Duisburger Filmwoche 31
WO WENN NICHT HIER
5. bis 11.11.2007

Festival Plakatmotiv

Grafik: Tilman Lothspeich

Preisträger:innen

3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

Zuoz
von Daniella Marxer

Die Ausübung von Macht will gelernt sein, und wie kann sie effizienter gelernt werden als in einem System der ständigen Kontrolle. Wer begreift hier nicht, was Macht ist und warum er später über sie verfügen will. Eine abgeschlossene, fast von der Umwelt isolierte Internatswelt für den Nachwuchs der globalen Wirtschaftselite: Die teilnehmende Beobachtung findet ihren Rhythmus im Ablauf von Unterricht und Freizeit, die gleichermaßen reglementiert sind. Der Mikrokosmos wird in eindringlichen Szenen und Bildern analysiert, die eine Bandbreite an Widerstandsgesten und Anpassungsmechanismen aufscheinen lassen. Im Lyceum Alpinum ist Unterwerfung von geschmeidigeren Erziehungsmethoden abgelöst worden. Die nachhaltige Wirkung des Films besteht nicht zuletzt darin, dass das moderne Internat als Modell für die Unternehmensführung sichtbar wird.

ARTE-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland
von Frank Wierke

Ein altes englisches Haus, ein verwilderter Garten mit aussterbenden Apfelsorten. Und der alte Dichter Michael Hamburger, der im alltäglichen Kleinkrieg mit wucherndem Grünzeug, angesammelten Erinnerungen und fortschreitender Gebrechlichkeit ringt. Die zärtliche Kamera von Regisseur Frank Wierke folgt ihm zwischen Sofa und Abstellkammer, Billard im TV und Briefkasten. Wie Hamburgers Gedichten gelingt es dabei auch dem Filmemacher, aus dem Nahblick auf die konkreten Dinge eine ganze Welt zu erschaffen. Er schafft das fast Unmögliche: Poesie ohne jeden Kitschverdacht in Dokumentarfilm zu verwandeln. „Ich geh mir jetzt Tee machen“, sagt Michael Hamburger am Schluss des Films. Wir finden, ein Film der so endet, muss einen Preis bekommen.

Förderpreis der Stadt Duisburg

The Halfmoon Files
von Philip Scheffner

Eine körperlose Stimme steht am Beginn eines Films, der der Stimme einen Körper, dem Körper ein Bild und dem Bild eine Biografie geben will. Als Zuschauer ist man in eine Suche eingebunden, die in Wünsdorf nahe Berlin beginnt und in Indien zu keinem Ende gelangt. Der Autor arbeitet sich durch historisches Material, ohne die vorhandenen Lücken zu übertünchen: Ein Inder kämpft im Ersten Weltkrieg in der britischen Armee, gerät in deutsche Gefangenschaft und wird zum Forschungsobjekt deutscher Rassenideologie. Ton- und Bildebene sind wunderbar komplex miteinander verzahnt – der Zuschauer hört plötzlich Stimmen und sieht Geister. Die Recherche einer Fußnote der Geschichte wird so zur Erzählung über die Schwierigkeit, historische Wirklichkeit zu rekonstruieren – so überlegt wie vielschichtig, so witzig wie klug.

Dokumentarfilmpreis des Goethe Instituts

The Halfmoon Files
von Philip Scheffner

Der Film spielt auf eindrucksvolle Weise mit unseren Seh- und Hörgewohnheiten. Durch den Einsatz verschiedener Medienformen ist ein lakonischer, vielschichtiger, essayistischer Film entstanden, der uns einen neuen Blick auf Fragmente der Geschichte erlaubt. Er deckt Lücken in der Geschichtsschreibung auf und eröffnet neue Perspektiven für die Wahrnehmung des Festgeschriebenen. Durch die originellen Verknüpfungen von Archivmaterial und Spurensuche werden aus den Geistern der Geschichte höchstlebendige Protagonisten unserer eigenen Reflexion.

Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film

Sieben Mulden und eine Leiche
von Thomas Haemmerli

Jurys

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Jörg Adolph (München)
Silvia Hallensleben (Berlin)
Marie-Claude Reverdin (Paris)

3sat-Dokumentarfilmpreis

Joachim Huber (Berlin)
Dominik Kamalzadeh (Wien)
Michèle Wannaz (Zürich)

Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts

Amos Dolav (Goethe-Institut Tel Aviv)
Johannes Hossfeld (Goethe-Institut Nairobi)
Heli Meisterson (Goethe Institut Tallinn)
Susanne Ponn-Rassmann (Zentralverwaltung München)
Doina Popescu (Goethe-Institut Toronto)
Subramanian Raman (Goethe-Institut Kallkutta)
Frank Werner (Zentralverwaltung München)

Kommission

Werner Dütsch
Geboren 1939. Kindheit, Jugend und Schulen im Rheinland und im Ruhrgebiet. Arbeit in der Chemieindustrie, in Filmclubs, Filmtheatern und der Kinemathek in Berlin. Über drei Jahrzehnte Redakteur beim WDR: Filmprogramme, Produktion von Filmsendungen und Dokumentarfilmen – bis 2004. Dozent an der Kunsthochschule für Medien Köln.

