Film

Aufschub
von Harun Farocki
KR/DE 2007 | 40 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 31
06.11.2007

Diskussion
Podium: Harun Farocki
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Torsten Alisch

Synopse

Zu sehen sind historische Aufnahmen des „Durchgangslagers Westerbork“ aus dem Jahr 1944: arbeitende Menschen in Wäschereien, tanzende Menschen, Menschen, die in Züge steigen und helfen, die Türen zu schließen. Dazwischen Schrifttafeln und der Schnitt als reflektierender Kontrapunkt, um dort einzuhaken, wo die Bilder verschweigen.

Protokoll

Produktionsgelder:

Das Joenju International Film Festival in Korea vergibt Gelder für die Herstellung von Filmen, diesmal wurden drei Europäer ausgewählt, deren Werke unter dem Gesamttitel „Memories“ laufen werden. Es gab nur genaue Vorschriften zum Vor- & Abspann des Films, zu den Namen, die dort auftauchen mussten (und die er nicht kannte) sowie zum Filmmaterial („diddschidll“), ansonsten konnte Farocki frei arbeiten.

Originalmaterial: Solche Bilder aus Lagern sind wir nicht gewohnt.

Der Großteil der vorhandenen 90 Minuten besteht aus Bauernhofsszenen mit endlosen Tieraufnahmen und der so genannten „kriegswichtigen“ menschlichen Arbeit auf den Feldern (die in Wirklichkeit völlig ineffizient war und von Maschinen hätte gemacht werden müssen). Der Eindruck eines sowjetischen Kolonisierungsfilms drängte sich auf. Im Lager Westerbork gab es viele Zionisten, die gerne nach Palästina wollten. Der eigentliche Lager- “Alltag“ fehlt im Film völlig: Es gibt kein einziges Bild der Küche. Von den Schlafplätzen gibt es nur eine merkwürdig menschenleere Sequenz mit frisch bezogenen, rein weißen Betten. Die „Erschöpfungs“-Szenen auf den Feldern nach getaner Arbeit erinnern eher an ein gemütliches „Entspannen“ in der Frühjahrssonne.

Beschönigungen:

Sind diese Bilder eine Beschönigung? Ja, sicher, die Intention der Erstellung dieser Bilder war die Beschönigung der Bizarrheit dieses Lagers, deren Leitung wohl nicht an die Ostfront versetzt werden wollte und hier (für sich selbst? / für die Vorgesetzten?? / für die Besucher???) sowas wie einen (Firmen-)Präsentationsfilm in Auftrag gegeben hatte. Neben einem Besucherzentrum mit detailgenauem Lagermodell wurde auch ein eigenes (Firmen- )Logo erstellt, von der sich in jüdischer Selbstverwaltung befindlichen Grafik-Abteilung des Lagers, ein Logo mit rauchenden Schloten – war gar an eine Vermarktung dieses Lagers gedacht worden? Krieg ist immer auch eine Verwaltungsmaßnahme unglaublichen Ausmaßes. Wollte die Lagerleitung mit diesem Film beweisen, wie gut organisiert hier alles ablief? Auch Hannah Ahrendt hat schon sehr früh die spezielle Situation in den Niederlanden analysiert, wo mit großem Widerstand jüdischer Gruppen gerechnet und wo deshalb besonders „schonend“ vorgegangen wurde: Selbst das Rote Kreuz hatte hier Zugang zu den Lagern. Der Theresienstadt-Film Kurt Gerrons wurde erwähnt, der zu propagandistischen Zwecken für’s Ausland gedreht wurde. Der Zweck dieses Westerbork- Films ist unklar, und selbst Lagerkommandant Gemmeker wollte später vor Gericht nichts mehr von Filmaufnahmen gewusst haben.

Die pazifierende Wirkung der Kamera:

Wenn Menschen gefilmt werden, wird ihnen schon nichts „Schlimmes“ angetan, solange die Kamera läuft, werden keine Massaker begangen – gleichzeitig sind hier die einzig bekannten Aufnahmen zu sehen, die es von einer Deportation nach Auschwitz gibt…

Zwischentitel / Texte: Der Verstand steht doch nicht still!

Sequenzen des Originalmaterials wurden nicht gekürzt oder durch Zwischentitel unterbrochen, allenfalls wurde die Sequenz nach dem Zwischentitel noch einmal gezeigt. Farocki guckt sich gerne Material mehrfach an, ohne „einzugreifen“: Genaues Blicken auf die Bilder, und dann auf ein paar Einzelheiten hinweisen, Orientierungspunkte setzen. Eine interpretierende Lektüre der Bilder. Ohne eine gewisse Orientierung kann man dieses Material beim erst- bzw. einmaligen Anschauen im Kino nicht einordnen.

– manche fühlten sich hier von der suggestiv-dominanten Textebene in ihrem freien Sehen und Denken eingeschränkt: Der eigene Blick wird dem Zuschauer verweigert.

– andere fanden diese Reflexion über die gesehenen Bilder geradezu „befreiend“: Vorschläge und Anmerkungen, die der Film sich selbst macht, und davon kann es nie genug geben.

3 mögliche Lesarten des Filmes „Aufschub“:

– ein Film über ein Lager

– ein Film über einen Film (die Originalfilmfragmente von Breslauer)

– ein Film, der mit seinem Archivmaterial „umgeht“, es bearbeitet und verändert

Eine Hierarchie legitimer Lesarten solcher Bilder:

1. als Dokument (die Bilder bezeugen eine vergangene Realität)

2. formale Aspekte (sind die Bilder komponiert, wurden sie bearbeitet)

3. psychologische Lesart (die Todesangst in ein Gesicht hineinzulesen)

Ungeklärt blieb die Frage, ob man die FURCHT im Gesicht des Sinti-Mädchens Settila wirklich sehen kann oder ob die Zwischentitel das nur hineininterpretieren. Zeigt das doppelte Zeigen dieser Sequenz wirklich zwei verschiedene Ebenen: Zuerst das Grauen der Deportation („herkömmliche Bilderpolitik“), und danach in der Wiederholung die „Selbstbehauptung des Individuums“?

Sprachdetails:

Haben die „Deutschen“ die Niederlande überfallen, haben „Nazi-Deutsche“ die Judenvernichtung geplant, haben „Nazis“ die Konzentrationslager gebaut und betrieben? Darf man diese Benennungen vermischen und sind diese Bezeichnungen den Taten angemessen?

Historische Details:

Nachdem SS-Lagerleiter Gemmeker in den fünfziger Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen und sich eine neue Existenz in Düsseldorf aufbaute, blieb er befreundet mit dem jüdischen Leiter des ehemaligen Lagerkrankenhauses, der selbst mittlerweile das Düsseldorfer Krankenhaus leitete.