Film

Verlorene Zeit
von Elisa Iven, Benjamin Greulich
DE 2008 | 82 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 32
04.11.2008

Diskussion
Podium: Elisa Iven, Benjamin Greulich, Ruben S. Bürgam (Schnitt)
Moderation: Birgit Kohler
Protokoll: Judith Funke

Synopse

Beobachtungen in einer Jugendvollzugsanstalt. Bei den Versuchen, den  reglementierten Tagesablauf und die räumliche Enge zu überstehen, hat jeder seine eigene Strategie entwickelt. Der Traum von der Freiheit ist betörend wie beängstigend. 

Protokoll

VERLORENE ZEIT, die erste dokumentarische Arbeit von Elisa Iven und der Abschlussfilm von Benjamin Greulich, ist aus Fragen entstanden – und so scheint es nur folgerichtig, dass die Fragen der Regisseure und deren Umsetzung im Film auch zu einem zentralen Thema der Diskussion werden.

Die Frage, die am Anfang der Recherche zu VERLORENE ZEIT stand, war zunächst eine pragmatische: Wie kommt man eigentlich in eine Jugendvollzugsanstalt? Tatsächlich „reinzukommen“ und in Kontakt mit den Insassen zu treten, war für die beiden Filmemacher kein ganz einfaches Unterfangen. Iven und Greulich gelang eine erste Kontaktaufnahme mit dem Gefängnis durch Vermittlung des Gefängnispfarrers. Ihre Recherchen und Dreharbeiten in der Einrichtung waren durch strikte Auflagen der Gefängnisleitung mitbestimmt. So wurde neben der Dauer der Dreharbeiten auch die Wahl der Protagonisten durch eine Vorauslese der Gefängnisleitung wesentlich eingeschränkt; ständig waren die beiden auf die Kooperationsbereitschaft der Beamten angewiesen. Zudem erschwerten Wechsel in der Zellenbelegung, Verlegungen in andere Gefängnisse und überraschende Entlassungen eine kontinuierliche Arbeit mit einzelnen Jugendlichen. Bereits eingeplante Protagonisten waren auf einmal „weg“. Insgesamt fühlten sich Iven und Greulich trotz gewisser Widrigkeiten doch herzlich empfangen, vor allem von den Jugendlichen, die im Zentrum des Films stehen sollen.

Elisa Iven benennt als Ausgangspunkt ihres persönlichen Interesses jüngere politische Diskussionen zu Gefängnisreformen, vor allem im Bereich des Jugendvollzugs, und ihren Ärger über die Art und Weise, in der das Thema verhandelt wird. Als Gegenposition zu der anmaßenden Haltung, die Iven im öffentlichen Sprechen über die Jugendlichen ausmacht, wollten sie direkt von den ‚Eingesperrten’ von deren Alltag und Sehnsüchten erfahren; der Zuschauer soll sich „ein Bild davon machen können“, was den Jugendlichen wichtig ist.

Auch Kohler hat diese Schwerpunktsetzung beobachtet, sieht den Fokus auf den Insassen, während die Institution Gefängnis „eher beiläufig miterzählt“ werde.

Die Arbeit mit den Jugendlichen wird als wenig problematisch beschrieben. Für das Kennenlernen der im Film vorkommenden Protagonisten blieb zwar nur sehr wenig Zeit. Trotzdem habe vor allem Greulich Wert darauf gelegt, erst „miteinander warm zu werden“, bevor Mikrofon und Kamera eingeschaltet wurden. Sehr schnell sei dann eine normale Unterhaltung auf Augenhöhe möglich gewesen.

Ausgehend von der räumlichen Enge der Gefängniszellen interessiert Kohler, wie mit der Frage von Nähe und Distanz umgegangen wurde. Greulich bestätigt, dass das Filmen in den Zellen die Annäherung erleichtert hat; trotzdem habe er beim Arbeiten mit der Handkamera versucht, eine gewisse Distanz zu wahren. Andererseits sei nur drinnen – hinter von innen verriegelten Zellentüren – überhaupt Nähe möglich gewesen. Im Hof habe man sich wegen der „Vorbehalte“ der übrigen Gefangenen stark zurückziehen müssen, daher die von Kohler konstatierten Kontraste. Wichtig sind für Greulich aber auch die Räumlichkeiten als solche, wie die Insassen sich auf minimalem „Luftraum pro qm Zellenfläche“ (so der Beamtenjargon) einrichten, ihre persönlichen Gegenstände arrangieren.

Ob der Film als Bewegtmedium für die Darstellung von Langeweile und Stillstand geeignet sei? Greulich beschreibt die Kranfahrt, durch die das filmische Eindringen in die Institution erfolgt, als eine Bewegung, die bewusst auch als Kontrast zum starren, beengten Innenleben der Einrichtung konzipiert ist. Angesichts des völlig unzureichenden therapeutischen Angebots und der Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, schildert Greulich, sei ein Eindruck des Stillstands entstanden, der sich auch in der Wahl der Bilder spiegeln sollte.

Aus dem Publikum wird mehrfach das hartnäckige Vorgehen Ivens in den Interviews, ihr „engmaschiges“ Nachfragen (Kohler) hinterfragt und kritisiert. Von „pädagogisch-suggestivem Singsang“ ist die Rede, die Gespräche mit den Jugendlichen würden (im Gegensatz zu denen mit Erwachsenen) eben nicht auf Augenhöhe geführt.

Dass ihre Art der Moderation polarisiert, räumt Iven durchaus selbstironisch ein; pädagogische Züge möchte sie sich aber auch von Greulich nicht zuschreiben lassen.

Die Frage nach eventuellen Auswirkungen ihres teils spontanen, teils strategischen Vorgehens stößt auf Unverständnis: Iven sieht sich hier nicht in der Verantwortung – und polarisiert auch mit dieser Position: vereinzelt wird applaudiert, ein Diskutant verlässt unter Protest den Saal. Wenn man sich auf das Gespräch mit ihr eingelassen hat, könne sie die Fragen, die sie hat, auch stellen, betont Iven. „Ich frag halt nach.“

Eine gewisse Hartnäckigkeit sei notwendig gewesen, so Greulich – nur so sei überhaupt ein Gespräch zustande gekommen – und auch angebracht, denn die „Jungs“ möchten ihre Geschichten ja schon gerne erzählen. Sie seien aber eben manchmal wortkarg, ergänzt Bürgam. Auswirkungen auf das Verhältnis der Protagonisten hätten die Interviews aber sicher nicht, „das ist denen egal“.

Ein weiterer Diskutant befürwortet gerade die Entscheidung, die forschen Fragen in den Film einzubinden: Mutig, sich so angreifbar zu machen. Andere haben „einiges gelernt“, zeigen sich „tief beeindruckt“ und „außerordentlich dankbar“.

Kohler bemängelt ein „Ausfransen“ des Films durch die Stellungnahmen der Ausbilder. Im Gegensatz zu den sonstigen Beamten, die bewusst außen vor gelassen wurden, sei es wichtig gewesen, das wenige, was an Beschäftigungs- und Therapieangeboten vorhanden sei, auch zu zeigen, erläutert Iven.

Ein weiterer Kritikpunkt aus dem Publikum: Weder die (Zukunfts-)Perspektiven der Gefangenen, noch die Defizite der Institution seien genügend deutlich geworden. Handelt es sich nicht eher um zwei Filme in einem? Jedenfalls komme es zu keinem befriedigenden Ende. Die Antwort der Regisseure: „Ein befriedigendes Ende kann es nicht geben“. Ähnliches ließe sich wohl auch für eine derart auseinander gehende Diskussion behaupten.