Film

Nicht alles schlucken
von Jana Kalms, Piet Stolz, Sebastian Winkels
DE 2015 | 86 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 39
06.11.2015

Diskussion
Podium: Jana Kalms, Sebastian Winkels
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Svenja Klüh

Synopse

Ein schlichter grauer Raum mit im Kreis angeordneten Stühlen: Hier artikulieren sich Erfahrungen im Umgang mit Psychopharmaka aus verschiedenen Perspektiven mit verschiedenen Gesprächspartnern. Der Modus der Reflexion, nicht die Sprache der Therapie, und die Frage: Wer wäre ich ohne Medikamente?

Protokoll

Im Film wie in der Diskussion geht es um Raum: Filmraum, Wunschraum, Vertrauensraum, herrschaftsfreien Raum, Gesprächsraum. Darum, die Sprachlosigkeit zu überwinden, die mit psychischen Krisen einhergeht. Ein Stuhlkreis aus Menschen, denen man, bevor sie den Mund aufmachen, überhaupt nicht ansieht, als was sie sich gleich entpuppen werden: als Kranker, als Angehöriger oder als Arzt. Wobei: Adam ist nicht krank. Adam ist einfach Adam. Diese Erkenntnis wird in der Diskussion noch mehrfach zitiert.

Der Film Nicht alles schlucken, der sich, wie Werner Ružička anmerkt, nicht nur auf das Nicht-Schlucken von Medikamenten bezieht, sondern auch auf das Nicht- Schlucken von Gefühlen, also darauf, nicht alles in sich hineinzufressen, ist einem Trialogforum nachempfunden. Dass heißt, einer Gesprächsrunde aus Betroffenen, Angehörigen und Behandelnden. Dabei hätten sie zunächst auch überlegt, sagt Jana Kalms (Buch, Regie), einfachere Formen psychischer Leiden wie Menschen mit Depression oder Burnout in den Gesprächskreis zu holen. Doch dann hätten sie bewusst die stigmatisierten Erkrankungen ausgewählt, also Psychose-Erfahrene Menschen, die einem Angst machten, die einem fremd und unberechenbar erschienen. Ihnen Raum geben wollen, über ihre individuellen Erfahrungen mit Psychopharmaka zu sprechen. Wie denn dieser Filmraum entstanden sei, fragt Ružička, und wie sie die Protagonisten ausgewählt hätten, von denen jeder so markant und unverzichtbar scheine?

In der BRD gäbe es 120 solcher Räume, sagt Kalms, und so sei sie mit Psychiater und Analytiker Piet Stolz (Buch, Regie), Hauptprotagonist aus ihrem Film Raum 4070, durchs Land gefahren und habe Menschen ermutigt, bei diesem Projekt mitzumachen. Die hätten sich dann teilweise erst einen Tag zuvor kennengelernt, bei einer Kameraprobe und einem gemeinsamen Abendessen mit Weintrinken. Die Session habe dann ungefähr neunzig Minuten gedauert, so wie die Filmzeit. Und dann habe jeder noch einmal Raum für sich bekommen. Ružička merkt die Maske an, die hätten alle schön ausgesehen. Die Maske sei wichtig gewesen, bestätigt Kalms. Ružička beschreibt, die Leute seien extrem artikulationsfähig – unmittelbar und reflexiv zugleich. Ob die Protagonisten nach diesem Kriterium ausgewählt worden wären, oder ob das daran läge, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt in dieser Therapie befänden? Kalms betont, dass es sich bei der Session nicht um eine Therapie handeln würde, sondern um einen Verständigungsraum. Ružička korrigiert: er habe gemeint, ob sie in einer Phase seien, die diese Reflexion hervorrufe. Ja, sagt Kalms, diese Menschen wollten und müssten reden. Sie hätten dadurch natürlich Übung darin, sich zu zeigen. Man habe sie nicht ermutigen müssen, etwas zu erzählen. Sebastian Winkels (Regie, Kamera) beschreibt, dass es ihnen wichtig gewesen sei, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen: eine, die man normalerweise nicht mit Film in Verbindung bringe. Also keine herumliegenden Kabel, ein weiches Licht, nahezu minimalistisch japanisch. Er und Kameramann Harald Mellwig hätten sich in der Mitte des Kreises bewegt, die Kameras so, dass die Blickachsen frei blieben, und dann hätten sie immer wie zwei Seegeister aus der Mitte des Teiches herausgeschaut. Kalms sagt, sie, die eine ganz sanfte Moderation mit Piet Stolz geführt habe, sei überrascht gewesen, wie schnell die Leute sie vergessen hätten. Ružička bemerkt, das der Film kein Talking-Heads-Film und zugleich ein wundervoller Talking-Heads-Film sei. Er habe sich als Zuschauer auch schnell vergessen gefühlt. Die Menschen würden sehr für sich sprechen, sehr intim. Über die Einzelgespräche sei er dann gestolpert. Was die dramaturgische Überlegung dahinter gewesen sei? Winkels sagt, bestimmte Dinge hätten die Protagonisten eben doch nur außerhalb der Gruppe erzählt. Wobei die Gruppe in diesem Moment ja eigentlich doch auch anwesend gewesen wäre. Die Protagonisten hätten ihren alten Platz eingenommen und die Gruppe als „Abdruck“ gespürt. Kalms ergänzt, in den Einzelgesprächen wäre der Blick mehr ins Innere gerichtet worden. Während sie in der Gruppe souverän und stark aufgetreten wären, mit der Haltung „Ich habe euch etwas zu erzählen“, hätten sie als Einzelne Revue passieren lassen.

Aus dem Publikum kommt die Einschätzung, es handle sich um einen Film mit Dreiaktstruktur. Zuerst höre man die Patienten, dann die Ärzte, dann käme der Ausblick. Warum der dritte Akt kürzer ausgefallen sei, ob es nicht soviel Fazit gegeben habe? Winkels hält die These der Dreiaktstruktur für gewagt. Er könne das verstehen auf Grund der Zäsur, die sich durch das Verlassen des Raumes und Hinsetzen im Stuhlkreis ergebe, er sehe aber keine Dreiaktstruktur. Es ginge mehr um die spannende Kraft der Sprache und die Auswirkungen, die sie auf einen selbst in diesem Raum habe. Dieses Gefühl am Leben zu erhalten funktioniere nicht, wenn man in Themen denken würde. Kalms ergänzt, sie hätten am Anfang selbst nach solch einer Strukturierung gesucht, wären aber grandios gescheitert. Winkels fährt fort, die Dramaturgie sei viel sprunghafter, etwas von vorne oder hinten würde plötzlich in die Mitte funken – manchmal hätten zwei Beiträge, die zeitlich weit auseinander gelegen hätten, eine Nachbarschaft aufgewiesen. Es sei aber schwer zu benennen, was diese genau ausmache. Eine Person aus dem Publikum möchte wissen, was mit den Menschen wäre, die nichts gesagt hätten? Habe es da einfach nichts Spannendes gegeben? Am Ende habe er außerdem das Bedürfnis gehabt, aus dem Raum auf die Straße zu treten. Winkels reagiert vehement: niemals hätte es Überlegungen gegeben, auf die Straße zu treten. Die Welt beginne hinter der Tür. Kalms wendet vorsichtig amüsiert ein, sie habe wohl darüber nachgedacht. Der Kameramann habe aber abgelehnt, den Kreis zu verlassen. „Der Kreis wird nicht verlassen“, bestätigt Winkels wie aufs Stichwort. Zu der Frage nach den stilleren Personen – bei der Recherche seien manche in Hochform gewesen, die sich dann zu Drehzeiten in einer schwierigeren Situation befunden hätten, erklärt Kalms. Die hätten sich dann zurückgehalten. Außerdem, sagt Winkels, sei das Publikum auch Teil des Kreises gewesen. Man solle sich eher vorstellen, die würden eben noch auf ihr Wort warten. Oder nach dem Abspann dran kommen. Oder eben jetzt, wie er, der gerade diese Frage gestellt hätte. Der Raum sei mit dem Kinosaal verbunden. Ružička meint, er wäre angesichts der Demut, die entstünde, wenn man den Menschen bei ihren Geschichten zuhöre, auch eher ein Schweigender gewesen.

Er macht auf die bildreiche Sprache der Protagonisten aufmerksam – ja, sagt Kalms, das hätten Psychose-Erfahrene Menschen an sich. Oft auch religiös, spirituell, sagt Ružička. Geister waberten da rum, die wir so gern domestiziert sähen, auch die Kameramänner beschrieben sich schon als Geister. Er fände das eine tolle Pointe (wenn das Wort nicht zu albern erscheinen würde), wo die Ärztin erkenne, ihr Sohn sei nicht krank, sondern Adam sei eben Adam.

Aus dem Publikum kommt noch einmal eine Frage nach der Struktur. Es gäbe keine Dreiaktstruktur, aber thematische Blöcke wie zum Beispiel „Familie“, oder „Behandlung in der Psychiatrie“ – es wirke nicht so sehr wie ein lebendiges Gespräch, sondern gesetzt. Man gebe sich nicht das Wort, wie einen Ball, es herrsche viel Respekt – das sei sicher gut zu schneiden gewesen, wirke aber auch statuarisch. Ob sie das dazu benutzt hätten, eine emotionale Steuerung zu erzeugen? Manches wirke emotionaler, manches informativer. Kalms antwortet, sie sei überrascht, ja geschockt gewesen, als sie das Rohmaterial zum ersten Mal sichtete. Während des Dreh habe es sich anders angefühlt, viel aktiver und unterhaltsamer. Winkels äußert sich zur Montage, indem er sagt, in den 100 Stunden Material hätten sie eine intensive Suche betrieben. Es habe „Übergabemomente“ gegeben, die sie hätten erhalten wollen. Manchmal sei es so gewesen, dass zwei oder drei andere über etwas völlig anderes gesprochen hätten, bis sich jemand wieder zum ursprünglichen Thema äußern konnte. Diese zwei oder drei hätten sie dann sanft herausoperiert und stattdessen ein vorsichtiges Zuhören eingesetzt. Damit das Wort wirken und widerhallen könne, man sich als Zuschauer gedanklich einklinken könne, brauche es einen Rhythmus und eine Ruhe. Gut, sagt Ružička, da könne man verschiedener Meinung sein. Generell sei wohl eine Geschmeidigkeit wichtig; Pausen seien wichtig. Was ihn aber wirklich gestört habe: man könne im Film sehr schön in den Gesichtern der Menschen lesen, es gebe Tränen, gerötete Stellen, Nuancen, die den Grad der Betroffenheit spiegelten – warum sie dann bei der schmalen Dame zweimal – „Sechsmal“, unterbricht ihn Winkels prompt – sechsmal die Hände hätten zwischen schneiden müssen? Das sei die Rehabilitierung des Handschnitts, erklärt Winkels. An der HFF hätten sie das um die Ohren gehauen bekommen. Hier hätten sie die Hände aber als genauso wichtig empfunden wie die Gesichter. Sie habe Wochen gebraucht, um sich an die Hände zu gewöhnen, wirft Kalms ein. Jetzt würde sie sie mögen. Die Personen sollten wie Skulpturen sein, fährt Winkels fort. Was hätten sie denn stattdessen zeigen sollen, bei der Notwendigkeit eines Schnittes? In dem Moment wo einer allein sei, fehlte die Option des zuhörenden Blicks. Einen Jump Cut, einen leeren Stuhl? Sie hätten sich für den Minimalismus der Körpersprache entschieden. Eine Schwarzblende, schlägt Ružička vor. „Man verlässt den Raum nicht“, untermauert Winkels.

Aus dem Publikum fragt jemand nach der Tonaufnahme. Es habe 24 Ansteckmikros gegeben, sagt Winkels. Und wie sei das in der Mischung gewesen? Es gäbe so wenig Atmer oder Geräusche. Diese eineinhalb Stunden seien wirklich sehr konzentriert gewesen, sagt Kalms.

