Duisburger Filmwoche 39
AUSGÄNGE
2. bis 8.11.2015

Festival Plakatmotiv

Grafik: Tilman Lothspeich

Preisträger:innen

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Zaplyv – Die Schwimmer
von Kristina Paustian

Als sich im Westen in den sechziger Jahren die Jugend auf Sinnsuche begab, fand sie häufig Antworten in fernöstlichen Heilslehren und in Sekten. Die alten Institutionen – Staat und Kirche – hatten an Bindungskraft und Macht verloren. Neue Orientierungspunkte wurden gesucht, neue Wege, das Glück zu finden. Kristina Paustian geht mit ihrem Film „Zaplyv“ diesem Bedürfnis im aktuellen Russland nach, einer Gesellschaft, die nie solch eine Erosion traditioneller Autoritäten erlebt hat, in dem das Individuum nie selber für sich Verantwortung tragen musste. Wie sieht hier die Sinn- und Glückssuche aus?
Paustian begibt sich in den Süden des Landes, in dem der ehemalige Physiker Boris Zolotov eine Kommune meist junger Frauen um sich geschart hat. Die Rituale der Gruppe bestehen aus täglichen Schwimmstunden und nächtlichen Theaterperformances, während der „Guru“ seine kosmologischen Weisheiten mit der Autorität eines gütigen Autokraten verbreitet. Paustian geht es nicht um Erklärung oder Entlarvung, sie nähert sich ihrem Gegenstand aus überraschenden Perspektiven, die das Thema eher kaleidoskopisch öffnen, als es sukzessive „handhabbar“ zu machen. Damit findet sie eine freie Form – zwischen dokumentarischer Spurensuche und Inszenierung –, die im Gegensatz steht zu allen traditionellen oder alternativen Orthodoxien ihres Geburtslandes.

3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

Über die Jahre
von Nikolaus Geyrhalter

Die Fabrik verlässt die Arbeiter, heißt die treffende Umkehrung einer Urszene des Bewegtbildes, die Harun Farocki zum 100. Geburtstag des Kinos für die Zeit der Globalisierung formuliert hat.
Der Film „Über die Jahre“ nimmt diese Beschreibung auf, wenn die zehn Jahre dauernde Langzeitbeobachtung ihren Ausgangspunkt in der Schließung einer Textilfabrik mitten in Europa findet. Der Film folgt aber nicht – wie so oft im Werk des Regisseurs Nikolaus Geyrhalter – den komplexen Bewegungen eines weltumspannenden Zusammenhangs, sondern er verbleibt bei den arbeitslos gewordenen Menschen im Waldviertel, im nördlichsten Teil Österreichs. Es geht um das Weiterleben von sechs Angestellten der einstigen Anderlfabrik, für die der Verlust eine teils existenzielle Frage nach dem Neubeginn aufwirft.
„Über die Jahre“ bilanziert auf respektvoll-zugewandte Weise einen Posten, der in den kühlen Kalkulationen der Profitmaximierung „Humankapital“ heißt – er portraitiert Menschen, die sich nie in den Vordergrund stellen würden, und er bringt Leute zum Reden, die nicht wissen, was an ihren Routinen interessant sein sollte.
Dabei erweist sich Geyrhalter – vor dem Hintergrund seines Werks vielleicht etwas überraschend – als großer Humanist, der die Bilder dieser Erzählung, gemeinsam mit seinem Cutter Wolfgang Widerhofer, mit freundlicher Ironie montiert. „Über die Jahre“ ist ein Film, der den Menschen auf respektvolle Weise begegnet und der seine Bilder in einem beeindruckenden Gespür für Rhythmus fragen und schweigen lässt. Ein Film, der keinesfalls beschönigt, aber im besten Sinn optimistisch ist. Der 3sat-Preis der Duisburger Filmwoche 2015 geht an „Über die Jahre“ von Nikolaus Geyrhalter.

„Carte Blanche“ Nachwuchspreis des Landes NRW

Sag mir Mnemosyne
von Lisa Sperling

Lisa Sperling begibt sich auf die Suche nach der Lebensgeschichte ihres Großonkels, der Ende der 50er Deutschland verließ und unter anderem in Griechenland als Kameramann arbeitete. Es sind keine persönlichen Erinnerungen, die die Filmemacherin mit ihm verbinden, sondern seine Aufzeichnungen und die Erinnerungen anderer, die sie in einem poetischen Text zusammenführt. Dieser schwappt wie die Wellen des griechischen Mittelmeers immer wieder über die Aufnahmen von Schauplätzen der Filme des Großonkels und seines Lebens. Das Lose und Vage dieses fremden Lebens und der fremden Erinnerungen bildet der Film mit einer Klarheit ab, die erst die zeitliche und persönliche Distanz möglich macht. Die große Sicherheit, mit der sie sich ihrer filmischen Mittel bedient, um in unseren Köpfen Bilder von der Geschichte ihres Großonkels zu kreieren, macht uns neugierig auf das, was Lisa Sperling in ihrem nächsten Film erzählen wird.

