Synopse
Die Ausnahmesituation als alltägliche Routine: Kinder und Jugendliche an den Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit, das Personal der psychiatrischen Klinik an den Grenzen seiner Hilfekapazität. Junge Patienten übersetzen ihre Leiden in Bilder und Worte, die Institution übersetzt in Diagnosen und Bürokratie.
Protokoll
Till Brockmann begrüßt und leitet ein mit der Frage nach der Verbindung des Regisseurs zu der Thematik der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Constantin Wulff manifestiert einen persönlichen Ausgangspunkt, immer, bei all seinen Filmen. In diesem konkreten Falle sei der Leiter der Klinik, Paulus Hochgatterer, der seinen Film In die Welt kannte, mit der Idee an ihn herangetreten. Darauf folgten zwei Jahre Vorbereitungszeit, da vor allem auch juristische und ethische Fragen zu klären waren.
Auffällig sei, so Brockmann, dass Hochgatterer nie als Arzt, sondern ausschließlich als „Chef“ zu sehen sei.
Der Primar sei eben der Chef, es ein Ritual, in den Besprechungen attackiert zu werden, kontert Wulff die Frage Brockmanns. Bei einem Screening vor der Ärztekammer in Österreich habe es häufig Szenenapplaus gegeben.
Bei mindestens 20 Leuten unter den Betreuern, fragt sich Brockmann, haben da alle mitgemacht? Gab es keinen Widerstand?
Nein. In der Abteilung hätten sie 100 bis 120 Leuten das Projekt vorgestellt, erläutert Wulff. Klar, hätten sie „nein“ sagen können, wovon auch einige Gebrauch gemacht hätten. Andere kinderpsychologische Einrichtungen hätten sich im Film wiedererkannt, was zeige, dass an anderen Stationen ähnlich gearbeitet wird.
Ob ihm denn die 2/3 „Personalarbeit“ von vornherein klar gewesen wären, interessiert Brockmann.
Im ersten Konzept sei ihm, Wulff, noch ungewiss gewesen, ob die Kinder oder eben auch deren Eltern mitmachen. Die Angst, die das Tabu mitbringe, hatten sie überschätzt. Zu ihrer Überraschung hätten viele „ja“ gesagt. Trotz allem sei es ihm wichtig geblieben, die Dinge getrennt zu belassen, die Besprechungen und Kinder nicht zusammenzubringen.
Damit multipliziere er die Zurückhaltung, so Brockmann, und unterwandere sein Konzept dann doch mit der Darstellung der zwei Mädchen, auf deren Entwicklung er durchaus eingeht.
Letztlich habe er die konzeptuellen Vorgaben, jede Figur nur einmal zu zeigen, nicht dogmatisch betrachten wollen. Bei Sophie beispielsweise sei ihm wichtig gewesen, dass sich die Figur entwickelt. Dramaturgisch liefe es bei ihr auf das letzte Gespräch hinaus, die Diskussion, die Wahrheit oder eben nicht die Wahrheit zu sagen. Sophie habe im Nachgang weitaus entspannter reagiert, „arge Sachen“ nicht gesehen.
Keinesfalls habe es jedoch Handlungsanweisungen gegeben, er sei der klassischen dokumentarischen Beobachtung gefolgt, wenngleich der Film damit immer komplexer wurde, weil das „Mitleben“ plötzlich eine Rolle spiele. Das Publikum habe so manches Mal erleichtert reagiert, dass Sophie noch lebe.
Der Frage Brockmanns nach einem möglichen „Schubladisieren“ stellt sich Wulff entgegen. Es sei ihm von Anfang an bewusst gewesen, dass er sich mit dem Portrait einer Organisation zwangsläufig dem System unterwerfe.
Michael Sennhauser interessiert das Drehverhältnis in Bezug auf die Protagonisten, und ob es denn keine „Anschlussdramen“ gegeben hätte, sich der ein oder die andere möglicherweise nicht wiedergefunden hätten.
1:100 schätz Wulff das Verhältnis, verweist auf die Blöcke im Abspann, bei denen auf die im Film dargestellten Personen die beteiligten, aber nicht gezeigten, sowie die unbeteiligten folgen. Dramatisch sei es, wenn überhaupt, eher auf Seiten des Personals geworden. Wenn er die Filmwoche dokumentiere, wären doch wohl sicher auch zuvorderst Till oder Ružička die gekränkten Seelen. Mit den Kinder hingegen habe er durchaus interessante Debatten um nicht verwendetes Material geführt, das sie teils vehement eingefordert hätten.
Udo Bremer fragt Wulff nach dessen Prinzipien bei der Auswahl der Beiläufigkeit und Alltäglichkeit im Film.
Dem sei es durchaus darum gegangen, das Krankenhausklischee durch die Darstellung der Binnenstrukturen aufzulösen: Die Postfächer oder die Krankenhausapotheke böten einen thematischen Anschluss und erweiterten den Raum, um sich von Schablonenhaftem entfernen zu können.
Ihr Kompliment will auch Ute Holl vorwegschicken und versucht sich hiernach an der Analyse der Resonanzräume. Den der Kamera stellt sie besonders heraus und merkt an, dass vor allem die immer wiederkehrenden Schwenks diesen verdeutlichen.
Ja, auf establishing shots hatte er, so Wulff, verzichten können, da meist auf (zwei) Antagonisten geschnitten wurde. Und dass er grundsätzlich Gefallen an Schwenks findet, mag er nicht verbergen, wenngleich viele dem Schnitt zum Opfer gefallen wären. Sie böten aufgrund ihrer Dauer die Möglichkeit, Figuren miteinander zu „verbinden“ – bewusst und verdeutlicht würde dies, als Hochgatterer, welcher grundsätzlich immer in der „Mitte“ gesessen habe, bei der letzten Chefvisite im Film nicht anwesend war und dessen Platz dann frei geblieben wäre.
Werner Ružička sei erschrocken gewesen über das Protokollartige, beinahe Normierte im Zusammenspiel der Ärzte mit den Kindern. Hingegen spüre er zwischen Chef und Fachärzten Gemütlichkeit aufkommen, wenn sie sich „kabbeln wie Zaunkönige“. Und interessiert wäre er zu wissen, inwieweit Wulff die Jahreszeiten als Bild verstanden haben mag. Gerade die Rutschbahn, so schließt er, sehe er kritisch in Verbindung mit dem Thema Krankenhaus.
Der Film beginnt mit einem durchaus umstrittenen, weil altem Verfahren, der Bilddiagnostik, wie Wulff zu einem früheren Zeitpunkt bereits einräumte. Auch habe Leonie zugegeben, dass er dem Psychiater teils liefere, was dieser hören mag. Doch Wulff selbst könne nicht entscheiden, was authentisch, was künstlich ist – und gerade dies fände er spannend. Die „Zaunkönige“ habe er gebraucht. Und da die Analyse heute „multiprofessionell“ geführt würde, es zudem in einer Gruppe stets Gegensatzpaare gäbe, habe er auch immer bewusst in den Gesprächen danach gesucht. Hingegen von Metaphern und Symbolen sei er kein Freund. Der Baum wäre in den Innenhof regelrecht „reingeknüppelt“ worden, was er unbedingt – und ohne Hintergedanken – hätte zeigen müssen. Und: Eine Rutsche im Schnee sei eben eine Rutsche im Schnee, so Wulff. Wenn Ružička mehr darin sehen wolle, so fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu, dann sei ihm dies natürlich gestattet.
Pary El-Qalqili interessiert der „Sinn“, die „brutalen Blicke“ – als Beispiel führt sie den durch den Flur robbenden Jungen an – zu wiederholen, was Wulff abwehrt. Der Film übernähme nicht den Blick der Institution. Zwar sei viel Interpretationsspielraum gegeben, welcher naturgemäß eine gewisse Ambivalenz mit sich bringe. Jedoch fände er es immanent, dies auch „erleben“ zu können. Da El-Qalqili immer wieder nachhakt, versucht Wulff zu beschwichtigen, es gäbe weder „richtig“ noch „falsch“ in der Interpretation. Den ebenso möglichen Ansatz, Krankheiten zu institutionalisieren, hätte er nicht verfolgt.
Zum Schluss die Frage nach seinem persönlichen „Schlusspunkt“ aus dem Publikum, ob es Grenzen für ihn gegeben hätte während der Dreharbeiten, an denen es nicht mehr weitergegangen sei – man mag sogar ein „Kamera aus!“ einer Schwester gehört haben.
Ja, Grenzen habe es für ihn gegeben. Persönliche, keine von extern. Wulff gibt unmissverständlich zu verstehen, dass sowohl die Kinder, sofern sie älter als 14 Jahre waren, als auch deren Eltern dem Dreh schriftlich zugestimmt hätten. Ungeachtet dessen würde es ihm widerstreben, eine Fixierung in Gänze zu filmen. Die Fixierung, deren Vorbereitung im Film zu sehen ist, festzuhalten, hätte er nicht für notwendig erachtet. Daher gäbe es auch kein Material von ihr. Darüber hinaus wären Abbildungen von Personen, die nicht aktiv im Film vorkommen, nachträglich verfälscht worden – so das Bild des Mädchens auf der Akte und auf dem Überwachungsbildschirm. Und: Ein ihnen geltendes „Kamera aus!“ seitens des Personals habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben.