Film

Eismädchen
von Lin Sternal
DE 2015 | 60 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 39
07.11.2015

Diskussion
Podium: Lin Sternal, Julia Hönemann (Kamera)
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Iris Fraueneder

Synopse

Lisa ist ehrgeizig, ihre jüngere Schwester Sophie leichtfüßig und die Mutter wohlmeinend. Zwischen ihnen herrscht die kühle Atmosphäre des inneren und äußeren Erfolgsdrucks. Ihr Sport erfordert Leidenschaft und Disziplin, ihr Wunsch nach Anerkennung lässt Nähe kaum zu und Spannungen gefrieren.

Protokoll

Werner Ružička steigt mit der biographischen Spur zum Sujet des Films in das Gespräch ein, denn Lin Sternal hat, wie er weiß, in ihrer Jugend selbst Eiskunstlauf betrieben.

Diese bestätigt: im Alter von acht bis achtzehn, sechs Tage die Woche. Ihre Mutter sei jedoch nicht stets dabei gewesen, habe ihr viele Freiheiten gelassen, wobei sie manchmal geradezu eifersüchtig auf Mädchen mit omnipräsenten Müttern gewesen sei. Sternal legt Wert darauf, zu betonen, dass ihr Film kein Film über Eiskunstlauf sei, sondern die Mutter- Töchter-Beziehung im Zentrum ihrer Auseinandersetzung stünde. Zum Leid der Kamerafrau da deswegen beim Schnitt die meisten gefilmten Eislaufszenen ausgespart worden waren.

Ružička möchte erfahren, wie Sternal das Geschwisterpaar gefunden hatte.

Während der Suche nach einer geeigneten Protagonistin (denn dass sie am Ende mit zwei Mädchen arbeiten würde war nicht vorgesehen gewesen) war Sternal oft auf Wettbewerben und hatte viel mit ehemaligen Trainer_innen gesprochen. Zu drehen begonnen hatten sie mit verschiedenen Mädchen. Was sie an den beiden Schwestern so fasziniert hatte, war die besondere Schwere, eine Energie entziehende Intensität, die beim Dreh zu spüren war. Außerdem hatte sich die Dreierkonstellation als besonders spannend erwiesen. Weil die gegenseitige Abhängigkeit so stark war, hätte Lisa gar nicht raus gekonnt, selbst wenn sie dies gewollt hätte.

Ružička beschreibt drei Areale, in denen der Film sich bewegt: Den Komplex der Eislaufhalle, die Wohnung der Familie und den Beziehungsraum der drei Frauen. Er fragt, wie diese Räume mit der Kamera erobert werden, wie das Team sich darin eingerichtet hätte. Er verweist auf eine Stelle, wo die Kamera zwar nicht interpretiert, aber doch eine Distanz deutlich macht: beim Telefonat mit der Oma sind die drei durch die Bildkomposition visuell voneinander getrennt.

Hönemann weist darauf hin, dass es bereits ihr zweiter Eiskunstlauf-Film und diese Welt ihr nicht mehr neu gewesen sei. Ihnen beiden war von Beginn an klar, dass sie in diesem Mikrokosmos bleiben wollten, weswegen die Orte auch nicht geografisch aufgeschlüsselt werden. Auch die physische Nähe der Kamera sei sehr wichtig gewesen – kein langes Objektiv zu verwenden, sondern wirklich immer nah dran zu sein.

Ružička kommt auf die Entscheidung zu sprechen, anstatt der Eislaufbahn selbst weitaus öfter die Blicke der Protagonistinnen zu filmen und fragt, wann diese getroffen worden sei. Es sei schon sehr früh klar gewesen, dass das Filmen der Gesichter zentral werden würde, alles über die Gesichter zu erzählen; die Gesichter am Eis und die Gesichter auf der Tribüne. Beim Schnitt hätten sie endgültig entschieden möglichst viel von der Schönheit des Sports auszuklammern weil diese ohnehin bekannt wäre.

Die verschiedenen Reaktionen in den Gesichtern der Frauen auf der Tribüne zu beobachten sei tatsächlich sehr spannend gewesen, findet Ružička – insbesondere wenn Lisa oder ihre Mutter von der Tribüne aus die Eisbahn filmen und die Blickachse über das Kameradisplay und die künstliche Realität, die angeblickt dabei wird, im Zentrum steht.

Hönemann bestätigt ihr vorrangiges Interesse an den Gesichtsausdrücken gegenüber den Kunststücken am Eis – diese würden ja auch stets darüber Aufschluss geben ob eine Drehung gerade gelungen war oder nicht. Sternal erwähnt noch die Muster, die über die Blicke erkennbar würden: etwa dass Lisa auf der Tribüne schon mit demselben Blick wie ihre Mutter die Performance der Schwester beobachte.

Am Beginn des Films steht, beschreibt Ružička, nicht das Schöne, Elegante, sondern das Prinzip Kreiselmeyer und damit die harte Arbeit und das Trimmen, die Disziplin – wieso musste das so deutlich gemacht werden?

Sternal meint, das Material habe durch die Intensität bestochen, die Härte und auch die Grenzüberschreitungen, die es vermittle.

Damit wird die Diskussion dem Publikum geöffnet.

Till Brockmanns Frage wird samt der Antwort die er erhält auf die nachträgliche Bitte von Sternals Produktionsfirma hin nicht ins Protokoll aufgenommen.

Joachim Schätz stellt eine Frage zum Schnitt. Am Beginn des Films erscheine alles sehr übersichtlich. Der Druck der gegenseitig ausgeübt wird, addiert sich: Kreiselmeyer befindet sich wohl an oberster Stelle, die Mutter wiederum übt Druck auf die jüngere Trainerin aus, die Tochter aber auch umgekehrt auf die Mutter, dann der Druck der Großmutter – es verlaufen ziemlich viele Achsen, die eine eigenartige Form der gegenseitigen Aufhebung der Machtstrukturen erzeugen. Wie, fragt er, wurde dieser sehr komplexe Rhythmus erstellt, die Dramaturgie, die diese Schichtung erzeugt.

Sternal betont die Schwierigkeit, die situativen Emotionen über die Nähe zu den Protagonistinnen mit dem dramaturgischen Bogen des Wettbewerbs zu vereinen.

Ružička beschreibt die Bandbreite an Blicken – flehentliche Blicke, ermutigende Blicke etc., aber auch die vielen Variationen etwa ,Mama‘ zu sagen. Fast wie im Spielfilm werden Formen der Abhängigkeit und Versuche der Abgrenzung von der Mutter immer neu variiert.

Eine Diskutantin fragt nach den Reaktionen der Protagonistinnen in Abwesenheit der Kamera, worauf Hönemann und Sternal meinen, sie hätten mit der Familie sehr viel Zeit auf engstem Raum verbracht, wobei die Kinder die Kamera immer mehr vergessen hätten bzw. ihnen die Anwesenheit der Kamera egal geworden sei. Die Mutter sei sich hingegen bis zuletzt ihres Auftretens vor der Kamera sehr bewusst gewesen. Aber sie hätte sich nicht verstellt, sei auch ohne Kamera so gewesen wie sie im Film zu sehen ist.

Den Das-geht-immer-so-Charakter bemerkt auch Ružička, etwa hinsichtlich des Telefonats mit der Oma, der kleinen Käbbeleien unter den Schwestern und gegenüber ihrer Mutter. Er fragt nach der gegenwärtigen Beziehung der Schwestern. Und danach, wo sie sportlich zurzeit stünden.

Sternal habe die Mädchen zuletzt im März 2015 gesehen, zwei Jahre nach dem Dreh. Sophie, damals 13, jetzt 15 Jahre alt sei inzwischen mitten in der Pubertät, Lisa hingegen hätte sich nicht so sehr verändert. Die Wahl auf die beiden war damals nicht zuletzt deswegen gefallen, weil sie einen möglichen Scheidepunkt erahnt hatte, die Möglichkeit, dass Lisa sich vom Eiskunstlauf lösen würde, was aber bislang nicht passiert war. Sophie sei derzeit ziemlich erfolgreich und gerade deutsche Meisterin geworden.

