Film

Wege Gottes
von Eva Neymann
DE 2006 | 64 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 31
05.11.2007

Diskussion
Podium: Eva Neymann
Moderation: Werner Dütsch
Protokoll: Sven Ilgner

Synopse

Jungen unterwegs auf den Straßen von Odessa. Herumstreunen, überleben, ans Meer gehen, rauchen, in verlassene Häuser steigen, sich durch die Stadt treiben lassen. Blassbunte Blicke, auf den Fersen von Kolja und überall Musik.

Protokoll

Zu Werner Dütschs Bedauern kann Eva Neymann den Streichholzschachteltrick des Dim Dimowitsch nicht vorführen. „Dim Dimowitsch“, so stellt er sich vor, ist ein Obdachloser, der sich in einer Sequenz des Films Wege Gottes rührend und bedrückend zugleich um den Straßenjungen Kolja kümmert. Er kauft ihm ein Eis. Von dem Geld, dass er selber nicht hat. „Wir sind Männer – Wir müssen gut essen“, sagt Dim. Danach führt er Kolja und der Kamera stolz einen Trick vor, bei dem eine Streichholzschachtel an Dims Handgelenk zu schweben scheint.

Da Eva Neymann diesen Trick also nicht vorführen kann, führt Werner Dütsch die Dinge an, die ihm an ihrem Film besonders gefallen haben. Er sei eine Mischung, auf den ersten Blick undogmatisch, aber im Detail dennoch sehr genau. Da würde improvisiert, dem Chaos nachgegeben und dann doch wieder offenbar präzise Regie geführt. Es werden Episoden erzählt, mit Raum für Einfälle, für magische Momente. Werner Dütsch stellt fest, dass der Film einerseits durch klare Konstruktion entsteht, andererseits immer wieder mit Leichtigkeit und Offenheit überrascht. Die offensichtlichen Parameter, die wir mit Straßenkindern in Osteuropa verbinden wie Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewalttätigkeit würden zu Statisten in diesem Film. Die Hauptfiguren Kolja und der jüngere Jura bekämen ihre Existenz zurück. Aus konkreten Dingen wie dem Kassettenrekorder oder dem Schiffsmodell vor dem Jura zu Beginn des Films bewundernd steht, werden Metaphern für die Freiheit und für ein lebenswertes Leben.

Eva Neymann ist sichtlich gerührt von den Ausführungen. Für sie sei die Welt der Straßenkinder von Odessa keine fremde. Sie könne fühlen, was Menschen in schwierigen Situationen erleben. Zur Frage nach der besonderen Mischung von Regeln und Chaos bei der Regiearbeit kann sie nur feststellen, dass sie ja schließlich Regisseurin sei. Inszenierung sei nicht das passende Wort. Vielmehr hätte sie sich mit den Kindern verabredet. Meist an Orten, die die Kinder vorschlugen, manchmal hatte sie auch selber eine Idee. Wer den Ort ursprünglich gefunden hatte, sei irgendwann nicht mehr von Belang gewesen. Die filmische Zusammenarbeit lief so ab, dass Kolja und Jura die Situation sehr schnell akzeptierten. Den Kindern sei klar gewesen, Eva müsse arbeiten. Dabei versuchten sie, nicht zu stören.

Eine Diskutantin weist auf den Unterschied hin, dass man Straßenkinder, etwa aus Brasilien, eher als Gruppen kennt und nicht als so einsam wahrnimmt wie Kolja und Jura. Eva stimmt zu und erklärt, dass sie eben einen solchen Jungen wie Kolja gesucht habe. Einen Ausgestoßenen, einen Einzelgänger. „Ich habe meinen Jungen gesucht.“ Sie hat ihn gefunden, auch wenn er ein Lügner ist. Wenn er von seinen Eltern spricht, oder auch von seiner Flucht von zuhause. Die Regisseurin zählt vier Varianten auf, die Kolja uns als Gründe für die Flucht anbietet. Es ist offensichtlich, dass keine der Varianten wahr ist. Für sie spielt das aber keine Rolle. Das Entscheidende ist nur, dass Kolja nicht verlogen ist. Er lügt, ja, aber er lügt, weil er so lebt. Weil Kolja eben so ist.

Werner Dütsch fragt nach der Tonebene. Auch dort habe sich die Regisseurin Freiheiten genommen. O-Töne mischen sich mit Filmmusik, mit Musik im Film. Eva Neymann sieht das anders. Für sie seien das keine Freiheiten, sondern Selbstverständlichkeiten. Auch die Bedeutung, die den materiellen Dingen zugesprochen wird, sieht sie skeptisch. Sie akzeptiert die Metapherntheorie, beschreibt ihre Filmarbeit aber ausgehend von einer inneren Logik. Eva Neymann leistet Erinnerungsarbeit und daraus wird dann der Film. Der Realismus, ein Dokument, das habe nichts mit der Wahrheit zu tun. „Die Wahrheit ist die Art, wie ich mich an Dinge erinnere.“ Die Kamera und das Mikrofon seien objektiv. Sie stelle sich die Frage: „Wie würde ich mich daran erinnern?“ Das Antasten an diese Erinnerung ist ihre filmische Arbeit. Der Ton, der Schnitt, all die filmischen Ausdrucksformen sind Erinnerungsarbeit und lassen die Wahrheit erst entstehen. Evas Wahrheit. Die Regisseurin erzählt davon, dass sie nach den Dreharbeiten das Script noch einmal las und verblüfft feststellte, dass es große Ähnlichkeit mit dem letztendlichen Schnitt des Films hatte. „Ich wusste, dass da Chopin kommt.“

Werner Ruzicka greift den Begriff der Statistik wieder auf. Der Zuschauer fühle sich düpiert, weil ihm die sichere Seite in diesem Film verwährt würde. Die sichere Seite, das sind die Klischees und offensichtlichen Schrecken des Straßenlebens. Dieser Eindruck würde verstärkt, da man nur schwer nachvollziehen könne, wo der Film spiele. Man kenne Perspektiven auf Berlin, New York, Moskau, was Straßenkinder beträfe vor allem auch Bukarest, aber lange Zeit sei in Wege Gottes nicht klar, das Jura und Kolja durch Odessa streiften. Der Film entgehe diesem Offensichtlichen, es falle dem Zuschauer schwer, Bilder 1:1 aufzulösen. „Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann.“

Eva Neymann greift diesen Gedanken gerne auf und spricht von der Entheimatung und Verlorenheit der Kinder. Diese Entheimatung sei aber genau der Anfang von Herz und Wärme für die Kinder. Hieraus entstünden Juras und Koljas „Kapsel“, deren Freiheit.

Die Regisseurin kommt auf die Entstehungsgeschichte zu sprechen. Sie habe sich zuerst gewehrt, als die Produzentin Eva Maria Werth ihr diesen Film vorschlug. Es sei ihr zuwider gewesen, einen Film über die armen Strassenkinder aus der Perspektive des „satten Deutschen“ zu realisieren. Ein Diskutant wirft den Begriff des „Kolonialismus“ ein. Das Thema sei aber so hartnäckig auf sie zugekommen, dass sie den Film schließlich machen musste. Dabei war die oberste Maxime, den Kindern ihre Würde zu erhalten. Dies sei erreicht worden, indem sie durchgehend auf der Suche nach Wärme war. Auch wenn diese Wärme sich in deren Einsamkeit einstellt.

Werner Dütsch beschreibt einen magischen Moment. Es sei ein banales Bild. Die Straßenbahn und der Nachtverkehr Odessas werden stumm gezeigt. Es sei ein surrealistisches Verfahren, das dem Moment eine Ausstrahlung gebe, der ihm ursprünglich nicht innewohne. Eva Neymann verweist ein weiteres Mal auf ihre Filmarbeit als Erinnerungsarbeit.

Eine Diskutantin greift die magischen Momente auf. Sie beschreibt ein Bild, in dem die Kinder hinter einer Glasscheibe stehen und für uns erkennbar aber distanziert sind. Sie als Zuschauerin hätte sich damit abfinden müssen, die Kinder zu respektieren, sie aber nicht weiter kennen lernen zu können. Besonders das Ende des Films sei auch ein Beispiel dafür. Kolja läuft einen weiten Straßenzug entlang. Alleine, von der Kamera weg. Die Diskutantin nennt es „devastating“, aber liebevoll. Wir dürften eine Strecke mit den beiden gehen, müssten sie aber schließlich ziehen lassen.

Die Regisseurin bestätigt, dass sie auf ihrer Strecke begann, die beiden zu lieben, besonders Jura, der dann einfach verschwand und von dem sie noch oft träumte. Die beiden wieder gehen zu lassen sei schrecklich für sie gewesen. – „Andererseits, wie kann ich sonst Filme machen?“

Werner Dütsch fragt konkret nach den Lebensbedingungen des kleinen Kolja. Eva erzählt, er habe zwei Monate im Herbst in einer Hütte gelebt und sei auch im Herbst zum schwimmen ins kalte Meer gegangen. „Ein bisschen leiden für Film kann man schon!“

Werner Ruzicka beschreibt den existenziellen Optimismus von Wege Gottes. Kolja und Jura stehen auf dem Kontinent der Kindheit, den sie zwangsläufig verlassen werden. Für diesen Moment würden sie aber auf die Vorpubertät reduziert.

Eva Neymann greift das Thema auf. Sie wisse, dass die beiden Kinder keine Zukunft hätten. Sie wolle nicht daran glauben, aber sie wisse es. Vielleicht sterben sie bald, wahrscheinlich bekämen sie keine Ausbildung. Sicher würden sie keine Ärzte oder Festivalleiter von Beruf. Wenn sie das aber realisierten, würden sie sich wohl für den Freitod entscheiden. Dass die beiden das nicht erkennen, ist der Beweis, dass es egal sei, wie und wann man lebe. Der Sinn des Lebens sei das Leben selbst. Entscheidend ist, dass man sich Träume bewahre. Wenn man sich die Kraft zum Träumen erhalte, dann sei das Leben wertvoll. Auch Jesus sei ein Straßenkind gewesen, ohne Herberge, ohne Karriere. Eva Neymann bezeichnet sich als nicht religiös, aber als gläubig. In diesem Moment erklärt sich auch der Titel des Films. Wege Gottes. Er leite sich ab durch das Sprichwort „Gottes Wege sind unergründlich.“ Ein Diskutant stellt fest, dass es nicht leicht sei, auf Anhieb auf diesen Zusammenhang zu stoßen. Der Film habe das aber auch keineswegs nötig, fügt er abschließend hinzu.