Synopse
Eine junge Frau hat sich das Leben genommen. In Gesprächen mit Familie, Nachbarn und Therapeuten entsteht eine Vorstellung ihres unaushaltbaren Lebens, geprägt von Missbrauch, Vernachlässigung und Schmerz.
Protokoll
Beate Middeke hat Kay/Gwendolin Ende 1997 im Rahmen eines medienpädagogischen Projekts kennen gelernt. Ein für Middeke beeindruckendes Treffen, bei dem sie die positiven Seiten und die Kraft Kays kennen gelernt hat. Middeke überlegt mit ihr in Kontakt zu bleiben, kein Mensch hat sie bisher so lange und intensiv beschäftigt. Aus Angst, in die Borderlinestrukturen Kays zu geraten und mit dem Wissen, nicht genügend Zeit für die notwendige Kontinuität aufbringen zu können, entschließt sich die Filmemacherin für eine Beobachtung aus der Ferne. Sie erkundigt sich regelmäßig über Kay und erfährt so auch von ihrem Selbstmord im Jahr 2001.
Middeke steht in Kays Zimmer und sieht das Chaos, das die Eltern auf der Suche nach Wertgegenständen hinterlassen haben. Ein öffentliches Zimmer mit Plastikmöbeln, das aussieht, wie nach einem Einbruch. Zeugnisse, Bücher, Fotos und Briefe – alles Private liegt noch da.
Dem Ermittlungsverfahren, das nach jedem Suizid durchgeführt werden muss, schließt sich ein anderthalbjähriges, letztendlich erfolglos eingestelltes Verfahren gegen den Stiefvater an. Nach dessen Ende beginnt Middeke mit den Arbeiten zu ihrem Film. Kein einfaches Thema, keine einfache Finanzierung.
Peter Ott beschreibt die Kreise, die Middekes Film um ein Schicksal zieht, dessen Gesicht die Zuschauer nie zu sehen bekommen. Die seit 10 Jahren durch die Gegend geisternde Forderung nach Protagonisten im Dokumentarfilm wird nicht erfüllt, so Ott weiter. Kay als Antiprotagonistin, als schwarzes Loch des Films, das einen Sog ausübt.
In den hinterlassenen Texten findet Middeke einen (fast testamentarisch verfassten) Auftrag Kays: Die, die sie verletzt haben, sollen nach ihrem Tod ihre gerechte Strafe bekommen. Die Filmemacherin begreift die Texte als persönliche Erlaubnis, den Film machen zu dürfen. Sie hat das Gefühl, sie muss den Film machen. Robin Hood zu spielen und den Tätern die gerechte Strafe zuzufügen wäre aber zu wenig gewesen. Der Film soll als exemplarisch gesehen werden und zeigen, was in Deutschland und anderswo mit missbrauchten Kindern passiert. Auch deshalb haben die Befragten keine Namen, sondern nur Funktionen.
Was letztendlich mit Kay passiert ist, weiß auch Middeke nicht zu sagen. Aber das Gefühl, dass etwas passiert ist, ist stark. Kay ist nicht zu sehen, denn ihre Geschichte will Middeke als Eine von vielen erzählen. Dabei will sie es niemandem leicht machen und mutet den Zuschauern die klaustrophobische Stimmung zu. Sie stimmt einer Vermutung aus dem Publikum zu, in der Schlussszene eine Stellvertreter-Position gegenüber dem Stiefvater eingenommen zu haben. Sie wollte ihn konfrontieren.
Nach dem Konzept gefragt, erläutert Justyna Feicht, das sie mit ihrer Kamera auf das Geschehen reagiert hat. Trotz der relativ statischen, da im Sitzen stattfindenden, Interviews ist die Kamera lebendig und atmet. Feicht hat versucht auf die verschiedenen Situationen zu reagieren und sich intuitiv z.B. für den Schwenk auf die Hände einer Interviewpartnerin, die während des Redens auf den Tisch klopft, entschieden. Eine Kamera, die nicht von oben herab filmt, sondern sich aus der Hüfte heraus auf Augenhöhe mit den Interviewten bewegt. Bei der Auswahl der Intervieworte folgte Middeke einem klaren Konzept: Menschen, denen Kay privat begegnet ist, werden an privaten Orten befragt, die Mitarbeiter/innen aus Institutionen an ihrem Arbeitsplatz.
Eine, wie Middeke befindet, treffende Bemerkung wird im Publikum gemacht: Die Räume wirken durch die Auswahl der Ausschnitte sehr eng, die Befragten werden zu Riesen und schieben sich so zwischen Kay und die Zuschauer. Genau wie Kay nicht aus ihrer Situation heraus kam, kann auch die Geschichte nicht unvermittelt ihren Weg finden.
Die Texte Kays wollte Middeke nur sparsam einsetzen, um den Zuschauern nicht zu viel zuzumuten. Den Versuch einen Text, in dem Kay ihren Missbrauch beschreibt, ganz lesen zu lassen hat Middeke kaum ausgehalten. Die Schilderungen sind so schrecklich, dass sie Angst hatte, unglaubwürdig wirken zu können.
Im Schnitt spiegelt sich das Rohe, Eckige, das auch an anderen Stellen des Films, z.B. in den Meeresbildern, zu spüren ist. Die variierenden Rahmensetzungen in den Gesprächen ist dem Gefühl der Filmemacherin gegenüber den Gesprächspartnern geschuldet. „Man kann den Leuten nur so nah kommen wie man sich fühlt“ so Middeke. Und das war z.B. im Gespräch mit dem Staatsanwalt, das eh schwierig war, nicht möglich. Nach der Dramaturgie des Films gefragt, erklärt Middeke, dass die Konfrontationsszene mit dem Stiefvater lange vorne im Film gewesen sei und im Schnittprozess erst sehr spät ans Ende gekommen sei.
Ein Diskutant möchte wissen, ob es schwer war, die Eltern zum Mitmachen zu bewegen. Middeke verneint. Die Mutter war froh, vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Trennung vom Vater, eine Gesprächspartnerin zu haben. Sie trauert, so Middeke weiter, und ringt um Schuld und Unschuld. Nach der eigenen, inneren Revolte gegen manche Aussagen der Eltern gefragt, erklärt Middeke, sie habe versucht, mit jedem ihrer Gesprächspartner sehr nüchtern zu reden und keine emotionale Gesprächsebene zuzulassen.
Zuletzt befreit mich doch der Tod ist für Middeke kein Therapiefilm, sondern die strukturelle Offenlegung von Räumen, in denen so etwas wie die Missbrauchsgeschichte von Kay passiert.
Es gibt keine Person, weil sie nie eine Chance gehabt hat, eine zu werden (Peter Ott).
Peter Ott © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald