Film

Sag mir Mnemosyne
von Lisa Sperling
DE/GR 2015 | 55 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 39
06.11.2015

Diskussion
Podium: Lisa Sperling
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Iris Fraueneder

Synopse

Der verstorbene Großonkel war Kameramann in Griechenland und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Erinnern sich die Orte, auf die er seine Linse richtete, noch an ihn? Ist der Abwesende noch in seinem Filmen präsent? Die Suche nach einem Fremden an veränderten Orten und verblassenden Bildern. 

Protokoll

Ein Großonkel, von dem in der Familie niemand näheres weiß, als dass er irgendwann in Griechenland Filme gemacht hat, seine Nichte, die selbst Filmemacherin ist, die seinen Namen (Karl Heinz Hummel) googelt, eine imdb-Liste findet und sich auf die Suche begibt.

Fragmente statt dem Versuch einer Rekonstruktion. Sie überlässt es dem Publikum, sich Hummel selbst auszumalen. Wie bei ihrer eigenen Suche wird er im Film nicht greifbar, oder nur halb. Die Unmöglichkeit, an ihn heranzukommen, daher auch die Entscheidung, als Off- Stimme nicht ihre eigene einzusetzen.

Zunächst ist da nur der Name, die Lebensdaten. Erst im Verlauf des Films wird die Familienbeziehung offengelegt. 16 Tagebuchbände, und ein paar Bilder von ihm habe es in ihrer Familie gegeben. Die Bilder werden im Film ausgespart, stattdessen webt sie Ausschnitte seiner Filme in ihr eigenes Material ein.

Öhner spricht die langen statischen Einstellungen an. Orte, über die auch gesprochen wird, aber nicht notwendig parallel. Später im Film, wenn hinter dem Name der Großonkel hervortritt, Entsprechungen: Orte, an denen Hummel gefilmt hat und die seine Nichte nun aufsucht und wieder filmt. Eine Geschichte entfaltet sich, die Länder und Zeiträume umspannt.

Sperling nennt in diesem Zusammenhang ihr Bedürfnis, Bilder zu sehen, sie zu durchdringen. Dauer und Weitwinkel seien Mittel einer bewussten Abgrenzung von ihrem Onkel, der sein Material meist mit der Handkamera gedreht hatte. Das Bedürfnis nach Abgrenzung sei zu dem Zeitpunkt aufgekommen, als ihr klar wurde, dass es ihr nicht gelingen würde, an ihn heranzukommen. Sie hatte viel recherchiert, viele Interviews geführt. Der Wendepunkt sei spätestens gekommen, als ein befragter Regisseur gemeint hatte, Hummel hätte immer Bier getrunken, ein anderer hingegen, Hummel hätte immer Rotwein getrunken. Von dem Moment an habe sie genau diese Ungreifbarkeit, der Entzug zu interessieren begonnen.

Passend zum Freigeist, ein Stichwort, das irgendwann im Film fällt. Öhner leitet zum Homer- Zitat am Filmbeginn über, von der Anrufung der Musen, die im Gegensatz zu uns, die wir allein dem Gerüchte horchen, wissen. Gebrochene Erinnerung. Erinnerung, die trotz vorhandener Aufzeichnungen nicht mehr wieder ersteht und der Imagination Raum gibt. Warum die Referenz auf die Ilias? Sperling hatte von Regisseur Enrico Andreou einen Hinweis bekommen, wonach Hummel sich viel mit der griechischen Mythologie befasst hatte und die Ilias sehr mochte. Deswegen habe er auch in der Straße Illiados gewohnt, die im Film zu sehen ist. Und dann sei da ja auch noch die Frage, warum Hummel Ende der 1960er aus der BRD überhaupt nach Griechenland gegangen war.

Zum Schlusszitat und Mnemosyne: Das Wort ist der Träger der Erinnerung, lange bevor die Geschichten in der Schrift fixiert werden konnten. Mnemosyne, die Erfinderin der Schrift, welche ähnlich dem Film einen Fixierungsversuch darstellt und der Erinnerung und der Imagination andere Ebenen eröffnet.

Das Wort, das herumkreist. Öhner erinnert sich an einen Kracauer-Aufsatz von 1927, wo dieser schreibt, die Fotografie sei kein gutes Erinnerungsmittel, weil sie die Dinge in Raum und Zeit festhalte. Das Gedächtnis hingegen hält nur das fest, was auch etwas bedeutet. Sperlings Film scheine vielleicht doch weniger Fixierungsversuch zu sein, als die Bilder und Geschichten filmisch zu bewegen. Er scheine dem Antrieb zu folgen, eher den Worten zu vertrauen, die etwas beschreiben, aber lässt die Worte nicht die Sprecherinnen sagen. Das Wort zirkuliert, die Geschichten zirkulieren und die Bilder erzählen uns andere Geschichten. Sperling: und ich erzähle das, was ich mir aus diesen Worten ziehe.

Es entstehen Bilder, die nicht festgezurrt sind, für jede_n andere sind.

Eine Diskutantin zählt auf: Im Film gäbe es die Figur des Großonkels, die Figuren des Archivmaterials, und die Figuren von Sperlings eigenen Aufnahmen. Alle spielen verschiedene Rollen. Sie fragt, ob Sperling auch mal daran gedacht habe, die Stimmen aus den vielen geführten Interviews selbst sprechen zu lassen?

Die Interviews seien auch gefilmt worden, es war aber nicht vorgesehen, diese Aufnahmen ungebrochen einzusetzen. Die vielen Textstellen, die nicht von Sperling sind, sondern Fragmente der transkribierten Interviews, entziehen sich teils ihrer Kontrolle aufgrund der Sprache, die sie nicht verstand, was wiederum ihre eigene Rolle wie auch die der Übersetzer_innen ins Spiel bringt.

Anschließend an die Frage der Figuren spricht eine Diskutantin von der Lücke, die zwischen den Worten und den Bildern aufklafft, weil die Bilder ganz andere Geschichten aufbrechen würden, an die man wiederum nicht herankommt. Im Film wird Sperlings Wunsch deutlich, die Bilder zu durchdringen, nach den Drehorten und Bildern des Onkels zu suchen, aber es schleichen sich auch Bilder ein, die Spuren ihrer eigenen Suche zu markieren scheinen – kleine Alltagsbilder, das Mädchen im Pool, die Schildkröte. Sie fragt ob das bewusste Markierungen ihrer eigenen suchenden Figur seien, oder wo sie sich selbst verortet sieht.

Sperling unterscheidet zwei Reisen, eine erste Interview-Reise und eine zweite Bilder-Reise. Für sie selbst steckt hinter jedem Bild ein Zusammenhang, der sich den Zuschauer_innen aber nicht immer erschließen kann. Die Kartenspieler im Café – Leute im Viertel, wo Hummel gewohnt hatte, hatten davon erzählt und möglicherweise war das ein Ort, an dem er ein und aus gegangen ist. Oder: Einmal werden Menschen aus Hummels Generation in einem kleinen Dorf gefilmt, das einer von Hummels Drehorten gewesen sein könnte.

Manche Bilder folgen den vielen Beschreibungen, die Hummel in seinen Tagebüchern notiert hatte. Etwa die Szene des Esels mit den Hühnern sei entsprechend inszeniert.

Öhner zählt verschiedene Kategorien von Sperlings Bildern auf: Bilder, die eine historische Differenz zu Hummels Bildern produzieren, Bilder, die ein Gefühl transportieren, eine Geschichte verstecken, aber auch Bilder, die eine politische Dimension aufmachen. Etwa das erste Bild der Straße im Wüstensand. Sperling berichtet von den Vereinten Arabischen Emiraten, von Straßensystemen, die für kommende Städte angelegt sind, von denen bis auf die Straßen aber noch nichts gebaut ist.

Viermal im Film kommt – den Selbstaufzeichnungen des Onkels entnommen – die Setzung Stuttgart 1944 vor, aber nur einmal mit klarer Referenz auf die Politik, wenn Hummel schreibt, er kann den weißen Blättern nicht vertrauen, muss sie anlügen. Wohingegen er sich aus dem Putsch in Griechenland apolitisch raushält.

Eine Diskutantin bringt ihre Beobachtung ein, im Film spiegele sich der Versuch darzustellen wie ein Vorhaben zu etwas anderem führt, aber nicht entleert wird. Vom Porträt des Onkels zum Porträt der eigenen Suche. Die Schwimm-Szene, in der man Sperling zum ersten Mal sieht, fällt aus dem Rhythmus des Films. Sperling erwähnt, die Idee des Wunsches an Hummel heranzukommen sei zu der Zeit noch nicht aufgegeben gewesen. Öhner markiert diesbezüglich einen Wendepunkt, eine Zäsur, wenn die Off-Stimme sagt: Es ist mein Bild, das ich von dir entwerfe.

Am Ende des Gesprächs kommt Öhner auf die sonore Atmosphäre zu sprechen: Meist dominiert ein Geräusch. Weil sie das einfach liebe, meint Sperling. Und weil ihr klar gewesen sei, dass der Ton die Bilder nachträglich füllt und färbt, gerade wenn sie sehr offen sind.

Ja, er leitet den Blick, schließt Öhner – Wie die Schildkröte.

 Iris Fraueneder © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Iris Fraueneder © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald