Synopse
Ein Archiv der Hoffnungen und der Zerrissenheit: Durch Bomben und Verfolgung, Liebe und Chancen über den ganzen Globus verteilt, erzählt eine irakische Familie von sich und der zwiespältigen Beziehung zu ihrem Herkunftsland. Politik und Familiengeschichte als Irrfahrt. Wer ist unser Odysseus? Wohin geht es mit dem Irak?
Protokoll
Werner Ružička begrüßt das Publikum, stellt die Anwesenden vor und dankt dem aus New York zugeschalteten Samir, dass er es einrichten konnte, früh aufzustehen.
Herbert Schwering bittet er, ein paar Worte zur gemeinsamen Realisation zu finden. Schwering berichtet, dass diese bereits in Duisburg angefangen hat, sie sich gemeinsam mit Jutta Krug (WDR) und Swiss vor vier Jahren hier getroffen hätten. Samir und Schwering hingegen kennen sich bereits seit Anfang der 90-er Jahre, als er sich mit ihm – Samir absolvierte gerade ein Fellowship – an der Kunsthochschule für Medien (KHM) in Köln ein Büro teilen „musste“. Damals arbeitete dieser gerade an Forget Bagdad und hatte bereits die Grundidee zu Iraqi Odyssey, welche sich zehn Jahre später konkretisieren sollte.
Ružička leitet mit der Anmerkung, dass Iraqi Odyssey für Schwering aufgrund seiner Position als Produzent ein Film unter vielen, für Samir hingegen „sein“ Film sei, über und fragt, wann in Samir die Entscheidung gereift sei, das Epos in einer Saga zu verallgemeinern.
Samir erklärt, dass er sich damals mit Babylon 2 in „Feindesland“ befunden hatte, um die Geschichte der Iraker zu erzählen. Sein Onkel, dem er in Paris den Rohschnitt gezeigt habe, verstand nicht, warum er die Geschichte über die irakischen Juden erschloss und eben nicht über die eigene Familie. Zu diesem Zeitpunkt sei ihm bewusst geworden, dass er sich hiernach um diese „kümmern“ müsse.
(Samirs Gastgeber in New York, Robert Stam, tritt ins Bild, um zu klären, wo sie denn im Anschluss gemeinsam frühstücken wollen.)
Ružička kehrt zu der Frage nach den zwei Gattungen Odyssee und Saga zurück. Samirs Tante Samira zitiert er mit den Worten „Das ist mein Leben… (Pause) …die Geschichte meines Lebens“, nicht zuletzt bedeute sein Name auch „Geschichtenerzähler“.
Samir eröffnet, dass er sowohl politisch als auch kulturell in den 70-er Jahren sozialisiert wurde, er zudem ein Fan von Brecht sei und er es immer interessant fand, sich einem Thema über die Methodik zu nähern. Dabei verfolge er nicht den klassischen aristotelischen Ansatz, sondern befindet es für wichtig, Brüche im Film zu belassen, wenngleich er immer zu dem Schluss käme, dass die Geschichte stärker als jede Abstraktion sei.
Er wollte versuchen, der Grundsatzfrage der Ordnung zu folgen. Auf der einen Seite die Geografie, die der Globus als „klitzekleine“, in „unserer Wirklichkeit“ endlose Kugel repräsentiert. Auf der Anderen Seite die Zeit, vom Menschen erfunden, als „doofe Tangente“. Diese beiden – Kugel und Zeit – zusammenzubringen, habe sich als sagenhaftes Problem herausgestellt.
Ružička interessiert, wann die Idee reifte, dies durch das Mittel des 3D zu ergänzen, ob es eine bewusste Absicht, gar Notwendigkeit war, in Schichten zu erzählen.
Samir sieht dies weniger als Ergänzung, eher als Weiterführung. Früher habe er nach ähnlichen Prinzipien auch mit Pippilotti Rist an Installationen gearbeitet. Und auch bei Babylon 2 habe er in der Arbeits- und Herangehensweise Schichten gesehen, weshalb er sich eben für dieses „mehrschichtige Layerverfahren“ entschied. Eine neue Funktion der Software (Avid) habe nun die Möglichkeit geboten, alle Ebenen einfach in den Raum zu stellen. Zudem habe er eine neue, einfache 3D-Kamera von JVC nach einer schlaflosen Nacht in Köln getestet, was letztlich zu einer Verteuerung des Projekt geführt habe, da er noch einmal um die Welt reisen musste, um die Interviews erneut zu führen.
Till Brockmann im Publikum greift den Gedanken auf und merkt an, dass die meisten Familienfotos und -filme ausschließlich zu Festen entstünden, Streits und dergleichen hingegen selten festgehalten würden. Dies würde sich auch darin manifestieren, dass die Interviewten oft auch auf lustige, ironische Weise mit den Fragen umgingen.
Samir räumt ein, dass er den Film nicht fortgesetzt hätte, wenn seine Familie ihn als Filmemacher wahrgenommen hätte. Jedoch überhäufte sie ihn nach Forget Bagdad mit Fotos und persönlichen Dingen, wenngleich die meisten dem eigenen Erscheinen im Film anfangs skeptisch gegenübergestanden hätten. Die Vertrauensfrage habe immer in der Luft gestanden, doch „Privates zum Politischen machen“ sei jederzeit sein Ziel gewesen. So hätten sich die „glücklichen Momente“ quasi zum Protagonisten und die „politischen Momente“ zum Antagonisten entwickelt. Doch dieses Thema wolle Samir mit Brockmann zu einem späteren Zeitpunkt vertiefen.
Aus dem Publikum wird mit Blick auf den langen Zeitraum die Frage nach der Finanzierung, der Selektion, auch aus ökonomischer Sicht, sowie dem Drehverhältnis gestellt.
Schwering kokettiert, mittlerweile mehr über Samirs als seine eigene Familie zu wissen. Zur Finanzierung führt er eine Million Euro auf (geschätzte) einhundert Drehtage an. 1/4 aus Deutschland, 3/4 aus der Schweiz, plus Abu Dhabi. Trotz allem sei es keine Odyssee gewesen. Materialfragen solle doch besser Samir beantworten. Dieser wirft einen „work in progress“ in den Raum, paralleles Drehen und Schneiden. Die „oral history“ mit den Protagonisten haben immer etwa zwei Tage in Anspruch genommen, da sie nicht dem Prinzip „Frage-Antwort“ folgten. Also jeweils acht Stunden Material bei sechs Protagonisten – eine sehr effiziente Umsetzung, wie Samir meint.
Ružička fragt, wie er sich es vorzustellen habe, wenn das Fernsehen 100 Minuten „bestellt“ und dann ein vielfaches davon vorgelegt wird.
Schwering erinnert sich, dass sie einst dem WDR zur ersten Rohschnittfassung 3x 80 Minuten vorgelegt hätten. Die Möglichkeiten zur Kompression seien sicher vorhanden und verhandelt worden, jedoch sei allen Beteiligten bewusst gewesen, dass am Ende keine 100 Minuten stehen werden. Und beiläufig bemerkt er, dass der WDR durchaus eine (noch) längere Fassung akzeptiert hätte, hingegen der Weltvertrieb hier eher der problematische Partner gewesen sei.
Die „serielle Herausforderung“ (Ružička) hätten sie, so Samir, nicht in Betracht gezogen, da die „elektronischen Medien“ nicht auf seine Anfragen eingegangen seien. Jedoch waren diese hilfreich bei der Bewältigung eines der Hauptprobleme. Sämtliche Archive seien durch die Kriege im Irak zerstört gewesen, weshalb es dort unmöglich war Materialien wiederzufinden. Stattdessen wurden sie in Moskau, London und in privaten Archiven der westlichen Hemisphäre fündig. Samirs Besuch im irakischen Nationalarchiv liest sich wie folgt: „Wir schwatzten Höflichkeiten, tranken Tee, schwatzten weitere Höflichkeiten, tranken noch mehr Tee. Bis ich fragte, wo das Material ist. – ‚Ja, deine Liste … du kennst doch YouTube…‘“ Zwar wisse Samir von zwei oder drei Giftschränken im Irak, aber da sei kein Herankommen. Dies führte letztlich zu der für ihn spannenden Erkenntnis, dass da ein Land existiere, das „keine Geschichte in Bildern“ mehr habe, zudem die Geschichte „dieser Mittelklasse“ noch nie erzählt worden sei.
Ružička findet dies durchaus „interessant“, doch viel mehr interessiere ihn die „musikalische Verfahrensweise“.
Samir lenkt ein, dass der Film ohne Musik ein weitaus „größeres tragisches Moment“ erhalten hätte. Doch sei er nicht mehr so streng mit sich gewesen, zudem hätte der Film auch 2 1/2 Stunden tragen müssen. Die Musik sollte letztlich die tragischen Momente stützen und zugleich ironisch hinterfragen.
Ute Holl im Publikum merkt an, dass sich die Verwandten im Film sehr gut mit der europäischen, irakischen und russischen Geschichte auskennen, weitaus besser als „unsereins“. Wenngleich sie sich für die Bilder begeistert, bemerkt sie einen Anachronismus: Jede Kultur bringe ihre eigene Brechung ein, demnach können jede auch einen „anderen Film“ sehen.
Samir stellt dem die Frage der sozialen Hintergründe entgegen. Während „einfache Leute“ die ironischen Brechungen womöglich nicht sähen, sei das Interesse an den Protagonisten hier weitaus größer als das an der Filmästhetik.
Während Ružička nun eilig einen Bogen zum Schlusswort schlagen mag, gelingt es Schwering, die letzte, „brennende“ Frage nach dem Grund von Samirs Aufenthalt in New York zu lancieren. Die Wissenden im Saal schmunzeln und Samir führt aus, dass Iraqi Odyssey als schweizerischer Beitrag für den Oscar eingereicht wurde.
Applaus. Winken. Verbindung trennen.