Film

Zaplyv – Die Schwimmer
von Kristina Paustian
DE/HU/RU 2015 | 78 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 39
05.11.2015

Diskussion
Podium: Kristina Paustian
Moderation: Joachim Schätz
Protokoll: Lena Serov

Synopse

Boris Zolotov hat den wissenschaftlichen Betrieb der Sowjetunion verlassen und leitet seitdem als geistiger Führer die Gruppe der „Schwimmer“ in Bade- und Tanzritualen an. Ekaterina sucht in dieser Gemeinschaft Sinn und Halt. Sie befragt den eigenwilligen Guru nach der Möglichkeit des Glücks im heutigen Russland.

Protokoll

Bereits die ersten beiden Einstellungen seien reich an Assoziationen und listenreich arrangiert, findet Joachim Schätz. Das eine Bild zeigt eine Menschenkette im Meer, das andere – ein Archivbild, das eine Menschenformation im dunklen Tor einer Wasseranlage verschwinden lässt – löse eher Beklemmungen aus. Sein Interesse galt zunächst der Frage, wie Kristina Paustian, die Regie, Buch, Kamera, Schnitt vereint, ihren Stoff gefunden habe: den Guru Zolotov und seine Anhänger bzw. wie es zu der ersten Begegnung kam.

Paustians Begegnung mit Zolotov sei zufällig gewesen. Sie wurde zu einer Theaterperformance von Zolotovs Gruppe in Moskau mitgenommen – eine der psychedelischen Theaterperfomances sei am Ende des Films zu sehen. Zolotov als Regisseur der Performance war ebenfalls anwesend, was für die Autorin spannend war, da sie ihn unmittelbar ausfragen konnte. In den anschließenden Diskussionen ging es vor allem um die Frage, was klassisches Theater sei. Später wandte sie sich an Zolotov mit der Idee, einen Film über ihn und die Gruppe zu machen; er sagte zu und die Filmarbeit begann. Zunächst ist daraus eine Installation entstanden (6-Kanal mit Stapelmonitoren). Damit war der Stoff aber für Paustian nicht erschöpft, sie fand, da war noch mehr herauszuholen. So habe sie sich dann für das Langfilmformat entschieden, in dem sie bisher noch unerfahren war, weil sie zuvor mit Kurzfilmen und Installationen im Bereich der Bildenden bzw. Video-Kunst gearbeitet habe.

Der Film sei vor allem im Rahmen der Bühnenperformances von Zolotovs Gruppe entstanden, auch die gesamte Ausstattung, die der Film zu Beginn in einer 360°-Drehung ausstellt, gehört zu Zolotovs Kunstwelt, zu der die Filmemacherin nichts hinzufügte.

Produktionstechnisch ging Paustian so vor, dass sie zunächst die Leute bei ihrem Alltag während des künstlerischen Sommerlagers beobachtete. Die Themen ergaben sich aus dem Ablauf der Baderituale, die tranceartigen Tanzperformances usw. Später habe sie auch angefangen zu inszenieren. Durch die Inszenierung ihrer Protagonistin Ekaterina als ihr Alter ego nähert sie sich der Gedanken- und Ritualwelt von Zolotovs Jüngern. Ekaterina Vasilenko nimmt im Filmprojekt eine Zwischenstellung ein: Neben ihrer Rolle als Zolotovs Antagonistin und als Teil der Gruppe, zeichnete sich Ekaterina auch für den Ton verantwortlich und war auch an der äußeren Entstehung des Films beteiligt. Auf Joachim Schütz’ Rückfrage, welche Rolle zuerst da war und wie Ekaterina zur Gruppe kam, erzählt Paustian von ihren Parallelen. Die Autorin habe sie in der Gruppe gefunden, ihre Mutter habe sie zu Zolotov mitgenommen.

Gleichzeitig stand Ekaterina außerhalb der Gruppe wie Paustian selbst. Auf die Frage nach der Idee dieser Figur mit ihrem skeptischen bzw. suchenden Blick, mit dem sich eine gewisse Distanz einstellt, antwortete die Regisseurin, dass sie das Mädchen in ihrem Prozess des Verstehens, Prüfens und Hinterfragens begleitete. Außerdem hätte sie versucht, im Film Spiegelungen für ‚uns’, die Zuschauer, zu schaffen. Eine weitere Projektionsfläche für diese ‚Übertragung’ stellen die Zuschauerszenen im Film selbst dar [siehe unten].

In der Figur von Zolotov verbinde sich ein installatives Gesamtkunstwerk (in den Credits wird er als für unterschiedliche Elemente der Bühneninszenierung verantwortlich aufgeführt), ein charismatischer Anführer und ein müder König oder Karnevalsprinz konstatiert Schütz und fragt nach dem genauen Interesse an diesem ‚Typen’. Zum anderen interessiere ihn die Motivation der Leute, sich Zolotovs Gruppe anzuschließen. Die Dinge, die er als geistiger Führer sagt, seien wenig zu greifen, weder die Aussagen aus den Archiv-Fernsehaufnahmen aus den 1990ern Jahren noch die aus der Gegenwart.

Paustians Interesse am Film war nicht die Entstehung eines Portraits über Zolotov, sondern läge in der allgemeinen Frage nach dem, ob man sein Glück in Russland finden könne.

Mit dem Interesse nach der eigenen formalen und intentionalen Rahmung der Erzählung z.B. durch das Nekrassow-Zitat („Wie lebt man glücklich in Russland?“) und ob es historisch oder universell gemeint sei, war die Frage verbunden, ob es aufseiten der Regisseurin Vorbehalte gäbe, das alte Klischee einer unglücklichen Volksseele zu bedienen. Bei Nekrassow sei es eine rhetorische Frage, entgegnet Paustian.

Neben der menschlichen Komponente, eine unglückliche Sehnsucht (als Kern der russischen Seele) zu haben, wollte die Autorin die Menschen wertfrei dabei beobachten, wie sie ihr Glück suchen bzw. finden. Diese Beobachtung war mit der Frage verbunden, warum es in Russland das Bedürfnis oder Notwendigkeit gebe, die eigene Verantwortung über sein Handeln auf eine andere Person [wie Zolotov] zu übertragen. Diese Frage sollte der Film ebenfalls aufwerfen.

An der Figur Zolotov, der ein ranghoher Wissenschaftler war und an der Moskauer Universität Physik unterrichtete, ließe sich eine ‚spezifisch russische Konstellation von Wissenschaft und Metaphysik’ ablesen. Diese Verbindung sei dem Entwurf von Bechterevs Neurologie (und deren Übergang ins Parawissenschaftliche) in der Sowjetunion nicht unähnlich, in der die Existenz des Menschen durch allgemeine, alles durchdringende Prinzipien bestimmt ist. Kehrt also diese sowjetische Vorstellung hier als Farce wieder?

Für Pastian besteht hier die Verbindung zum Topos des Selbstverlusts im Kollektivismus und der daraus entstehenden Wissensformen, wobei Zaplyv nicht der einzige Film sei, dies zu thematisieren. Es gebe verschiedene Ansätze dieses Thema zu behandeln mit ähnlichen Mitteln.

Dies sei ein wiederkehrendes Thema, das bereits in anderen Filmen zuvor behandelt wurde, bspw. in Peter Mettlers Filmen, der auf der Suche nach Sinnesstimulationen und transzendentaler Erfahrung ist. Es sei kein Versuch, den einzelnen Menschen zu eliminieren, sondern von sich loszulassen und neues Wissen im Kollektiv zu generieren.

Die Filmemacherin Katja Fedulova, die sich aus dem Publikum meldete, war von der Filmform fasziniert, die auf sie einen rätselhaften Eindruck gemacht und zum Nachdenken angeregt habe – eine Reise in eine spirituelle Welt einer Kommune. Die Welt wirke auf sie fremd und abstrakt, ein von dieser Welt abgehobener Kosmos. Dabei fehlte ihr aber die Darstellung der persönlichen Erlebniswelt der portraitierten Personen, in der die erwähnte Flucht von der Verantwortung in eine gewöhnliche Geschichte übersetzt würde. Es habe nur ein solches Beispiel im Film gegeben – die Frau, die „über die Welt“ weint. Zudem gehören die TeilnehmerInnen [der ‚Kommune’] unterschiedlichen Altersgruppen an (es gibt vor allem ältere Damen, aber auch Jugendliche und Kinder) – Fedulova hätte sich eine Vertiefung in die Charaktere und ihre Motivation gewünscht.

Kristina Paustian meint, dass man sich die Geschichten und Motivationen der Leute schon denken bzw. selbst erklären könne, wenn man in ihre Gesichter blickt: Sie stecken in unglücklichen Ehen oder fühlen sich in irgendeiner Weise unerfüllt. Das Interview mit der Frau [am Kühlschrank] sei dafür exemplarisch ausgewählt.

Tatsächlich habe Pastian viele Interviews mit den Leuten geführt, teilweise über eine Stunde lange Gespräche. Während der Arbeit an dem Films gab es auch mehrere Versionen mit verschiedenen Schwerpunkten. Sie hatte auch versucht, den Film auf den Gesprächen aufzubauen, fand es letztendlich zu spezifisch.

Joachim Schätz kommt daraufhin auf die Inszenierung der Zolotov-Anhänger im Film zu sprechen, wenn sie die Kamera als Publikum während der Performances zeigt. In den Gesichtern der Leute würden unterschiedliche Abstufungen der Begeisterung sichtbar, mitunter auch Verzückung, stille Form der Gebanntheit, aber auch Scham. In diesen Szenen seien die Gesichter am belebtesten, wobei das ‚Ornament’ der Menschenkette im Wasser das nicht mehr hat.

Paustian haben die Wasserrituale sehr interessiert, die mit dem Element des Wassers zu tun haben. Als Außerstehende wüsste man nie, wann die Leute anfangen zu schwimmen und damit auch nicht wann die Performance der

Menschenkette beginnt. Sie vermutet, dass sie eine Intuition über ihr Schwarmverhalten entwickeln und versuchen sich in diesen Zustand zu versetzen.

Joachim Schätz interessiert sich ferner für das Moment der wartenden Haltung des Films, er hätte eine Form der ausgedehnten Gegenwart. Es gibt Darsteller aus unterschiedlichen Zeiten, vor allem Bilder von Boris Zolotov aus der Gegenwart und als Archivmaterial, wobei die Gegenwart keine ‚Logistik’ des Alltags vermittele, d.h. keine zeitliche Abfolge von Ereignissen, dass sich eine Gestalt des Alltags greifen ließe.

Der Film sei nach Ideen und Glaubenssätzen der Gruppe strukturiert, nicht nach einer chronologischen Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese sollten gedanklich greifbar sein. Es sei vergleichbar mit einer Reise in den Kosmos, wofür symbolisch der Gang ins Wasser stehen könnte.

Joachim Schätz stellt einen Bezug zu Kristina Paustians Arbeit von 2011 her, in der das Wasser erneut eine große Rolle einnimmt [Karavaj, 28:21 min, HDV, 16/9]. Die Bilder des Wassers haben dabei etwas vorindividuelles. Ist es Zufall, dass sich dieses Motiv fortsetzt oder wurde sie da bereits von Zolotov ‚gerufen’?

Die erste Arbeit mit Zolotov sei vor diesem Film entstanden, und sie war langwierig und lief in mehreren Phasen ab. Paustian habe noch nie mit dem Format des Langfilms gearbeitet. Deshalb stellte der Dreh einige Herausforderungen dar, z.B. fragten sie sich während des Drehs, wie viel Material sie brauchen würden.

Schließlich beschloss Schätz die Diskussion mit der offenen Frage, ob die Arbeit damit an ihr Ende gekommen ist oder sich weiter fortsetzt…