Duisburger Filmwoche 30
SEHEN IST DENKEN
6. bis 12.11.2006

Festival Plakatmotiv

Grafik: Tilman Lothspeich

Preisträger:innen

3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

Hamburger Lektionen
von Romuald Karmakar

Eine reduzierte Versuchsanordnung, in der die Aufmerksamkeit auf keine dramatisierte Aktion, sondern auf die Binnenlogik einer Rede und die Dynamik einer sozialen Situation gerichtet ist. Was dabei anschaulich wird, sind die rhetorischen Muster und Strategien eines Predigers, die Überzeugungsarbeit leisten und Gefolgschaft fordern. Durch die inszenatorische Nüchternheit und die Souveränität des Redners – ein Schauspieler liest den Text in einem sparsamen Arrangement – zieht der Film den Zuschauer in seinen Bann und ruft dabei eine ambivalente Reaktion zwischen Faszination und Ablehnung hervor: Wir hören, was wir bisher nicht hören konnten, wir folgen einem Denken, das mitten unter uns propagiert wird. Der diesjährige 3sat-Dokumentarfilmpreis geht an Romuald Karmakar für Hamburger Lektionen.

ARTE-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

Il Palazzo
von Katharina Copony

Der von der ARTE-Jury prämierte Film dokumentiert städtische, architektonische, soziale, politische und individuelle Räume. Damit eröffnet er – und darin sehen wir seine besondere Qualität – einen eigenen gedanklichen Raum für den Betrachter.
Es geht um einen beeindruckend-monströsen Wohnkomplex vor den Toren Roms. Über dessen Dokumentation hinaus inszeniert der Film in großer atmosphärischer Dichte das Wohnsilo als eigenständigen Protagonisten. Das Gebäude bekommt gewissermaßen eine Stimme: Sie erzählt auf visuell und akustisch reiche Weise von Einzelschicksalen, von urbaner Planungspolitik, von sozialen Missständen – ohne der Architektur deshalb ihre Faszination abzusprechen. Gerade diese wird zur Herausforderung an die Fantasie und Energie der Bewohner, sich den monumentalen Palast anzueignen.
Der ARTE-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschen Dokumentarfilm geht an
Il Palazzo von Katharina Copony.

Förderpreis der Stadt Duisburg für den besten Nachwuchsfilm

Balkan Champion
von Réka Kincses

Eine Familiengeschichte, die untrennbar mit der politischen Geschichte eines Landes verknüpft ist. Die Tochter, zugleich Autorin des Films, begibt sich auf eine Spurensuche. Archivmaterial, summarische Inserts, ein persönlich gehaltener Off-Kommentar und bewegte Szenen aus dem Familienalltag verbinden sich zu einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Für diese gibt es so viele Lesarten wie Beteiligte. Davon bleibt auch das Filmprojekt nicht unberührt: Die Ausrichtung der Autorin und ihre Perspektiven auf die Eltern ändern sich. Mit Witz sowie erfrischender Direktheit kombiniert der Film diverse Verfahren der Wahrheitsfindung und erhält bis zuletzt die Spannung aufrecht. Der Förderpreis geht an Balkan Champion von Réka Kincses.

Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts

Die Unzerbrechlichen
von Dominik Wessely

Der Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts geht in diesem Jahr an einen Film, der sich durch eine klare formale Struktur und eine vielschichtige Erzählweise auszeichnet.
Er ist humorvoll, ohne ins Ironische zu verfallen, poetisch, ohne kitschig zu sein und fesselt, ohne inszeniert zu wirken.
Auf der Erzählebene wird aus unterschiedlichen Lebenswelten eine stimmige Handlung komponiert. In diesem Rahmen agieren die Protagonisten beeindruckend offen und authentisch.
Auf der Bildebene wechselt der Film harmonisch zwischen einer bewegten dokumentarischen und einer ruhenden kunstvollen Kameraführung. Erzähl- und Bildebene werden dabei von einer stilsicher eingesetzten Musik unterstützt.
Die heutige Arbeitswelt ist durch den Verlust von sozialen Bindungen und ökonomischen Sicherheiten gekennzeichnet. In diesem allgemeinen Trend lassen sich auch andere Geschichten finden. Dies gelingt in einer durchweg positiven Haltung dem Film Die Unzerbrechlichen.
Wir gratulieren dem Filmemacher Dominik Wessely und seinem Team für einen Film, der Mut macht.