Förderpreis der Stadt Duisburg

Eismädchen
von Lin Sternal

Wir sehen uns täglich konfrontiert mit Bildern sportlicher Erfolge und bis auf den letzten Muskel durchtrainierter Körper. Weit weniger häufig erfahren wir von der enormen Anstrengung, die hinter diesen Bildern steckt.
Just dahin aber leitet Lin Sternal in „Eismädchen“ ihren Blick und zwar in eigenwilliger und überraschender Art. Indem sie abrückt vom Wohlvertrauten, dem Brennpunkt des (sportlichen) Geschehens, und den Blick in stiller Beobachtung auf dessen Ränder verlegt. Auf die Gesichter der Personen, die dort stehen und ohne die solche Leistungen gar nicht möglich wären. Im Falle von „Eismädchen“: Die Mutter, die Trainerin und die jeweils andere Schwester.
Im Aufbruch vom Ort des sportlichen Geschehens, der Eislaufarena, ins Private des Zuhauses, erzählt „Eismädchen“, ohne dafür unnötige Worte zu verwenden, auch das Andere: Vom Heranwachsen unter diesem enormen Druck, der die zwei Schwestern, weit mehr als dies unter Geschwistern gemeinhin üblich ist, zu latenten Konkurrentinnen macht und die Mutter als dritte des schicksalhaften Trios zur tragischen Vermittlerin bestimmt.
Es zeigt die junge Regisseurin in ihrem fast ganz von der exakten Beobachtung lebenden Film ein bewundernswert reifes Vertrauen in ihre eigenen Bilder: „Eismädchen“ ist ein starker Frauenfilm – und der fragmentarische Anfang einer „Coming-of-age“-Story, in deren (deutschem) Titel subtil sinnfällig anklingt: die Härte, die solch sportliches Heranwachsen bestimmt, und die Fragilität, die solch jungem Menschenleben innewohnt.

Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film

Lampedusa im Winter
von Jakob Brossmann

Jurys

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Susanne Mi-Son Quester
Regisseurin und Kuratorin

Sven von Reden
Filmkritiker

Thomas Imbach
Schweizer Spiel- und Dokumentarfilmregisseur

3sat-Dokumentarfilmpreis

Irene Anna Genhart
Journalistin und Autorin aus der Schweiz

Gunnar Landsgesell
Journalist und Autor aus Österreich

Matthias Dell
Filmredakteur der Wochenzeitung der Freitag

Förderpreis der Stadt Duisburg
„Carte Blanche“ – Nachwuchspreis des Landes NRW

Irene Anna Genhart
Susanne Mi-Son Quester

Kommission

Till Brockmann
Geboren 1966 in Hannover, aufgewachsen im Tessin. Studium der Geschichte, Japanologie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2001 Lehrbeauftragter der philosophischen Fakultät. Seit 1995 als Filmjournalist und Filmkritiker, mehrheitlich für die NZZ tätig. Seit 2003 Dozent für Filmgeschichte und audiovisuelle Theorie an der European Film Actor School, Zürich. Seit 2007 Dozent für Filmgeschichte an der F+F, Schule für Kunst und Mediendesign Zürich. Seit 2002 Mitglied der Auswahlkommission und Diskussionsleiter der „Semaine de Critique“, Filmfestival Locarno. Dissertation: „Handbuch der Zeitlupe – Anatomie eines filmischen Stilmittels“.

Pary El-Qalqili
Pary El-Qalqili wurde 1982 in Berlin geboren. Sie studierte Kulturwissenschaften an der Europa Universität Viadrina (BA) mit einem einjährigen Auslandsstudium an der Universidad de Buenos Aires. Seit 2006 studiert sie Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Ihr Kurzfilm RUHE IM KOPF erhielt 2009 den Starter Filmpreis der Stadt München. Ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm SCHILDKRÖTENWUT gewann mehrere Preise auf internationalen Festivals und kam im Mai 2012 in die deutschen Kinos. 2013 war sie Mitglied der Friedenspreis- Jury auf der Berlinale. 2014 ist sie Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin und erhielt das Grenzgänger Stipendium der Robert Bosch Stiftung. Pary El-Qalqili gibt Film-Workshops für Jugendliche am Ballhaus Naunynstraße in Berlin und arbeitet an ihrem Abschlussfilm SALAMANDER (AT).

