Synopse
Arlette verabschiedet sich von ihrer Familie und reist von Zentralafrika nach Berlin, um sich einer Knieoperation zu unterziehen. Fremde bewältigen, Hilfe gewähren, langsam kommunikative Hindernisse überwinden: Ihre neue Mobilität ermöglicht Arlette, die Grenzen zwischen Isolation und vorsichtiger Kontaktaufnahme, neuen Reizen und Heimweh zu beschreiten.
Protokoll
Arlette – Mut ist ein Muskel von Florian Hoffmann beginnt mit einem Bild aus einem anderen Film. Carte Blanche, bei dem Heidi Specogna, Hoffmanns Mutter, Regie geführt hatte, war 2011 auf der Duisburger Filmwoche zu sehen und beschreibt das Verfahren, das der Internationale Gerichtshof in Den Haag gegen den kongolesischen Milizenführer Jean-Pierre Bemba vorbereitet (s. Protokoll Nr. 8 der 35. Duisburger Filmwoche von Ann Katrin Thöle). Hier war Arlette eine der ProtagonistInnen.
Das Bild aus Carte Blanche zeigt die damals noch Fünfjährige kurz nachdem eine Kugel ihr Knie getroffen und ihre Bewegungsfreiheit maßgeblich eingeschränkt hat. Das Mädchen weint vor Schmerz; eine Frau behandelt das verletzte Bein mit einem pflanzlichen Aufguss. Arlette formuliert mit ihrem Blick in die Kamera, so Werner Ružička, einen direkten Appell an die Zuschauer. Tatsächlich hat eine Gruppe von Zuschauern nach dem Screening auf dem Locarno Filmfestival entschieden, Arlette finanziell zu unterstützen und ihr eine Operation in Europa zu ermöglichen.
Auf Hoffmanns Frage, ob Arlette diese Reise antreten möchte, antwortet sie auf ihrer Muttersprache Sango nur „Mut ist ein Muskel“. Die Entscheidung die Reise des starken Mädchens filmisch zu begleiten sei mit einer großen organisatorischen Schwierigkeiten verbunden gewesen. Man habe es sich nicht leicht gemacht, sagt Hoffmann zu Beginn der Diskussion. Er sei sich der großen Verantwortung bewusst gewesen. Besonders viel nachgedacht habe er über Arlettes Rückkehr in ihr Heimatdorf Bangui, in das sie mit einem „Ballast an Erfahrungen“ zurückkehren würde. Zunächst sei der Film lediglich als eine Art Tagebuch geplant gewesen, um Arlette ihren Aufenthalt zu erleichtern. Mit dem fortschreitenden Drehprozess habe sich zwischen Kamera und Protagonisten ein Spiel entwickelt. Besonders mitreißend sind die Szenen in denen Arlette tanzt und singt oder mit ihrer Familie telefoniert.
Ružička weist in der Diskussion daraufhin, dass andere Bilder aber auch Vorbehalte wecken könnten. So zeige die Kamera den kranken, langsam genesenden Körper auf sehr eindringliche Art und Weise. Hoffmann erwidert, dass er sich auf sein Gefühl verlassen habe, um zu entscheiden, wann eine Szene unangenehm wird und die Kamera wegschauen muss. Tatsächlich wechselt das Bild an einer Stelle abrupt ins Schwarz, wenn Arlette im Skype-Gespräch erfährt, dass Bangui erneut von Rebellen besetzt und der Vater verwundet ist. Ihre Mutter befielt ihr in Deutschland zu bleiben („Komm nicht zurück. Bleib wo du bist!“). Aus diesem Grund habe es an einem Punkt, an dem es Arlette sehr schlecht ging, eine Collagesequenz gegeben, bei der die Distanz zwischen Arlette und der Kamera größer ist.
Ružička erwähnt die zweimalige Verwendung des Bildmaterials aus Carte Blanche, das später im Film mit den Aufnahmen der Knieoperation alterniert wird. So würden die moderne Medizin und die Naturheilmethoden in Bangui kontrastiert. Diese Zitatfunktion verdeutliche an diesen zwei Stellen Arlettes Leiden, das direkt an den Zuschauer gerichtet ist. Insgesamt gebe es Stellen in denen eine unmittelbare Dialogizität zwischen Arlette und der Kamera herrscht, findet der Moderator. Diese Form der Kamerapolitik sei im Schnittprozess entstanden berichtet Sven Kulik. Das Bedürfnis von Carte Blanche zu erzählen sei stark gewesen, da es sich schließlich um den eigentlichen Ausgangspunkt von Arlette – Mut ist ein Muskel handle. Hoffmann betont, dass sich im Drehprozess durch die enge Zusammenarbeit auf der Grundlage eines tiefen Vertrauens eine Art natürlicher Lebensraum für alle Beteiligten entwickelt habe.