Barbara Pichler
Geboren 1968. Studium der Theater- und Filmwissenschaft an der Universität Wien, Film & TV Studies an der University of London/BFI. Seit 1995 im Film- und Medienbereich als Kuratorin, Publizistin, Lektorin und Übersetzerin tätig. U.a. Katalogredakteurin der „Diagonale. Festival des österreichischen Films“ (2004–2006); Co-Kuratorin der Film- und Vortragsreihe moving landscapes (November 2004, Österr. Filmmuseum, Wien) sowie Co-Herausgeberin der gleichnamigen filmwissenschaftlichen Essaysammlung (Wien 2006); arbeitet zur Zeit an einer James-Benning-Monografie. Lebt in Wien.

Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Arbeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.

Gudrun Sommer
Geboren in der Steiermark. Studium der Philosophie in Graz und Bochum. Mitarbeit bei verschiedenen Film- und Fernsehfestivals wie der International Public Television Screening Conference, den Kurzfilmtagen Oberhausen und dem Forum der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Konzeptionen für Filmreihen (Hartware Projekte, Dortmund: 2001 „passengers – dokumentarische Positionen beim Anblick der Grenze“, 2002: „was bisher geschah: erinnerungstechniken im dokumentar- und experimentalfilm“) und Ausstellungen (u.a. G.R.A.M., Peter Piller, thanatotronics) für die Duisburger Filmwoche. Gelegentlich Beiträge für das Feuilletonmagazin „Schreibkraft“, zur Zeit redaktionell für den Themenschwerpunkt „Mitte“ tätig. Seit 2001 Projektleitung von „doxs! Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche“.

Filme

Holunderblüte (Volker Koepp | DE 2007)
Wege Gottes (Eva Neymann | DE 2006)
Schindlers Häuser (Heinz Emigholz | AT 2007)
Osdorf (Maja Classen | DE 2007)
Draußen bleiben (Alexander Riedel | DE 2007)
Kurz davor ist es passiert (Anja Salomonowitz | AT 2006)
In Liebe – Britta Schmidt (Katharina Pethke | DE 2007)
Aufschub (Harun Farocki | KR/DE 2007)
Michael Hamburger – Ein englischer Dichter aus Deutschland (Frank Wierke | DE 2007)
Put mira (Gian-Reto Gredig | CH/BA 2007)
Das Leben ist ein langer Tag (Svenja Klüh | DE 2007)
Gibellina – Il terremoto (Joerg Burger | AT 2007)
Bellavista (Peter Schreiner | AT 2006)
Journal No. 1 (Hito Steyerl | BA/AT/DE 2007)
Fischbach (Thomas Grusch, Hannes Böck | AT 2007)
Zuoz (Daniella Marxer | FR/AT 2007)
Das Block (Chris Wright, Stefan Kolbe | DE 2007)
Hotel Very Welcome (Sonja Heiss | DE 2007)
Maryvilla (Filipp Forberg | DE 2007)
KEHRAUS, wieder (Gerd Kroske | DE 2006)
The Halfmoon Files (Philip Scheffner | DE 2007)
DIENSTAG und ein bißchen mittwoch (Susanne Mi-Son Quester | DE/RK 2007)
Kinder. Wie die Zeit vergeht. (Thomas Heise | DE 2007)
Sieben Mulden und eine Leiche (Thomas Haemmerli | CH 2007)
Übriggebliebene Ausgereifte Haltungen (Peter Ott | DE 2007)
Wenn ich eine Blume wäre … (Barbara Burger | CH 2007)
The End of the Neubacher Project (Marcus J. Carney | AT/NL 2006)
Verlieren (Gintersdorfer/Klaßen | DE/FR 2006)

Extras

Die dokumentarische Fiktion

casting a glance (James Benning | US 2007)

Gente del Po (Michelangelo Antonioni | IT 1943-47)
N.U. (Nettezza Urbana) (Michelangelo Antonioni | IT 1948)
Tentato suicidio (Michelangelo Antonioni | IT 1953)

Motto

WO WENN NICHT HIER

Wo die Rede ist von Wirklichkeitsverlust und Wirklichkeitsverdruss, sollte man weghören. Nicht zuletzt der Dokumentarfilm beweist Jahr um Jahr, dass die Realität die vornehmste Herausforderung visuellen Erzählens ist. In ihm kehrt die Welt zu uns zurück, mit ihm lernen wir, Bilder wieder und neu zu lesen, durch ihn nehmen wir Anteil an vergegenwärtigter Geschichte und verborgenem Leben.

Wenn allerdings Formatisierung, Serialisierung und ein zu opportuner Blick auf den Kassenerfolg den Dokumentarfilm zu sterilisieren drohen, ist Anlass zur Sorge. Daher will die Filmwoche den Blick auf die widerständigen Formen richten, auf die herausfordernden Thesen, die neuen Perspektiven.

Nicht repräsentativ, nicht trendy, nicht quotenfixiert: Das Programm der Filmwoche wird die für uns wichtigen Filme des Jahres aus Deutschland, der Schweiz und Österreich auswählen und zu einem dichten Programm verweben. Jeder Film hat für sich alleine zu stehen. Und das Programm ist mehr als die Summe der Filme.

Hier also ist der Ort, hier ist die Zeit, die Kunst der Wirklichkeit wahrzunehmen. Für eine Woche sich einzurichten zwischen Filmen und Debatten, sich einzustimmen auf Sehen und Denken, Empfindung und Äußerung. Dazu laden wir herzlich ein.