Publikumspreis der Rheinischen Post

Balkan Champion
von Réka Kincses

Jurys

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Hans-Dieter Grabe (Münchwald)
Birgit Kohler (Berlin)
Brigitte Werneburg (Berlin)

3sat-Dokumentarfilmpreis

Joachim Huber (Berlin)
Alexandra Seibel (Wien)
Michèle Wannaz (Zürich)

Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts

Nicolai Petersen (Goethe-Institut Johannesburg)
Farid C. Majari (Goethe-Institut Ramallah)
Gerda Mentink (Goethe-Institut Amsterdam)
Frank Werner (Zentralverwaltung München)
Susanne Ponn-Rassmann (Zentralverwaltung München)

Kommission

Werner Dütsch
Geboren 1939. Kindheit, Jugend und Schulen im Rheinland und im Ruhrgebiet. Arbeit in der Chemieindustrie, in Filmclubs, Filmtheatern und der Kinemathek in Berlin. Über drei Jahrzehnte Redakteur beim WDR: Filmprogramme, Produktion von Filmsendungen und Dokumentarfilmen – bis 2004. Dozent an der Kunsthochschule für Medien Köln.

Margarete Fuchs
Geboren 1965. Gärtnerlehre, Studium Foto-Film-Design FH-Dortmund, Rechercheaufträge für Dokumentarfilme und Entwicklung von Dokumentarfilmstoffen. Freie Autorin und FilmemacherIn. 1994 „Eupen“, 1995 „Alps“, 1996 „Gretchens Stube“, 1997 „Letter to N.Y“, 2003 „Für den Schwung sind sie zuständig“.

Barbara Pichler
Geboren 1968. Studium der Theater- und Filmwissenschaft an der Universität Wien, Film & TV Studies an der University of London/BFI. Seit 1995 im Film- und Medienbereich als Kuratorin, Publizistin, Lektorin und Übersetzerin tätig. U.a. Katalogredakteurin der „Diagonale. Festival des österreichischen Films“ (2004–2006); Co-Kuratorin der Film- und Vortragsreihe moving landscapes (November 2004, Österr. Filmmuseum, Wien) sowie Co-Herausgeberin der gleichnamigen filmwissenschaftlichen Essaysammlung (Wien 2006); arbeitet zur Zeit an einer James-Benning-Monografie. Lebt in Wien.

Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Arbeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.

Gudrun Sommer
Geboren in der Steiermark. Studium der Philosophie in Graz und Bochum. Mitarbeit bei verschiedenen Film- und Fernsehfestivals wie der International Public Television Screening Conference, den Kurzfilmtagen Oberhausen und dem Forum der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Konzeptionen für Filmreihen (Hartware Projekte, Dortmund: 2001 „passengers – dokumentarische Positionen beim Anblick der Grenze“, 2002: „was bisher geschah: erinnerungstechniken im dokumentar- und experimentalfilm“) und Ausstellungen (u.a. G.R.A.M., Peter Piller, thanatotronics) für die Duisburger Filmwoche. Gelegentlich Beiträge für das Feuilletonmagazin „Schreibkraft“, zur Zeit redaktionell für den Themenschwerpunkt „Mitte“ tätig. Seit 2001 Projektleitung von „doxs! Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche“.

Fred Truniger
Geboren 1970. Studium der Filmwissenschaft und Germanistik an den Universitäten Zürich, FU und HU Berlin. Ab 1992 Mitarbeiter des Int. Film-, Video- und Multimediafestivals VIPER Luzern und dort 1995 Gründer und Leiter des Multimedia-Programmes. Konzeption von Filmprogrammen und Symposien u.a. des Sonderprogrammes „Nützliche Bilder“ an den Kurzfilmtagen Oberhausen 1998. Seit April 2001 Assistent am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich, Lehr- und Forschungsbeauftragter im Bereich filmischer Raum- und Landschaftswahrnehmung.

Filme

jeder schweigt von etwas anderem (Marc Bauder, Dörte Franke | DE 2006)
Kapusta – ein Bewegtbildportrait (Bozena Leschczyk | DE 2005)
Jaba (Andreas Bolm | DE 2006)
Black Sea Files (Ursula Biemann | CH 2005)
Balkan Champion (Réka Kincses | DE 2006)
Nicht mehr (Karin Jurschick | DE 2006)
Hippie Masala – Für immer in Indien (Ulrich Grossenbacher, Damaris Lüthi | CH 2006)
Il Palazzo (Katharina Copony | DE/AT 2006)
ALMfilm (Gundula Daxecker | AT 2006)
Babooska (Tizza Covi, Rainer Frimmel | AT/IT 2005)
Im Glück (Neger) (Thomas Heise | DE 2006)
DOCH (Erwin Michelberger, Oleg Tcherny | DE 2006)
über das regie führen (Josie Rücker | DE 2006)
Sonnenhalb (Martina Fischbacher | CH 2006)
Hamburger Lektionen (Romuald Karmakar | DE 2006)
Businessman (Stanislaw Mucha | DE 2005)
Thomas Harlan / Wandersplitter (Christoph Hübner | DE 2006)
Laufhaus (Stefanie Gaus | DE 2006)
Aus der Ferne (Thomas Arslan | DE 2006)
Keine Insel – Die Palmers Entführung 1977 (Alexander Binder | AT 2006)
Eine Million Kredit ist normal, sagt mein Großvater (Gabriele Mathes | AT 2006)
Unser täglich Brot (Nikolaus Geyrhalter | AT 2005)
Aber den Sinn des Lebens hab’ ich immer noch nicht herausgefunden (Jan Peters | DE 2006)
Mutterstücke (Johanna Straub, Sandra Kulbach, Nan Mellinger, Michaela Schäuble | DE 2006)
Losers and Winners (Ulrike Franke, Michael Loeken | DE 2006)
Die Unzerbrechlichen (Dominik Wessely | DE 2006)

Extras

Ich muss nicht Angst vor Bomben haben. Der Dokumentarfilmer Hans-Dieter Grabe (Bodo Witzke)

Bericht aus Wien: Dziga Vertov

Dienstbare dokumentarische Bilder: Das Werk des Industriefilms

Dann klappts auch mit den Nachbarn. Podiumsdiskussion u.a. mit Elisabeth Büttner, Vinzenz Hediger, Alexander Horwath

Karambolage

Ruhrwerk – Ein Portrait (Klaus Armbruster | DE 2005)

Motto

SEHEN IST DENKEN

Der Betrachter macht die Bilder

Was wird noch sichtbar in all den Bildern, die uns alltäglich zur Illustration, Erläuterung und Milderung der Wirklichkeit verabreicht werden? Meist sind es ja die ominösen „Formate“, in welche die bunten Weltbilder eingekittet sind. Das schafft auf den ersten Blick Ordnung und Vertrautheit. Für den zweiten Blick ist ohnehin keine Zeit, weil – das Programm geht ja weiter, wie das Leben.

Aber manches Bild, manche Sequenz hält sich doch fest in uns. Man wird nachdenklich und weiß dann wieder, was ein Bild, ein Film sein kann. Etwas außerhalb von Meinung und Behauptung, Überredung und Übertrumpfung. Etwas, das die Wirklichkeit und damit die Zuschauer ernst nimmt.

Nach dieser Idee sind die Filme der diesjährigen Filmwoche ausgesucht und zusammengestellt. Und wir hoffen, dass im gemeinsamen Sehen und Sprechen wieder jene Räume zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren entstehen, in denen sich das besondere filmische Denken einstellt: Denn was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt. Und umgekehrt.