Katrin Mundt
Freie Kuratorin und Autorin; Ausstellungen und Filmprogramme, u.a. für den Württembergischen Kunstverein Stuttgart, Hartware MedienKunstVerein Dortmund, PACT Zollverein, Essen, goEast Film Festival, Wiesbaden, Shift Festival, Basel und Intermediæ, Madrid; Kommissionsarbeit für das European Media Art Festival, Osnabrück, die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, das Kasseler Dokfest und Impakt, Utrecht; zahlreiche Beiträge zu Ausstellungskatalogen und Zeitschriften wie Camera Austria und Springerin; seit 2008 regelmäßig Lehraufträge, u.a. am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, 2010/11 Wiss. Assistentin an der HEAD Hochschule für Kunst und Design Genf, 2013/14 Wiss. Mitarbeiterin am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Universität Düsseldorf.

Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Arbeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.

Joachim Schätz
Jahrgang 1984, arbeitet als Filmwissenschaftler und -kritiker in Wien. 2006-2013 ständiger Mitarbeiter der Wiener Stadtzeitung Falter, schreibt (bald mal fertig) seine Dissertation zu Rationalisierung und Kontingenz in Industrie- und Werbefilmen. Herausgeber von „Sponsored Films“ (Themenheft der Zeitschrift zeitgeschichte 2/2014, mit Sema Colpan und Lydia Nsiah), „Werner Hochbaum. An den Rändern der Geschichte filmen“ (mit Elisabeth Büttner, 2011).

Filme

Arlette – Mut ist ein Muskel (Florian Hoffmann | CH/DE 2015)
Iraqi Odyssey (Samir | CH 2014)
Somos cuba (Annett Ilijew | DE 2015)
Was die Gezeiten mit sich bringen (Josefina Gill | DE 2015)
The Days Run Away Like Wild Horses Over The Hills (Marcin Malaszczak | DE/PL/US 2015)
Wie die anderen (Constantin Wulff | AT 2015)
Pistoleros (Karin Becker, Silvia Wolkan, Aline László | DE/ES 2015)
De corpore mortis (Rudolf Domke | DE 2015)
uma ficção inútil – 小說無用 – tiểu thuyết vô dụng (Cheong Kin Man | DE/MO 2014)
Stadt der Elefanten (Marko Mijatovic | DE/BA 2015)
Lampedusa im Winter (Jakob Brossmann | AT/IT/CH 2015)
Über die Jahre (Nikolaus Geyrhalter | AT 2015)
Procedere (Simon Quack | DE 2015)
Im imaginären Museum – Studien zu Monet (Klaus Wyborny | DE 2014)
Owami – I Am … (Diana Menestrey Schwieger | DE 2014)
Thomas Hirschhorn – Gramsci Monument (Angelo A. Lüdin | CH 2015)
Zaplyv – Die Schwimmer (Kristina Paustian | DE/HU/RU 2015)
Last Exit Alexanderplatz – Der Städtebauliche Ideenwettbewerb 1993 (Hans Christian Post | DE/DK 2015)
Nicht alles schlucken (Jana Kalms, Piet Stolz, Sebastian Winkels | DE 2015)
Mein Name ist Khadija (Katja Fedulova | DE 2015)
The Masked Monkeys (Anja Dornieden, Juan David González Monroy | DE 2015)
Above and Below (Nicolas Steiner | DE/CH 2015)
Sag mir Mnemosyne (Lisa Sperling | DE/GR 2015)
Staatsdiener (Marie Wilke | DE 2015)
Democracy – Im Rausch der Daten (David Bernet | DE/FR 2015)
Eismädchen (Lin Sternal | DE 2015)

Extras

Elsewhere und irgendwann – Zum Werk Nikolaus Geyrhalters. Nikolaus Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer im Gespräch mit Bert Rebhandl

Siamo italiani (Alexander J. Seiler, CH 1964)

Räume in der Zeit – Die Filme von Nikolaus Geyrhalter

Motto

AUSGÄNGE

Sehen, was sich zeigt, statt rahmen, was man versteht. Kadrierungen und Formate verlassen, um neue Fährten auf vertraute Wege zu legen. Selbst navigieren und dann entscheiden, ob eine Schwelle zum Passieren oder zum Verweilen einlädt.

Die Ränder des Bildbewusstseins erscheinen undeutlich, ragen doch die Wirklichkeiten in die Bilder hinein und die Bilder über sich selbst hinaus. Wie können Erzählungen Stellung beziehen und Haltung wahren, wenn Gesten der Erleuchtung selbst nur wieder Blendung und Bevormundung versprechen? Wo müssen sie dem Zweifel Raum lassen oder den Irrwegen einer inneren Kartographie folgen?

Neben dem Zugang in fragil verbürgte Bilderwelten bietet gerade der Dokumentarfilm gangbare wie verschlungene Wege aus ihnen hinaus. Fragen seiner Ethik und Ästhetik stehen sinnbildlich für die Bereitschaft, Lebenswelten zu begehen oder sich vor ihnen zu verschanzen.

Sich in die Bilder und über sie hinaus denken; sich im Dunklen leiten und aus ihm verleiten lassen: Duisburg hält die Fackel und sucht nach Ausgängen.

Trailer: René Frölke