Film

Was die Gezeiten mit sich bringen
von Josefina Gill
DE 2015 | 30 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 39
03.11.2015

Diskussion
Podium: Josefina Gill, Janina Jembere (Ton)
Moderation: Pary El-Qalqili
Protokoll: ?

Synopse

Auf dem Weg zu neuen Ufern verspricht der Blick auf die Oberfläche des Meeres keine Orientierung. Richtungen erschließen sich erst durch das Vorbeiziehen der Dinge am Bug. Das Schiff fährt an den Stationen einer Familiengeschichte entlang, die langsam in Logbucheinträgen verschwimmt.

Protokoll

Drei zentrale Themen, die die Moderatorin Pary El Qalqili zur Sprache brachte, bestimmten die Diskussion zu dem Film – das Motiv der Reise und Migration, Identität und der ‚materialen’ Formgebung des Films –, der den spanischen Titel Desde la marea trägt. (Die englische Entsprechung „From the tide“ wäre hier die adäquate bzw. wörtliche Übersetzung. – Über den langen – ein Eigensinn der deutschen Sprache –, deutschen Titel war sich die Regisseurin bereits zu Beginn sicher, da sich darin die mehrdirektionalen Bewegungen widerspiegeln, die sie zum Ausdruck bringen wollte.) Die spanische Namensgebung entstand in Gesprächen mit Freunden auf der Suche danach, diese persönliche (offen scheinende) Geschichte der eigenen Identität und Vergangenheit in knappe Worte zu fassen. Denn die Sprache empfindet die Regisseurin, die zunächst Kamerafrau und Fotografin ausgebildet wurde und sich primär als visuelle Erzählerin versteht, als ein labiles und unzureichendes Mittel. Die Stimme sollte ursprünglich allein der Strenge der Bilder, über ein bildliches ‚Eintauchen’ ins Erzählen über Menschen, über das Entstehen von Zwischenräumen, übergeben werden. Dem fügte sie hinzu, dass sie die Nähe zum Wort „mareo“ faszinierte, was im Spanischen „verwirrt sein“ bedeute und der Gefühlswelt zuspreche. – Eine Antwort auf die Frage von Werner Ruzicka nach den eigenen sprachlichen Metaphern und das eigene Bewusstsein über die Metapherndimension des Meeres, denn das Meer als Leitmotiv sei schon voller vorgeprägter Konnotationen.

Die Übersetzung (der Geschichte in Bilder) und die dadurch entstehenden Mehrdeutigkeiten sind auch zentrale Motive in der meditativen Behandlung von Josefina Gills Erzählung, in deren Zentrum die Geschichte ihres jüdischen Großvaters steht, dem auch der Film gewidmet ist. Der Großvater, über dessen Vergangenheit die eigene Familie kaum etwas weiß, kam auf seiner Flucht aus Nazi-Deutschland 1937 über das Meer nach Buenos Aires. Er starb, als die Protagonistin zehn Jahre alt war und damit die Verbindung zur unmittelbaren Erzählung seiner und auch ihrer Geschichte abbrach. Der Großvater hinterließ Briefe, ein seit dreißig Jahren verlassenes Haus mit einer Stoffmanufaktur in Bleicherode (Orte, die sich schwer für die Autorin in ein klares Narrativ einbinden ließen); weitere Zeugnisse ihres Großvaters fand die Regisseurin in Deutschland, als sie sich auf die Suche nach der Vergangenheit begab, und auch Zeitzeugeninterviews führte – eine umfangreiche Vorarbeit, die sich formal nicht in dem Film niederschlagen sollte. Die Mehrstimmigkeit von Zeitgenossen und unterschiedlichen Aufenthaltsorten wurde zugunsten ihrer eigenen Erzählstimme und ihren eigenen Erfahrungen des Umherreisens privilegiert. Diese Suche hat ihre entsprechende Form in Bildern und Klängen von einer abenteuerlichen Schiffsreise gefunden, die sie mit Janine Jembere unternahm – sie zeichnete die maritime Klangwelt auf, die beide später zusammen mit Nika Breithaupt bearbeiteten und die Roman Vehlken (ein ausgezeichneter Kenner der ornithologischen Lautmilieus) abmischte. Die Töne, die so später zu den Bildern in einer artifiziellen Montage gesetzt wurden, dokumentierte Janine Jembere in einer mühevollen und klangsensiblen Weise. Denn die Klanglandschaft des Meeres vom Schiff aus ist eine unreine, stets begleitet vom Dröhnen der Schiffsmotoren. Das akustische Einfangen von Wellen, Vogellauten und anderen Naturgeräuschen forderte die Tonfrau heraus – mithilfe eines Kontaktmikrofons entstand durch die direkte Abnahme ein Archiv von authentischen Umgebungsgeräuschen. Verknüpft mit der Erzählstimme der Autorin, die von einer vergangenheitsbefangenen – Werner Rusizka: „Geschichtsdeterminismus“ (?) – zu einer individuellen gegenwartswahrnehmenden Rede übergeht, bildet die Tonebene die Hauptdramaturgie für die auf der Schifffahrt in Bewegung gesetzten ‚Standbilder’. Die anfängliche Idee einer textfreien audiovisuellen Filmsprache wurden bei der Arbeit ebenso verworfen wie die Verfassung der Rede auf Deutsch, da diese mit ihrer poetischen Artifizialität aus der Sicht eines argentinischen Sprachduktus zu distanziert wirkten. Für die Texte entdeckte die Autorin eigene Tagebuchaufzeichnungen wieder, die sie während ihrer Arbeit an dem Film machte, und sprach sie auf Spanisch ein.

Die ästhetischen Entscheidungen bringen den gewollten Abstand zum gesammelten, auf die Vergangenheit verweisenden Material und den Wunsch zum Ausdruck, die persönliche Migrationsgeschichte und die eigene Verbindung zu Deutschland zu thematisieren.

Die Frage, inwiefern die Kamera mit dem Einfangen von Oberflächen – Wasser, Fabriken in einer Nebellandschaft, Himmel – und ihren Texturen mit der Erzählung der Reise korrespondieren, beantworten Josefina Gill und Janine Jembere damit, dass die Stille der Bilder die zeitliche Dimension der Strecke und Bewegung spürbar machen sollen. Sie machen auch ein zeitextensives Studium von Details möglich. Die Gravität des Schiffskörpers, die durch die Dynamik des Tons zum Ausdruck kommen soll, greife ebenfalls auf die Schwerfälligkeit der Zeitwahrnehmung aus. Auch wenn die formalen Elemente in dieser Idee ineinanderlaufen, sollen sie zugleich Zwischenräume entwerfen, deren metaphorische Offenheit für Bilder von Migration und des Umherschweifens stehen kann. Mit der Verbindung von Ton (im Wechsel von Latenz und Präsenz) und Bild lassen sich Verhältnisse von Entfernungen und Räumlichkeiten unmittelbarer kommunizieren, so die Autorin.

In dieser Stetigkeit (und vielleicht auch Abstraktheit) der Bilder soll der mittels Rollschuhen, GoPro-Kamera und Wasserschlauch inszenierte Sturm – der reale, erwartete Meeressturm blieb aus – eine Konkretisierung einer starken unmittelbaren Erfahrung darstellen und eine dramaturgische (kathartische?) Zäsur bilden, ähnlich dem Schwarzbild, der durch eine aus der Ferne klingende Musik andeutungsvoll wirkt.

In einer unsentimentalen Behandlung des Reisemotivs, worin die Reise weder romantisch, melancholisch noch nostalgisch sei, sieht ein Kommentar aus dem Publikum das Motiv der Trauer. In der Suche nach einem Hafen, den es nicht gibt, in dem Verschwinden des Urwalds aus dem Bild gebe es keine Sehnsucht, „gibt es eine Trauer“ in dem Film? Darauf gibt die Autorin die persönliche Antwort, dass sie sich in einem ständigen Wechsel von Ankommen und Weggehen in Bezug auf Deutschland befindet, vor allem das anfängliche Ankommen in Deutschland sei schwer gefallen. Dieser Zustand würde sie jedoch weiterhin begleiten und transportiere sich im Text und in den Bildern, was eine Traurigkeit vermittelt.

Ob eine zeitliche Begrenzung des Films (Werner Ruzickas Nachfrage, auch nach dem Budget) gegeben war, verneinte die Regisseurin. Sie ging davon aus, dass der Film länger würde, dann hätte das Schiff gestoppt und damit sei auch der Film zum Stehen gekommen. Seitens der Fördergelder hätte es viel Freiheit gegeben.