Film

Kurz davor ist es passiert
von Anja Salomonowitz
AT 2006 | 72 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 31
06.11.2007

Diskussion
Podium: Anja Salomonowitz
Moderation: Hilde Hoffmann
Protokoll: Aycha Riffi

Synopse

Der Versuch, individuelle Schicksale von Betrug und Erpressung im Frauenhandel von Personen erzählen zu lassen, die mit dem Ereignis in Zusammenhang stehen könnten, aber nicht die Leidtragenden sind: Ein Zöllner, eine Dorfbewohnerin, ein Bordell-Kellner, eine Diplomatin und ein Taxi-Chauffeur. Der Verfremdungseffekt legt neue Sichtweisen frei. 

Protokoll

Fünf Geschichten, fünf Orte, fünf Personen/DarstellerInnen: An der Grenze. In der Nachbarschaft. Im Bordell. Im Konsulat. Im Taxi.

Geschichten:

Mit ihrer Recherche begonnen bat Anja Salomonowitz beim Verein Lefö (Verein Lefö – Beratung, Bildung und Begleitung für Migrantinnen). Dort hat sie Frauen kennen gelernt, deren Erlebnisse Grundlage für die im Film erzählten Geschichten sind. Die aufgezeichneten Gespräche wurden transkribiert und dann für das Drehbuch zu fünf Geschichten zusammengestellt Es sind Originaltexte, die aber auch vermischt wurden. Die Frauen selbst sollten nicht vor die Kamera- so Vereinsphilosophie von Lefö und Konzept von Salomonowitz.

DarstellerInnen:

Statt mit Schauspielern hat Solomonowitz lieber mit Laiendarstellerinnen gearbeitet. Sie hat einen Zöllner erfunden und dann einen Zöllner gesucht, der einen Zöllner spielt. Einen Menschen, in dessen Umfeld die Geschichte passiert sein könnte, jetzt passiert oder passieren wird. Die Lebenswelt der Darstellerinnen fand wiederum Eingang in die Filmerzählung: Es sind zum Beispiel der private Raum, die (Haus-)Schildkröten des (Darsteller-)Zöllners im Film zu sehen. Die gecasteten Darsteller haben so teilweise ihren eigenen Alltag nachgespielt.

Konzept:

Allen Erlebnissen der Frauen lag etwas strukturell Verbindendes zu Grunde – und das war nicht ihre Naivität. Salomonowitz wollte und will die Bedingungen, die zu den Erlebnissen der Frauen geführt haben, freilegen. Das im Film besprochene „Tänzerinnen-Visum“ zum Beispiel, das es in Österreich wirklich gab: Die Frauen waren extrem erpressbar und „alle wussten davon“. Ähnlich verhält es sich mit dem Gesetz, dass eine ausländische Frau mindestens vier Jahre mit einem ‚Inländer‘ verheiratet sein muss, um eine Aufenthaltsgenehmigung in Österreich zu erhalten.

Mit der Trennung der Erlebnisse/Geschichten der Frauen von den Frauen selber, will Salomonowitz die Machtverhältnisse aufdecken und gleichzeitig dokumentarische Vergehensweisen hinterfragen. So entstand eine spezifische Art der Erzählung: Fiktionale und dokumentarische Konventionen und Elemente wurden benutzt und Oberlagern sich. Ob das Thema dies verlangt, kann Salomonowitz so nicht beantworten.

Emotionale Perspektive und politischer Gestus:

Salomonowitz woUte zwei Filme gleichzeitig erzählen; der zweite Film, so hofft sie, entsteht zwei Meter vor der Leinwand: „Der Film sind die Bilder im Kopf.“ KURZ DAVOR IST ES PASSIERT soll Raum lassen für die „Gedanken des Zuschauers“, gleichzeitig aber immer die Stimmung transportieren: „Trafficking ist hier und anwesend“. Mit einem (auch gecasteten) ‚Werbekameramann‘ entwickelte sie ein Bilder- und Kamerakonzept dazu: So gibt es im Film einerseits statische, glatte und sehr farbige Bilder und Sequenzen, andererseits „schleichende“ Bilder einer bewegten „subjektiven“ Kamera. Die Szenen wurden viermal gedreht und dies sogar mit zwei verschiedenen Kameras, um viel ausprobieren zu können. Eine Kamera wurde einfach an einem „Stangerl“ befestigt. Die subjektive Kamera, sollte das Gefühl entstehen lassen, dass „das Böse immer und Überall lauert“, so Salomonowitz. „Etwas ist da, das man nicht wahrnehmen muss, aber es ist ja da.“

Auch im Schnitt, der insgesamt ein Jahr gedauert hat, wurde diese Stimmung weiter verfolgt Es gab auch eine 52minütige Version, ganz ohne Darsteller, die aber nicht funktioniert hat. Zwischen den einzelnen Geschichten zu schneiden, war ebenfalls nicht möglich, allein schon durch die Ich-Erzählungen, die dann nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren. Dass der Taxifahrer bereits vor der Geschichte IM TAXI zu sehen ist, ist ein Überbleibsel der alten Schnittversion.

Für den Sound hat Salomonowitz „Klangwolken“ konzipiert, die den Text untermalen, „auch wenn man sie manchmal gar nicht wahrnimmt“. Eine dieser Klangwolken sind zum Beispiel die Kinderstimmen, wenn in der Szene aus IN DER NACHBARSCHAFT vom Kinderfest die Rede ist.

Spiegelt der Film die Realität von Trafficking wieder, beziehungsweise macht der Film diese Realität sichtbar und hörbar? Salomonowitz sagt, dass im Film zum Beispiel die Arbeit von Lefö sichtbar gemacht wird. Die Premiere in Wien wurde auch durch eine Infoveranstaltung begleitet und hat dort politischen Einfluss erreicht. Leider wird die Vokabel ‚Frauenhandel‘ immer mit ‚Illegaler Immigration‘ ausgesprochen, obwohl die daran verdienenden Schlepper ja nur „der Auswuchs, der Pilz“ des Problems sind, so die Regisseurin. Es wird viel Ober das Thema gesprochen und dass hilft wiederum den Politikern, die dieses Grenzsystem aufrecht erhalten wollen. Salomonowitz sieht in diesem Zusammenhang auch ihren Film kritisch.

Projektionsfläche oder ZuschauerfUhrung?

Durch den Sound, durch die Kamera, so wird angemerkt, wird der Zuschauer stark geführt. Salomonowitz betont eher das Konzept, dass die Menschen als Menschen wahrgenommen werden sollen, aber gleichzeitig zum ‚X‘ werden: „Die Nachbarin ist Fläche und eine Nachbarin.“ Die Personen haben eine Metafunktion; sie sind Meta-Protagonisten, so führt sie aus.

Bei den bisherigen Vorführungen des Films, sei es vor den Frauen, deren Erlebnisse im Film Eingang gefunden haben, sei es vor Festivalpublikum, bat Salomonowitz die gute Erfahrung gemacht, dass ihr Konzept verstanden wurde.