Film

Über die Jahre
von Nikolaus Geyrhalter
AT 2015 | 188 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 39
04.11.2015

Diskussion
Podium: Nikolaus Geyrhalter
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: ?

Synopse

Die Zeit formt die Menschen und umgekehrt. Eine Textilfabrik im ländlichen Niederösterreich schließt und eröffnet für die letzten Angestellten neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Beschäftigung. Fragen nach dem Alltag. Beredte Pausen und unverblümte Selbstverständlichkeiten. „Wie bist Du an den neuen Job gekommen?“ – „Bin einfach hingegangen.“ 

Protokoll

In der Anmoderation vor dem Film hatte Regisseur Nikolaus Geyrhalter darauf hingewiesen, dass „Über die Jahre“ als ein Film über den Prozess des Arbeit-Verlierens mit einer Drehzeit über mehrere Jahre geplant war. Dass es am Ende aber 10 Jahre geworden sind, sei schon etwas Besonderes. Jahr für Jahr haben Förderer und Redaktionen überredet werden müssen. Ihrer Geduld sowie einer gewissen „Unwichtigkeit des Projektes“ sei es heute zu verdanken, dass der Film so wie er ist auf der Filmwoche laufen kann. Während der Vorstellung des Films wurde des öfteren gelacht. So z.B. zu Beginn bei den Interviews mit den Angestellten in der Fabrik, wenn Herr Semper betont, er sei nicht besonders gesprächig, wenn er seine CD-Sammlung präsentiert, wenn die Frau des Direktoren klagt, jetzt „mit einem Konkursler verheiratet zu sein“ oder wenn vom nächtlichen Tanzen auf den Tischen des Schützenfestes auf den Gottesdienst am nächsten Morgen geschnitten wird.

Die Diskussion eröffnet Moderator Werner Ruzicka mit der Frage nach dem persönlichen Bezug des Regisseurs zum Österreichischen Waldviertel, in dem der Film gedreht wurde. Was war ausschlaggebend für die Wahl des Ortes? Landsmannschaft oder Wohnsitz? Geyrhalter berichtet, seit längerem Besitzer eines Hofes in der Region zu sein. Es sei eine dieser Regionen, in der Einheimische wegziehen und auswärtige Künstler anfangen, Häuser zu kaufen. Die Firma Anderl sei aber durch eine konkrete Suche nach Betrieben, die demnächst Konkurs machen könnten, gefunden worden. Das Projekt sei von Anfang an als Mittellangzeitbeobachtung von 3-4 Jahren geplant gewesen. Das Konzept sei es gewesen, den Arbeitslosenzahlen ein Gesicht geben. Das Waldviertel bot sich da als ökonomisch benachteiligte Region an. Bei den örtlichen Behörden wurde nachgefragt, welche Betriebe aufgrund einer wirtschaftlich schlechten Situation in Frage kommen könnten. Gefunden worden sei die Fabrik dann jedoch über den Hinweis eines Bekannten. Sie sei sofort perfekt gewesen: Unberührtheit, Einzigartigkeit und nur noch wenige Angestellte.

Ruzickas Vermutung, dass dem Regisseur seine Bekanntheit als Filmemacher in der Nachbarschaft Türen geöffnet habe, relativiert Geyrhalter. Er sei kein Popstar. In seinem Wohnort stelle er für viele zwar als Künstler eine Art „Tor zur Welt“ dar, die Bekanntheit reiche aber nicht bis in die nähere Umgebung. In der weiter entfernten Anderl Fabrik sei der Drehbeginn zunächst schwierig gewesen. Der Fabrikdirektor, Herr Hein, habe den Plan verfolgt, nach der Schließung ein Textilmuseum aus der Fabrik zu machen und vor allem aus diesem Grund dem Dreh zugestimmt. In Anbetracht seiner Stellung als Firmen-Patriarch, der gelegentlich zu Wutausbrüchen neigte, könne man daher nicht davon sprechen, dass die ersten Interviews freiwillig waren. Zwei Angestellte haben daher nicht befragt werden wollen. Der Regisseur betont den eher qualitativ-empirischen, „straighten“ Zugang der ProtagonistInnen-Auswahl. Es sei nicht gecastet worden. In der Fabrik haben 9 Menschen gearbeitet, 7 davon seien im Film. Eine Rechtfertigung dafür, dass diese Auswahl für das Waldviertel nicht repräsentativ sei, erübrige sich, weil der zufällige Bestand in den Film übernommen wurde. Das echte Filmemachen habe erst nach der Schließung der Fabrik, fern der Überwachung durch die Vorgesetzten begonnen. Die ersten Szenen nach der Fabrik seien daher ganz bewusst im Schnee gedreht worden, in der Natur, weit weg vom ehemaligen Arbeitsplatz. Die Protagonisten hatten nicht geglaubt, dass er wiederkommen würde. Durch sein ehrliches Interesse konnte Geyrhalter Vertrauen aufbauen.

Moderator Ruzicka interessiert, ob diese Geduld, dieses offene Auf-der-Suche-Sein von Anfang an ein richtiges Konzept gewesen ist oder eher ein unbewusster Selbstauftrag. Er sieht Querverbindungen, z.B. in den Gesten: Vom Lineal der Buchhalterin über die Tabellen der CD-Sammlung bis hin zum Line-Dance am Ende des Films. Er habe im Verlauf des Filmes auch Veränderungen im Fragestil bemerkt. Die kommunikative Verweigerung der Protagonisten im Gespräch werde mehr und mehr deutlich. Die Form, Fragen aus dem Off zu stellen, sei eine Neuigkeit im Werk des Regisseurs. Dass er das vorher nie gemacht hat, liegt laut Geyrhalter unter anderem daran, dass er überwiegend im Ausland gearbeitet hat. Hier wurde den Dolmetschern sehr viel Freiraum zum Fragen gegeben. Normalerweise habe er den Anspruch, schöne Antworten zubekommen und die Fragen dann heraus zu schneiden. Das habe er auch dieses Mal wieder so vorgehabt. Sie seien also nicht in der Absicht gestellt, sie so in den Film aufzunehmen. Er finde sie noch heute „journalistisch fürchterlich“. Es war aber, so Geyrhalter, notwendig, die Fragen im Film zu lassen, weil sonst wenig von den Interviews übrig geblieben wäre. Die Kommunikation sei häufig gerade aus dem Schweigen dazwischen entstanden. Er habe mit seinen Fragen aber einen Teil von sich selbst im Film stehen lassen, den er nicht besonders toll findet. Moderator Ruzicka kann diese Selbstkritik nicht unterstützen. Die durch die Fragen entstehende Kreiskommunikation und die deutlich werdende Verweigerungshaltung der Protagonisten seien faszinierend gewesen. Auch Diskussionsteilnehmer Pepe Danquart gefallen die Fragen des Regisseurs. Es seien nicht so sehr Fragen, als vielmehr Anregungen zum Sprechen. Diese Offenheit, die er so noch nicht gesehen hat, habe den Prozess demokratisch transparent gemacht. Es werde deutlich, dass auch die Protagonisten den Regisseur verhungern lassen können. Mit dem steigenden Selbstbewusstsein der Protagonistinnen fingen die Bilder an, intimer zu werden. Der Filmemacher könne so als Verunsicherter von den Anderen aufgenommen werden. Die veränderte Haltung des Fragenden drücke sich auch in der später bewegteren Kamera aus. Als besonderes Beispiel für den bemerkenswerten Umgang des Films mit seinen Befragungen möchte Moderator Ruzicka den Moment erwähnt wissen, in dem die trauernde Mutter der Kamera den Rücken zudreht, als sie den Schmerz des Mannes um den verlorenen Sohn teilt. Hier werde die Trauerarbeit der Protagonisten deutlich. Ruzicka betont die „schützende Zärtlichkeit“ und schlägt vor, die Szene als eine praktische Kritik an der dokumentarischen Fragetechnik des Regisseurs zu sehen.

Zu diese Szene erzählt Geyrhalter, dass der Tod des Sohnes der Protagonistin den Dreh stark beeinflusst hat. Das Paar habe darauf bestanden, dass dieses Ereignis in den Film kommt. Ihm sei dabei klar gewesen, dass die Szene nicht zu Hause oder bei der Arbeit gedreht werden konnte. Er erklärt, die Aussichtsplattform war für ihn, auch wenn das vielleicht blöd klinge, ein Ort, der dem Himmel etwas näher ist. Für die letztendliche Umsetzung sei aber auch der Schnitt entscheidend gewesen. Herausgeschnitten aus der Szene wurden später Kameraschwenks, die sich von den Protagonisten abwenden.

Im Bezug auf den Schnitt möchte Geyrhalter die Arbeitsweise, in der an dem Film neben anderen laufenden Projekten über 10 Jahre gearbeitet wurde, hervorheben: Nur der erste Teil in der Fabrik sei direkt nach dem Dreh geschnitten worden. Danach wurde gedreht, ohne das Material zwischendurch zu sichten. Die meisten Szenen, das erwähnt Geyrhalter an dieser Stelle, seien vorher besprochen bzw. geplant gewesen. Kommissionsmitglied Till Brockmann hat das überrascht. War das nicht gefährlich, bei so wortkargen Protagonisten, die Szenen vorzubesprechen? Einer weiteren Diskussionsteilnehmerin gefiel die Szene, in der die ‚Freunde der Elektronischen Musik‘ in der Fabrik auftreten. Sie fragt, ob sich nicht analog dazu sagen ließe, die Protagonisten finden im Laufe des Films im Line-Dance oder im Gedichteschreiben ihren eigenen Rhythmus und diesen Rhythmus der Leute habe der Regisseur in seinem Film gefunden. Herausgestellt habe sich dabei vielleicht sogar, dass Arbeitslosigkeit gar nicht das zentrale Problem der Leute sei.

Geyrhalter schränkt daraufhin das Ausmaß an Inszeniertheit im Film ein. Er betont, nicht die Inhalte wurden vorbesprochen sondern nur die Orte und die Gesprächsthemen. Gesprochenes zu wiederholen, das funktioniere nicht. Den Rhythmus habe er den Protagonisten nicht vorgegeben sondern ihn nur übersetzt. Er habe ihnen lediglich signalisiert, dass sie ihren zum Teil langsamen und gemächlichen Rhythmus nicht verstecken müssen. Tatsächlich habe er dabei beobachtet, dass die Erzählung vom ‚Schwarzen Loch‘, in dass man nach der Arbeitslosigkeit fällt, nicht unbedingt immer zutrifft. Nicht Arbeit scheint wichtig zu sein, so vermutet Geyrhalter, sondern Beschäftigung. „Die Geschichte, die ich vorhatte zu drehen, ist nicht passiert.“ Das sei das Besondere an diesem Projekt gewesen. Die spezielle Arbeitsweise, das organische Wachstum der Geschichte, das sich-treiben-Lassen, die Freiheit, Geschichten nicht zu suchen sondern nur zu übersetzen, hat der Regisseur als großes Geschenk erlebt. Das freieste Arbeiten, das er je erlebt hat, habe es ihm ermöglicht einen „Film über das Leben“ zu machen. Er rechnet vor: 10 Jahre aus dem Leben von 7 Protagonisten ergeben 70 Jahre und damit fast ein ganzes Menschenleben. Das Team habe nicht mehr Drehtage als geplant für den Film gebraucht, sondern diese nur sehr weit gestreckt. Dadurch könne er nicht behaupten, dass er besonders viel Lebenszeit in den Film gesteckt hat. Geyerhalter betont aber, in dem Film steckten 10 Jahre seines Lebens, weil er während des Drehs älter geworden sei und man das auch merke.

Ruzicka erinnert daran, wie einige Protagonisten des Films auf die Frage, was in den letzten Jahren der Arbeitslosigkeit wichtiges passiert sei, nur „Nichts!“ antworten. Putzen, Kochen und Gartenpflege gelten für die ProtagonistInnen als vollwertige Hobbys. Auch für ihn sei es ein Ergebnis des Films, dass die Arbeit gar nicht so identitätsstiftend ist, wie immer geglaubt wird. Aus diesem Grund möchte Ruzicka auch in Frage stellen, dass die Fabrikarbeiter- Gemeinschaft (alle Protagonisten zusammen am Biertisch), die die Szene suggeriert, tatsächlich existiert. Diese Szene wirke engagiert, nicht weil sie inszeniert ist (was Geyrhalter gerne zugibt) sondern, weil sie in gewisser Weise aus der visuellen Argumentation des Filmes herausfällt.

Durch diesen Hinweis bekommt die Frage nach dem Umgang mit den Protagonisten im Dokumentarfilm einigen Raum in der Diskussion. Sie wird aus der Perspektive des Widerspruchs zwischen Gemeinschaft und Ausnutzung erörtert. Eine Gemeinschaft der Protagonisten, so Geyrhalter, habe er an anderer Stelle durchaus erlebt. Nicht über die Anderl Fabrik, sondern über den Film selbst. Die Beteiligten haben den Film vor der Premiere abgenommen. Dass gemeinsame Sichten des Films vor Ort sei eine legendäre Vorführung mit viel Lachen und Weinen gewesen. Durch den Film, so Geyrhalter, werde die Gemeinschaft der Beteiligten am Leben gehalten.

Bei der Premiere des Films in Berlin habe Herr Semper das Gedicht vorgetragen, das in der vollständigen Version fast 7 Minuten lang ist und bei den Anfängen der Firma Anderl weit vor dem Auftauchen des Filmteams anfängt. Eine heutige verlängerte Fassung enthalte außerdem noch die Ereignisse in Berlin. Geyrhalter fasst zusammen: „Der Film hatte etwas sehr kollektives.“

Für Ruzicka schafft es der Protagonist Semper als zunächst einfacher Mann mit seinem Gedicht Teilhaber des Film zu werden und so den Status der Koautorschaft zu erlangen. Nach dem großen Erfolg des Filmes müsse sich der Regisseur jetzt aber die pathetisch überspitze Frage gefallen lassen, ob er seinen Protagonisten die Treue halte. Der Regisseur kann hier nicht weiterhelfen. Mit der Treue zu den Protagonisten sei das so eine Sache. Es gebe tatsächlich so etwas wie ein ehrliches Vertrauen, aber dann auch wieder nicht. Obwohl er seine Protagonisten noch kürzlich ohne Anlass besucht hat, sieht er das realistisch: Der Kontakt zu den meisten Protagonisten wird sich verlaufen, er wird seltener werden und schließlich verebben. Für das Problem des Ausnutzens durch Dokumentarfilme kennt auch Geyrhalter keine Lösung. „Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger stimmt es.“ Geyrhalter stimmt Ruzicka zu: Einmal im Jahr das Feuerwehrfest zu besuchen und mit den Protagonisten ein Bier zutrinken, das wäre unehrlich, weil mit dem Film auch der Anlass, der die Beziehung aufgebaut hat, fehlen würde. Ruzicka fragt nach der materiellen Situation der Beteiligten. Die agrarisch geprägte Lebensweise und das Wohneigentum, so hofft er, stellen eine gewisse Sicherheit dar. Das kann Geyrhalter zurückhaltend bestätigen. Er erklärt allerdings, für die Familie mit den zwei Kindern war die Arbeitslosigkeit wirklich existenzbedrohend und er und sein Team haben auch versucht zu helfen.

Es folgen formale Fragen aus dem Publikum. Treu geblieben sei der Regisseur auf jeden Fall seiner Brennweite. Ist er damit zufrieden? Das kann Geyrhalter bestätigen. Die Kamera hat über die Jahre des Drehs mehrmals gewechselt, das Weitwinkel-Objektiv blieb. Das habe bewirkt, dass der Film trotz 10 Jahren Drehzeitraum formal einheitlich, „wie aus einem Guss“, aussehe. Weitwinkel-Objektive benutze er schon sehr lange, weil er viel von dem Raum zeigen möchte, der in Beziehung zu den Protagonisten steht. So könne der Zuschauer selbst entscheiden, worauf er sich konzentrieren möchte. Außerdem wirken die Bilder so fotografischer, sie sehen schöner aus. Die Szene mit Mutter und Sohn auf dem Sofa und dem Hund, der sich nicht ärgern lässt, erinnert Moderator Ruzicka an Einstellungen von Ulrich Seidl. Eine Diskussionsteilnehmerin bemerkt den Einsatz von Schwarzbildern und sieht hierin Momente der Sprachlosigkeit. Für Geyrhalter ist die Verwendung von Schwarzbildern aber eher ein seit Jahren bewährter, transparenter Umgang mit dem Verzicht auf Zwischenbilder. Diskussionsteilnehmer Danquart lobt das Weglassen von Jahreszahlen. Das Verstreichen der Zeit werde auch so spürbar. Regisseur Geyrhalter erzählt, dass für das erste Bild, die Fabrik im Schnee, lange auf den richtigen Tag gewartet und dafür eine eigne Fahrt zum Drehort unternommen wurde. Dass in der Fabrik mit statischen Einstellungen gedreht wurde, hätten die Gesetze die Architekturfotografie geboten. Es habe aber auch andere Aufnahmen aus der Fabrik gegeben, die dann herausgeschnitten wurden.

Zum Ende der Diskussion ruft Ruzicka die familiäre Essens-Szene im Hause Semper in Erinnerung. Der Protagonist nimmt hier der Mutter das Gulasch ohne jeden Vorwurf ab, um es dann kommentarlos selbst in der Küche aufzuessen. Hier sei nichts abgesprochen gewesen, betont Geyrhalter. Ruzicka möchte auf das Genealogische im Film hinweisen: Omas erziehen die Enkel, die Frauen sind wichtiger als die Männer. Das Ende des Films, indem eine neue Teilnehmerin beim Line-Dance lernt, im Rythmus der anderen mitzutanzen, sei ein Bild für die Teilhabe an einer Gemeinschaft, die nicht die eines Betriebes oder einer Filmproduktion ist, sondern die Gemeinschaft der Gattung Mensch.