Hajo Wildeboer schaltet sich ein und betont in Hinblick auf die aktuellen Reaktionen in der Eiskunstlaufwelt erneut, dass es im Film weniger um Drill und Disziplinierung in Zusammenhang mit dem Sport gehe als vielmehr um andere Herrschaftsformen, die über Gunstverteilung innerhalb der diffizilen Familienstrukturen und stark über gegenseitige Beobachtung funktionieren. Er lobt in diesem Zusammenhang, dass der Blick der Protagonistinnen durch die Kamera auf die Eisbahn im Film nicht reproduziert wird sondern der Fokus auf den Gesichtern bleibt.

Jemand möchte wissen, was die Motivation der Familie gewesen sei, bei dem Filmprojekt mitzumachen und welche Erwartungen bestanden hätten.

Sternal meint, sie hätte von Beginn an klar gemacht, dass es darum gehen würde, Höhen und Tiefen abzubilden. Interessanterweise hätten damals alle unbedingt für den Film ausgewählt werden wollen.

Eine weitere Diskutantin fragt, ob Sternal sich über den Film vom Eiskunstlauf eher distanziert oder wieder angenähert habe.

Es sei ziemlich schwer gewesen, den distanzierten Blick von außen wiederzuerlangen, da viele Gefühle von damals wieder hochgekommen seien, berichtet Sternal. Der Film sei für sie notwendig gewesen um endlich damit abzuschließen.

Im letzten Teil des Gesprächs wird die Frage diskutiert warum Eismädchen aktuell so viel Entrüstung auslöst.

Die Diskutantin von vorhin fährt mit ihrer Verwunderung darüber fort, warum es in der Eiskunstwelt nicht wie im Ballett ein konsensuales Eingeständnis dessen geben könne, dass es nun mal hart zugehe.

Man wolle es nicht so nach außen durchdringen lassen, meint Sternal, Konsens bestünde schon. Hönemann äußert zum Skandal ihr Unbehagen darüber, dass in der Welt des Eiskunstlaufs weitaus schlimmere Dinge geschähen, wie sexueller Missbrauch und dessen Ignoranz. Sternal vermutet, dass in Zusammenhang mit Sophies aktuellem Erfolg und ihrer Rolle als Vertreterin von Bayern aktuell wohl nach Schuldigen gesucht würde und sorgt sich darum, dass dabei der Mutter die Verantwortung, den Film zugelassen zu haben, zugeschoben werden würde. Und Ružička stellt klar, dass allein Sternal die Böse sein könne – Karriereabbruch, Rache und so. Er vermutet die Problematik in der scheinbaren Infragestellung des Geschäfts- und Karrieremodells innerhalb des Obersdorf-Kosmos und weist einmal mehr darauf hin, dass der Film nicht als Sportfilm zu betrachten sei, sondern als Film über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens in Zusammenhang mit Leistungsgedanken und liebenden Müttern. Die Protokollantin nimmt sich den Auftrag ihres Protokolls, die erhitzten Gemüter draußen am Eis zu beruhigen zu Herzen und verzichtet auf Komprimierung der Diskussion.

Abschließend stellt Ružička eine Frage zum Schluss des Films. Der Film endet nicht mit der gelungenen Kür, sondern mit der Mutter, die alleine zurückbleibt, nachdem sich Lisa rasch aus der Erfolgs-Umarmung gelöst hat. Am Ende also das Moment des Lösens und der Trauer. Sternal sieht das Ende als Ausblick, da sich die Mädchen wohl irgendwann lösen würden und die Mutter, deren Leben sich derzeit vorwiegend in der Welt des Eiskunstlaufs bewege, mit der Lücke und der damit einher gehenden Leere zurückbleiben würde.

Damit ist die Diskussion beim Festivalthema angelangt und Ružička das Stichwort gegeben zum Festivalende überzuleiten sowie zum Jubiläum im kommenden Jahr einzuladen.