Synopse
„Entweder man ist zu Hause, ist’n Knecht … oder du gehst raus und gehörst dazu.“ In der Hamburger Hochhaussiedlung herrschen Gewalt und Respekterwerb mit System. Die Nähe zu den Jungs lässt zu, dass Schwächen durch die vermeintlich harte Schale schimmern: Angst vor der Verhandlung, der Abschiebung, der Enttäuschung der Eltern.
Protokoll
Prolog
Eine langsame Annäherung an einen Vorort von Hamburg, Osdorf. Eine Autofahrt, die, so Ruzicka, an frühe, ethnografische Filme erinnert: Die aus dem Auto heraus gefilmte Ankunft an einem neuen Ort (dem „Negerdorf“) und draußen versuchen die Kinder (die „Negerkinder“) rennend mitzuhalten, im Bild zu bleiben. Mit Classens Film geht man also in eine unbekannte Gegend, „da, wo man noch nicht war“ (Ruzicka).
Nur durch den Dokumentarfilm möglich: Ankommen/ Da-sein
Am Anfang stand für Maja Classen die wage Idee, einen Film über Jugendliche zu machen. Sie ist bei ihren Recherchen auf den Verein „Gefangene helfen Jugendlichen e.V.“ gestoßen und wollte dessen Arbeit zu Beginn zum dramaturgischen Leitfaden ihres Films werden lassen. Doch dann konnten ihr Plan und ihr Exposé nicht wie ursprünglich geplant verfolgt werden, denn andere Sachen ergaben sich. Der Verein ist so ein Kapitel einer Milieustudie geworden, die zwei Jugendliche und ihre „Gang“ als Protagonisten führt. Die Regisseurin musste Überzeugungsarbeit leisten, sich von Journalisten abgrenzen, die von den Jugendlichen oft nicht mehr als bezahltes Posieren verlangen. Die Annäherung an Alican und Siar war für Classen nicht einfach, aber sie entschied sich dagegen, diesen Prozess zum dramaturgischen Zentrum des Films werden zu lassen. So sind die Zuschauer nach dem Prolog direkt da, in Osdorf.
Classen nimmt Bezug auf vorhergegangene Diskussionen von Eva Neymanns Film Wege Gottes und Volker Koepps Holunderblüte, in denen es auch um die Beziehung von Regisseur und Protagonisten ging. Nur wer seine Protagonisten liebt, „kann Dokumentarfilme machen, die ein Publikum berühren“. Eine Liebe, so Ruzicka, die immer auch vice versa, vom Protagonisten zur Kamera, funktionieren muss. Die Mädchen können in dem Film nur marginal vorkommen, da die Kontaktaufnahme durch Verbote ihrer Freunde oder Brüder erschwert wurde. Außerdem wird das Projekt des Vereins nur für Jungs angeboten, was den potentiellen Protagonistenkreis weiter einengte.
Nichtsdestotrotz, Mädchen werden thematisiert. Alican und Siar sprechen in drei Ebenen zu der Regisseurin. Sie machen deutlich, dass ihr Leben mit der „Jungsgruppe“ öffentlich ist und von der Kamera begleitet werden kann. Mit dem Team alleine sprechen sie anders, geben jedoch am wenigsten ausführlich Auskunft über ihr Verhältnis zu Mädchen, die für sie scheinbar zur dritten, intimsten Ebene dessen gehören, was sie zu erzählen bereit sind.
Aus dem Publikum fragt ein Diskutant nach dem „strategischen Sprechen“ der beiden, ihrer Inszenierung, nach den Grenzen des Gesagten. Classen erzählt, dass sie mit den beiden Protagonisten eine Verabredung getroffen hatte, die besagte, dass sie alles erzählen und ihre Anwälte anhand des fertigen Films überprüfen, ob sie für bestimmte Aussagen juristisch belangt werden können. Alican sei dennoch über seine eigene Offenheit erschrocken gewesen und habe sich, durch den Bruder beeinflusst, gegen Ende der Dreharbeiten immer weiter zurückgezogen.
Dann noch die Frage nach den Handybildern, die, so der Diskutant, an „Wiener Kunstvideos“ erinnern. Die Leerstelle der körperlichen Gewalt werde durch sie dargestellt, trotzdem bleibe für ihn die Frage nach der ästhetischen Entscheidung. Maja Classen erklärt, dass sie sich über die Frage der Darstellung von Gewalt lange Gedanken gemacht hat. Angebote der „Gang“, Schlägereien zu inszenieren hat sie nicht angenommen. Ein Testpublikum, das einen Rohschnitt ohne Handyfilme zu sehen bekam, empfand die Gewalt auf diese Weise filmisch nicht spürbar. Classens erste Begegnung mit Alican brachte sie auf die Idee mit den letztendlich verwendeten Bildern: Alican trat ihr als „Filmemacher“ entgegen und zeigte ihr („Guck mal hier, ich kann auch Filme machen.“) auf seinem Handy einen Film, in dem ein Mensch im Irak geköpft wird.
Aus dem Publikum kommt die Kritik, der Film zeige „nichts Neues“, man komme den Protagonisten nicht nahe, die Regisseurin hätte vielleicht zu wenig Zeit mit ihnen verbracht. Vergleiche zu Bettina Brauns Film Was lebst Du? (df 2004) werden gezogen, der als intensiver im Umgang mit den Protagonisten empfunden wird. Classen kennt den Film und sagt, dass ein direkter Vergleich aufgrund der unterschiedlichen Fokussierungen nicht möglich sei. Sie verfolge die kriminelle Laufbahn der Jugendlichen, die immer zwischen Scham und Stolz, oszilliere. Sie sei den Protagonisten nahe gekommen, habe aber auch von ihnen gesetzte Grenzen akzeptiert. So habe eine Familie ihr Veto gegen eine deutsche Fernsehausstrahlung eingelegt, das Classen nach Rücksprache mit dem Team natürlich akzeptiert.
Ruzicka führt den Gefängniswärter an, der mit der Pfeife im Mund zu einer „Normalität des bürgerlichen Gesetzbuches“ werde, die man so noch nie in einem Dokumentarfilm gesehen habe. Eine Figur, die so unglaublich ist, dass sie fast ausgedacht wirkt. Er beschreibt, so Ruzicka, das Gefängnis regelrecht als Vorhölle. Er sei, so Classen, ein sog. „Freizeitbeamter“, der zufällig als Ersatz für einen anderen Kollegen einsprang.
Epilog
Wieder eine Kamerafahrt aus dem Auto heraus. An der Ampel, so eine Diskutantin, das einzige Bild, das ihr etwas Neues erzählt habe: Zwei Jugendliche mit Masken verkleidet, der eine äfft die Gesten des anderen nach. Ein Junge rennt dem Auto nach, diesmal rückwärts. Vorher schon ein Teil des Abspanns. In kurzen Texten wird erläutert wann der Film gedreht wurde und was aus den Protagonisten in der Zwischenzeit geworden ist. Diese „günstigen Sozialprognosen“ (ein Diskutant) werden kritisiert, sie stünden im Widerspruch mit der Idee der Regisseurin, gerade die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen in Stadtteilen wie Osdorf zu zeigen.
Dennoch und nur durch den Dokumentarfilm möglich, das Publikum war da. In diesem von den Jugendlichen komplex erzählten Raum, so Gudrun Sommer, der ganz ohne Ghettoromatik auskommt.