Film

De corpore mortis
von Rudolf Domke
DE 2015 | 124 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 39
04.11.2015

Diskussion
Podium: Rudolf Domke
Moderation: Pary El-Qalqili
Protokoll: Lena Serov

Synopse

Das Leben nach dem geplatzten Traum: Nachdem sie dem Versprechen eines sonnig-sorglosen Siedlerlebens unter Palmen nachgereist sind, bewohnt eine Gruppe Russlanddeutscher nun eine halbfertige und halbverlassene Kolonie in zivilisatorischem Grenzgebiet. Langsam, genügsam und oft einsam werden die Einwohner in diesem Zwischenreich heimisch.

Protokoll

De Corpori Mortis beginnt mit der Beobachtung von zwei Jungen bei Ihrer Arbeit auf dem Land, später sieht man auch den Vater bei seinen Arbeitsabläufen. Der Film endet wiederum mit den Söhnen beim Aussähen von Samen. Die Themen Leben und Tod begleiten den Film, wobei der Tod titelgebend ist. Mit der Frage, wie er die Themen und Motive gefunden habe und ob er bereits beim Drehen dieser Themen bewusst gewesen sei, beginnt Pary El Qalqili die Diskussion mit Rudolf Domke.

Der Schluss ergab sich während der Entstehung des Films im Schnitt, nicht während der Dreharbeiten. Zu Beginn war nichts festgelegt, es gab auch keine Vorarbeiten. Die Dreharbeiten in Paraguay dauerten fünf Wochen und es entstanden 40 Stunden Material, das Domke als einen Monolithen beschreibt. Dann stand das Interesse im Zentrum herauszufinden, was dieser Block an Material ist.

Eine Vorstellung von der Gegend, dem Siedlerterritorium, bestand bereits durch die Erzählungen seines Bruders, der gleichzeitig auch der Protagonist des Films ist. Ihre familiären Biographien beschreibt Domke als völlig entgegengesetzt, die noch mehr auseinanderliefen, als der Bruder sich entschloss, sich einer russlanddeutschen Kolonie in Südamerika anzuschließen, um ein missionarisches Leben in der landwirtschaftlichen Selbstständigkeit zu verfolgen. Ein Leben, das sich in Deutschland nicht realisieren ließ. Währenddessen verfolgte Domke andere Pläne: Er entschied sich dafür, Film in Berlin zu studieren, was wohl in den Augen seines Bruders den Weg ins Sodom und Gomorrha bedeutete. Auch das Angebot seines Bruders, ihm beim Aufbau seiner Existenz zu helfen, schlug der Regisseur aus.

Dem Thema und der Geschichte des Kolonialismus, mit dem er sich vorbereitend auseinandersetzte, näherte er sich selbst über Filme wie Apocalypse Now, John’s Town und Colonia Dignidad, die ebenfalls koloniale Kleinstgesellschaften ins Zentrum stellen. Der Kolonialismus als eigenständiger Topos (‚in dem auch die Utopie eines freien Landes mitschwingt’ – Pary El Qalqili) erwecke im Zusammenhang mit Südamerika sofort Assoziationen mit nach dem Krieg gegründeten Nazikolonien.

Domke, der nur mit seiner Kamerafrau Katherina Diessner vor Ort war, wollte eine andere Art von Erzählung über die Siedler erschaffen. Sein Interesse galt der detaillierten Beobachtung von Arbeits- und Lebensabläufen (Ackerbau, Viehzucht, Missionarstätigkeiten, Gottesdienst usw.). Dem filmischen Dokumentieren von Tätigkeiten gab er den Vorzug vor einer Erzählung mittels Interviews, auf die er zu Beginn am liebsten gänzlich verzichtet hätte. Interessant fand Domke auch die Kriminalgeschichte um den im Gefängnis sitzenden Koloniegründer Neufeld, bei der selbst unter den verbliebenen Bewohnern keine Einigkeit darüber herrscht, ob es sich um einen Betrug oder um Misswirtschaft handelt. Auch Domke, der den Fall stets nur in Andeutungen behandelt, wollte sich in dieser Sache kein Urteil erlauben und war dementsprechend nicht um Aufklärung bemüht, sodass der Fall schließlich im Vagen verblieb.

Der Landschaft und der Situation der Kolonie habe er sich über seinen Bruder genähert, wobei er eine mäandernde Form verfolgte, indem über die kleine Zelle der Familie ein Panorama dieser Kleinstgesellschaft entstehen sollte (zur Publikumsnachfrage nach einem konkreten dramaturgischen Konzepts bzw. einem Spannungsbogen an einer Geschichte entlang). Vom familiären Kern aus wurden weitere Kreise gezogen, die die umliegenden Dörfer durch die missionarische Arbeit und weitere Institutionen wie die Schule und die im Niedergang befindliche Kolonialverwaltung mit einschlossen. (Als charakteristisch stellte El Qalqili dabei die Arbeit mit verbindenden Schwenks heraus, als es ihr um die Frage nach der filmischen Erschließung des Territoriums und dem Verhältnis der Siedler zur ihrer Umgebung – auch zwischen Landschaft und Innenräumen – ging.) Die zentrale Herangehensweise beim Dreh und im Schnitt bestand in der Darstellung eines sozialen Körpers, die sich in einer gewollten Distanz zu Individuen und ihren Ritualen (Beten, häusliche Bräuche und Gepflogenheiten) äußert. Dazu gehörte es auch, die Personen im Ensemble, in ihren Umgebungen und Landschaften als einzelne Tableaus zu zeigen.

Bei der Einführung der Figuren kam es ihm auf die Entwicklung einer allmählichen Artikulation an, in der auch eine Dramaturgie verborgen liegt, was er beispielsweise in der Annäherung an die Frau seines Bruders verfolgt. Sie wird zunächst über stumme Garten- und Hausarbeit eingeführt und (erst) spät stärker profiliert, als sie nach danach gefragt wird, ob sie noch zum Klavierspielen komme. Diese Herangehensweise erforderte ein dauerndes Abwägen von Gewichtungen und Entscheidungen, wem wie viel Aufmerksamkeit zuteil kommt.

Seine dokumentarische Neutralität eines Beobachters bricht er auf der Ebene des Tons in der Szene auf, als die Familie Hilfsgüter in einem umliegenden Dorf verteilt – erwidert Domke auf El Qalqilis Frage nach der Bedeutung der künstlich eingesetzten Stille während einer Szene, in der das Autos der Missionare beim Verlassen des paraguayischen Dorfes rangiert und die Einwohner dem Auto ausweichen müssen. (Damit machte er aus der Not, für diese Szene keine Tonaufnahme zu haben, eine Tugend, indem er diese Lücke als eigenen Kommentar umsetzte.) Die Szene wird insofern wirkungsvoll, als sich in diesem Bruch eine symbolische Bedeutung abzeichne, in der sich die sozialen Beziehungen artikulieren: die gesellschaftliche Stellung der Siedler als Europäer mit Geld, Landeigentum und Infrastruktur, die zudem den Einheimischen als Wohltäter und Missionare entgegentreten. Diese subtile Art der Positionierung wählte Domke, weil ihm solche narrativen Modelle widerstrebten, in denen Gemeinschaften über das Eindringen eines Fremdlings und das Aufeinanderprallen von konfliktierenden Weltsichten beschrieben werden.

Das Verhältnis des Films und auch der Siedler zu den Paraguayern sei ‚subjektiv’ befangen und ausweichend. Die Siedler unterhalten ein distanziertes Verhältnis zu ihnen, weil sie abgeschottet leben und reine Arbeitsbeziehungen zu ihnen unterhalten. Aus Domkes Perspektive wäre es eine Anmaßung gewesen, zusätzlich Aussagen im Film über ihre Art der Gemeinschaft und ihre Identität zu treffen. In seinen Beobachtungen war jedoch spürbar, dass sie eigene Rituale haben, eine ‚eigene Färbung’ ihres Daseins. Als ambivalent empfindet der Autor jedoch die konfessionelle Einstellung der Siedler. Diese hätten eine bestimmte Sicht auf den Katholizismus der Paraguayer, zu der dazugehört, ihnen vorzuleben und vorzupredigen, wie man besser lebt. Gleichzeitig herrsche zwischen den Gemeinschaften eine starke Sprachbarriere, die die Missionsarbeit und die Vermittlung von Glaubensinhalten auf einem Minimum hält.

Die Rolle der Sprache stelle allgemein ein zentrales Thema des Films dar, über die sich die vielgestaltige Identität der Siedler konturiert. Zum einen gibt es die Dominanz des Deutschen in der Kolonie, das im Land jedoch eine Minderheitensprache ist, zum anderen ist sie die Erstsprache der zweiten Generation – also der Söhne –, die in Deutschland geboren wurden, als die Eltern als Spätaussiedler nach Deutschland kamen, hier 15-20 Jahre lebten und sich zum Teil auch etwas aufgebaut hatten. Die Jugendsprache der Elterngeneration, die in der Sowjetunion sozialisiert wurden, ist hingegen Russisch. Hinzu kommt das Spanische, das sie rudimentär beherrschen – nach Aussagen der Paraguayer jedoch nicht schlechter als sie selbst.

Die Fragen aus dem Publikum zielten vor allem auf die rhetorische Haltung des Films bzw. des Regisseurs zu seinem Thema. – Sei es möglich, einen solchen Film zu drehen, ohne einen postkolonialistischen Kommentar abzugeben? Zumal es ist in der Erlebniswelt der portraitierten Familie einen Hinweis darauf gibt: Die Jungen spielen ein Strategiespiel, American Conquest, in dem es um die Zivilisierung von rückständigen Kulturen geht. Der Entgegnung, dass damit bereits die Frage beantwortet sei, fügte der Autor hinzu, dass er selbst kein Interesse an einem eindeutigen Kommentar oder Urteil gehabt hatte. Ihm sei es darum gegangen, in Konstellationen wie diesen, implizite Verbindungen zu entdecken. Auch ging es ihm darum, die Welt der Siedler nicht als eine geschlossene zu zeigen – obwohl dies eine Option während des Schnitts war, wie er verrät –, sondern auch ihren Kontakt zu der äußeren Welt zu betonen.

– Sei es nicht ein falscher Gegensatz, der aufgemacht würde, zwischen dem Anspruch ein gesellschaftliches Panorama durch Beobachtung zu zeichnen und der Verweigerung, das eigene Verhältnis zum Bruder bzw. Protagonisten zu reflektieren und den einzelnen Protagonisten (v.a. den jungen Söhnen) nicht den Raum zu lassen, sich in ihren Vorstellungen und Wünschen zu artikulieren? Zum einen hätte die Zeit gefehlt, erwidert Domke, um das Vertrauen der Jungen zu gewinnen. Zum anderen hätte es Ansätze gegeben, sie zu Wort kommen zu lassen, allerdings würden sie das wiedergeben, was ihre Eltern ihnen erzählen. Außerdem war die Idee, ihr Verhältnis zu ihrer Umgebung und Arbeit in der Körperlichkeit ihrer Handlungen und in ihren Gesten zu dokumentieren.

– Ute Holl bedankte sich für die geballte Ladung protestantischer Ethik am Morgen und konstatierte eine klassische Topik im Bezug zum Western (Frontiereinstellung, Kolonialisierung), die eine Transzendenz mit kinematographischen Mitteln praktiziere. Deshalb sei der Titel mit seinem Bezug zum ‚Körper’ undeutlich. Inwiefern entwerfe der Film nicht seinen eigenen Kult, indem er die Rhetorik der Besiedlung mittrage (z.B. versteckt in der indigenen und Doors-artigen Musik)?

Domke wirft die Frage zurück, indem er fragt, inwiefern es ein Fehler sei, vom Körper zu sprechen, denn der Film sei voller Köperbilder: das Töten des Rinds, die Samen als Körper; die Zersetzung des sozialen Körpers sei auch ein zentrales Thema. Er vervollständigte zudem das im Titel aufgegriffene Bibelzitat (in einem Bezug auf Paul Schraders(?) Buch, worin es auch um Bressons Katholizismus geht) aus dem Korintherbrief: ‚Ich elender Mensch, wer erlöst mich von dem Leibe des Todes?’

Der Film sei eine poetische Widmung dieser Kleinstgemeinschaft. […] Er verwies auf ein Zitat, das seiner Meinung nach von Godard stammte, dass der Film am besten eigne, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Der Film enthalte jedoch sehr viele sichtbare Beweise einer Todesüberwindung. Das Sterben der Tiere erhalte z.B. das Leben des Menschen.

Eine andere Dimension des Films, die ein Beiträger aus dem Publikum artikulierte, war die affektive und geographische Orientierungslosigkeit, die daraus resultiere, dass der Film wenig an Kontextwissen vermittele. Neben der Undeutlichkeit darüber, wo sich die Kolonien befinden, transportiere der Film ein Gefühl der Angst – eine Angst vor ‚Vertreibung’, Insolvenz und Gewalt gegenüber den Siedlern. Besonders die apokalyptischen Brandszenen in der Dunkelheit der Nacht am Ende des Films würden die Bedrohung noch mehr verstärken.

Domke verteidigte sich damit, dass er einen äußerlichen Informationsfluss im Film vermeiden wollte und dass ausschließlich über die einzelnen Äußerungen der Personen im Film ein zusammenhängendes Bild ihrer Situation entstehen sollte. Dies sei die spannendere Art zu erzählen. Der Film enthalte viele Hinweise: Die Leute sprechen Russisch, es wachsen Palmen, es gibt Erzählungen zu Nikolai Neufeld usw. Seine Frage war stets, wann und wie welche Information eingesetzt wird, und die Entscheidung war, nicht zu viel zu verraten, um die Erzählung für andere Betrachtungsweisen offen zu halten – wie bspw. für die Frage nach der ‚Mechanik des Glaubens’. Was macht der Glaube mit den Menschen? Wie bestimmend ist die religiöse Sprache bzw. Rhetorik für den Alltag und das Zusammenleben?

Zum Schluss hatte eine Beiträgerin aus dem Publikum eine persönliche Anmerkung zu dem Film, der ihr nahegegangen sei, weil er von kaputten Träumen handele. Die rhetorische Frage, nach dem Warum des Weggangs der Spätaussiedler (aufgrund des Leidens in der Sowjetunion unter dem Verbot der Nationalität und Sprache sowie der konfessionellen Identität als Mennoniten oder Baptisten), war mit einem Vorwurf verbunden, dass diese Minderheiten, die zu Tausenden in Deutschland leben, hier kein Gehör finden. Dieser Film bringe diese Menschen zur Sprache.