Ružičkas Frage, ob im Film etwas vorsichtig arrangiert gewesen ist, verneint Hoffmann. Dieser Eindruck könne durch die Montage entstehen. Auch für ihn sei es einschnürend gewesen, wenn Arlette erfährt, dass Bangui erneut von den Rebellen besetzt ist.
Till Brockmann stellt aus dem Publikum die Frage, wie Hoffmann damit umgegangen ist, dass Arlette in weiten Teilen des Films sehr selektiv mit Kommunikation umgeht. Scheint es manchmal als würde sie gut Französisch verstehen und auch sprechen, zieht sie sich immer öfter aus Gesprächen mit dem Pflegepersonal oder anderen Patienten zurück. Am Ende müsse schließlich über ein Voice-Over erzählt werden, dass Arlette sich dazu entschieden hat, trotz des dort herrschenden Kriegs nach Bangui zurückzukehren merkt Brockmann an. Hoffmann gibt an, er habe sich früh dazu entschieden, keine Interviews in den Film aufzunehmen. Außerdem drücke sich Arlette ohnehin kaum über ihre Sprache aus. Auch reflektiert sie sich und ihre Situation anders als wir es gewohnt sind. Deshalb seien die Skype-Gespräche auch so wichtig gewesen, bei denen viel zwischen den Zeilen zu lesen ist. Auch Ružička lobt diese Szenen, in denen die Kamera Arlette während des Gesprächs mit ihrer Familie in Bangui zeigt. Meist kommt gar keine Verbindung zu Stande oder sie ist so schlecht, dass eine Konversation schwierig bleibt. An keiner anderen Stelle wird Arlettes Innenleben so deutlich wie in diesen Sequenzen. Sie flucht, lacht laut und ist enttäuscht, wenn sie wieder niemanden aus ihrer Familie erreicht.
Aycha Riffi findet den Film und seine intime Herangehensweise mutig. Gleichzeitig mache er sich damit auch angreifbar. Sie möchte wissen, wie man als Filmemacher aus der großen Verantwortung überhaupt wieder herauskommt. Schließlich hat Hoffmann selbst erzählt, dass er bei dem ganzen Projekt nicht nur Filmemacher, sondern auch Betreuer war. Er hält fest, dass er den Kontakt bis jetzt halten konnte und weiterhin versuchen möchte, Arlette in ihrem Alltag, der auch während des Krieges irgendwie weiterlaufen muss, unterstützend unter die Arme zu greifen. So habe man noch während der Unruhen Geld bei der Alliance française hinterlegt, mit dem Arlette die Schule besuchen konnte. Tatsächlich habe sie ein Diplom gemacht und hat ein Jahr lang jeden Tag zwei Stunden Hin- und Rückweg auf sich genommen, um zur Schule zu gehen.
Problematisch findet der Moderator eine Sequenz im Film, bei der ein Bericht aus der Tagesschau, den Arlette im Fernsehen schaut, ins Vollformat wechselt. Seiner Meinung nach sind Arlettes Pantomime, mit denen sie Dagmar, einer anderen Reha-Patientin, vom letzten Krieg erzählt, viel aussagekräftiger. Kulik merkt an, dass man damit ausrücken konnte, was Arlette in diesem Moment sieht und womöglich denkt. Diese kompromisslose Brutalität des Krieges sei ein physischer Moment, den ein Film haben muss, um etwas im Zuschauer zu bewegen, findet der Regisseur. Diesen sich leider zu oft wiederholenden Bildern gegenüber sei man bereits abgestumpft; in Verbindung mit einer Protagonistin wie Arlette bekämen sie allerdings eine eindringlichere, persönlichere Bedeutung.
Ein wichtiges Element im Film, die Polaroid-Kamera, mit der Arlette ihren Aufenthalt in Deutschland dokumentiert und deren Fotos im Film formatfüllend gezeigt werden, wird von Ružička in Frage gestellt. Das Ende des Films, das von der Zerstörung der Kamera durch die Rebellen berichtet, ist seiner Meinung nach etwas „techno- sentimental“. Der Moderator findet es schwierig, einen Film so zu beenden. Hoffmann wollte damit ausdrücken, dass mit der Zerstörung der Kamera auch die Kommunikation mit Arlette fast vollkommen zum Stillstand gekommen ist.
Abschließend lobt Ružička die schön zusammengesetzten Miniaturen aus komischen und traurigen Momenten, die von Sven Kulik im Schnitt elegant kombiniert wurden.
Arlette – Mut ist ein Muskel beweist, dass das Medium Film Themen nicht nur aufgreifen, sondern auch eingreifen kann.
Werner Ružička, Florian Hoffmann, Sven Kulik v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald