämpft andererseits mit Zähigkeit um die Erhaltung seines Postens. Daran anschließend kommt die Frage im Plenum auf, warum der Film den Vater niemals offen mit seiner Situation konfrontiert? Das Verhalten des Vaters erscheint einem Diskutanten unvorstellbar, verglichen mit der heutigen Kultur des „Take the money and run!“ Die Regisseurin widerspricht und stellt fest, dass der Film voller Antworten steckt. In jeder Interviewsequenz erklärt sich die Situation. Der Kampf des Vaters um seine Würde und seine Werte nach 30 Jahren an dieser Arbeitsstelle. Der Gedanke der Konfrontation wird von einem Diskutanten aufgegriffen. Im Fall von Sollbruchstelle werden die Konflikte nahezu masochistisch nach innen gekehrt. Patricia Fürst spricht von der emotionalen Kraft der Arbeit, die zwangsläufig in den Köpfen brodelt. Konkreter wird Eva Stotz. Sie hatte versucht, den Personalleiter, sozusagen den „Antiheld“ des Films, zu einem Interview zu bewegen. Er hatte sich aber mit aller Kraft gesperrt, wenn ihn auch sein Gewissen im Nachhinein plagte. Der einzige äußere Konflikt sei das philosophische Streitgespräch der Kinder. Die Autorinnen hatten die Erzählung des Vaters zu einer Geschichte mit Protagonisten umgeschrieben. Der Titel: Lili und das traurige Schaf.

Werner Ruzicka stellt heraus, dass eine Qualität des Films eben das Fehlen klassischer „80er Jahre Konflikte“ sei. Die „Isolationsfolter“ des Vaters, seine Erzählungen von Begegnungen am Kaffeeautomat der Firma und der Bewertung dieser Situationen sei doch viel bedrohlicher und beklemmender als der offensichtliche äußere Konflikt. Ruzicka bezeichnet den Film als sehr katholisch. Wir werden Zeuge einer vertrauensvollen und prägnanten Beichte des Vaters gegenüber der Tochter. Eine Beichte mit todtrauriger Pointe: Der Vater verlässt weinend das Bild, nachdem er seiner eigenen Tochter seine Suizidgedanken gestanden hat. Gibt die Tochter somit ihre Absolution? Wie verkraftet die Filmemacherin die Beichte des traurigen Schafs? Eva Stotz hat die Szene lange Zeit aus dem Film gehalten, doch letztendlich sei sie doch zu sehr Regisseurin um darauf verzichten zu können. Die Szene sei ihr selbstverständlich „eingefahren“, doch die Logik forderte dieses Ende. Der Vater gesteht, hält sich die Hand vor das Gesicht und hinterlässt das Bild eines leeren Stuhls vor Gitterstäben. Ein hartes Ende. „…aber es gab keine andere Möglichkeit.“

Literaturhinweis:

Im Zusammenhang mit dem Film ist im UVK-Verlag erschienen:

Dokumentarfilm – Werkstattberichte, Andres Veiel, Beatrice Ottersbach (Hg.)

Das Buch ist am Festivalzentrum der Duisburger Filmwoche einzusehen und zu erwerben.