Fünf Jahre habe sich die Arbeit seit der ersten Idee gezogen, erläutert Kalms noch einmal den Produktionsprozess. Kein Fernsehsender habe mit an Bord gewollt, sie sei bei allen Redaktionen gewesen. Dann habe sie angefangen, Stiftungen und Vereine anzusprechen und in der Zwischenzeit mit Stolz weiter Leute eingeladen. Ružička sagt, ein großes Vertrauen der Menschen sei spürbar. Eine Frau aus dem Publikum sagt, ja, da sei wohl dieser Schutzraum. Für sie sei es aber vor allem ein grandioser Film über Hilflosigkeit. „Adam ist Adam“ stünde ja nicht als Konklusion am Ende des Films, sondern würde ihn eher einleiten. Das sei ein Erklärungsansatz; es gäbe noch zwanzig andere. Wir wüssten nichts – seien mittendrin, uns zu positionieren. Ružička erwähnt in dem Zusammenhang das zierliche blonde Mädchen mit dem roten Pullover. Im Film spricht sie zunächst von Schüben und enthüllt irgendwann, sie sei außerhalb der Atmosphäre gewesen, habe nur noch in Farben und Bewegungen kommunizieren können. Und niemand sei mehr mitgekommen, sie habe da alle mit reingezogen. Ružička fasst zusammen, die habe so toll über Mut gesprochen und darüber, ohne Psychopharmaka auskommen zu wollen. Wenige Szenen zuvor habe sie aber noch gesagt, dass sie es manchmal nicht schaffe und dann die Tür zuschlagen müsse. Mit dieser Ambivalenz würde man als Zuschauer entlassen. Ja, sagt Kalms, was der Film nicht schaffe, aber auch nie habe schaffen wollen, sei es, das Dilemma aufzulösen. Wie geht man mit Menschen um, die abheben? Seelische Probleme chemisch zu behandeln könne aber auch nicht die Lösung sein.

Sie seien mit dem Film viel gereist, es sei passenderweise gerade erst „Woche der seelischen Gesundheit“ gewesen, erzählen Kalms und Winkels. In Ärztekreisen würde der Film viel heftiger diskutiert als hier. Viele fühlten sich getroffen. Sie wollten helfen, mächtig sein, heilen. Die Hilflosigkeit, die sie nicht aushielten, ließe sie dann gegen den Film schießen. Das hielte der aber gut aus. Ein Mann stellt einen Vergleich zu anderen Gesprächsrunden wie den Anonymen Alkoholikern her. Immer gebe es sonst etwas von außen, an dem man sich abarbeiten könne. Hier bliebe den Betroffenen keine Möglichkeit, einen Vorwurf auszusprechen, außer vielleicht den, man lege sie still. Alles andere, die Ursache, bleibe bei ihnen. In dem Raum habe das eine beängstigende Wirkung entfaltet. Kalms beschreibt, sie habe es auch zunächst als Schicksalsgemeinschaft empfunden. Sie kenne das selbst als Angehörige, keinen Umgang damit zu finden. Das sei eine Motivation gewesen, diesen Film zu machen. Jetzt seien es aber für sie Subjekte, die eine Sprache gefunden hätten. Ružička weist noch einmal auf den Mann hin, der zu Beginn des Films sagt, erst habe er den Leuten zuviel gequatscht und unter Medikamenten zu wenig. Man wolle immer gern ein erträgliches Mittelmaß. Dass das Sprachregister ganz verschieden sein könne, dafür habe dieser Film sensibel gemacht. „Das muss man aushalten“ sei in diesem Sinne ein sehr positiver Satz, der in diesem Film vorkäme, schließt ein Mann aus dem Publikum. Im Film zuvor, „Last Exit Alexanderplatz“, sei der Satz eher negativ aufgefallen: „Demokratie muss man aushalten“. Vielleicht könnte „Das muss man aushalten“ ja das Motto der nächsten Duisburger Filmwoche werden.