Synopse
T.H.: Autor und Regisseur, geb. 1929. Lebensstationen: Berlin, Paris, Polen, Italien. Harlan ist ein großer Erzähler. Was er für uns vergegenwärtigt: Hitler, das Kriegsende, den Kampf gegen die Kriegsverbrecher in Amt und Würden, die prekäre Faszination des Kommunismus. Und natürlich und trotzdem: Die Liebe zum Vater.
Protokoll
Ein Hospital am Obersalzberg, der in den Augen des Protagonisten wie eine Landschaft in Zentralchina wirkt, gleichzeitig aber seiner historischen Einordnung nicht entgehen kann. „Hitler könnte hier reingucken“.
Zu Beginn eine Verortung durch Werner Ruzicka, Thomas Harlan/Wandersplitter als ein weiteres Portrait in der „Menschengalerie“ von Christoph Hübner und Gabriele Voss zu lesen, die sie mit der Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alfons S. (df ́78) eröffneten. Diesmal jedoch „Kinder und Enkel“ als Oberthema und Projektidee von Hübner. Die nachfolgenden Generationen denken über die (Nazi-)Zeit nach, in der ihre Eltern oder Großeltern gelebt haben. Mit dieser Idee im Hinterkopf stößt der Regisseur auf einen Artikel über Thomas Harlan und fährt spontan nach München um ihn dort anlässlich einer Retrospektive seiner Werke zum ersten Mal zu treffen.
Harlan stimmt einem Film über sich zu, will aber seine Biographie in keiner linearen Erzählform darlegen, sondern eher „wenn überhaupt um etwas herum, von einzelnen Splittern sprechen“. Erzählen vom „ich“ ohne „ich“. Verweigerung und eine eigene BiographieTheorie. Die Neugier, wie das gehen kann, erklärt Gabriele Voss, hat sie die Moskauer Erzählung, die zu einer Allegorie des Erzählens überhaupt wird, an den Anfang des Films stellen lassen. Harlan wird so weniger zu einem Zeitzeugen als zum Erzähler, der dichtet und verdichtet und dabei sehr präzise bleibt, „er sagt genau das“ (Ruzicka).
„Oral history“ wird als ein Konzept der Konstruktion von Geschichte in den Raum geworfen. Der Zuschauer werde wieder zum Zuhörer gemacht, er höre eine Stimme. Doch Christoph Hübner spricht eher von der Methode des „Bio-Interviews“, für eine Klassifizierung als „oral history“ berge die Erzählung Harlans zu viele fiktionale Elemente. Das „Bio-Interview“ kann über die erzählte Biographie eines einzelnen die Geschichte eines ganzen Landes konstruieren helfen. Alexander Kluge zitierend („Der Film entsteht im Kopf des Zuschauers“) erklärt der Regisseur seine Entscheidung, auch formal weniger ein Zeitzeugenportrait gedreht zu haben als vielmehr eine Erzählung. Er sitzt Harlan wortwörtlich gegenüber und hört ihm zu.
Die Erzählung, ihr Erzähler, ist genau verortet. Das Krankenzimmer am Obersalzberg. Einen Meter zwischen ihm und der Kamera. Das Außen nur als Blick aus dem Fenster.
Neben dem Ort die Zeit. Für Christoph Hübner bestimmt in Harlans Erzählungen die Zeit der Erinnerung ihre Haltung. Das Kriegsende, seine Begegnung mit Hitler, schildert er aus der Sicht des Kindes, das er damals gewesen ist.
Der Begriff „Meistererzählung“ wird in den Raum gestellt. Es wird nach der Macht gefragt, die durch die Inszenierung Harlans auf die beiden Filmemacher gewirkt hat. Beide verweisen auf die Prozesshaftigkeit des Drehens, die sichtbare, ständige Reflektion des Filmemachens. In einem ersten Treffen mit ihren Protagonisten wurde das Thema, wurden die Splitter ausgebreitet. In weiteren kam es zur Vertiefung und Ergänzung dieser „Wandersplitter“.
Um der rhizomatischen Struktur dieser „Erzählung ohne ich“ gerecht werden zu können, planen Gabriele Voss und Christoph Hübner eine vierstündige DVD. Die Reihenfolge und Auswahl der einzelnen Splitter soll individuell programmierbar sein. Dabei werden auch verschiedene Variationen einer Erzählung berücksichtigt. Diese werden jedoch nicht mit der Dichotomie „wahr oder erfunden“ interpretiert. Jedoch, so gibt Gabriele Voss zu, schienen die Erzählungen zu Beginn zu unglaublich, so dass sie zur Überprüfung einiger Fakten ein Personenlexikon zum Dritten Reich kaufte.
Es wird gefragt, wie es Thomas Harlan im Moment gehen würde. Christoph Hübner berichtet, dass es während der Dreharbeiten jedes Mal zu einer Verbesserung seines Gesundheitszustandes kam. Das therapeutische Moment des Filmens.
Harlans Arbeit als Verfolger von Naziverbrechern, die zu ungefähr 1500 Strafanzeigen führte, wird thematisiert. Nachfragen kommen, besonders zu dem Fall des Oberstaatsanwalts Schlüter, mit dem (und nicht nur mit ihm, sondern mit seinen gesamten Nachforschungen) er bricht, als er erfährt, dass dieser in Russland als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt ist. Werner Ruzicka macht auf eben diesen einzigen Moment im Film aufmerksam, an dem Harlan eine Überforderung zugibt. Eine Flucht vor der möglichen Versöhnung mit dem Vater, den Eskapismus, den Ruzicka Harlans kontingenter Biographie unterstellt, weist Gabriele Voss zurück. Harlan habe, im Gegensatz zu vielen anderen, seinen Nachnamen nach dem Ende des Krieges nicht geändert. Er bezeichne sich im Film selber als „den Sohn eines Nazihenkers“.
Wieder wird, auch in Bezug auf die Diskussion von Karmakars Hamburger Lektionen, die „Macht der Rede“ thematisiert. Eine Diskutantin fragt nach der Position von Hübner und Voss gegenüber Harlans Monolog. Gabriele Voss antwortet, dass eine Öffnung, die von anderen Diskutanten so bezeichnete performative Erzählweise Harlans, ohne die Resonanz des anwesenden Filmteams nicht möglich gewesen wäre. Eine wechselseitige Beziehung baue sich auf, die nicht nur eine sprachliche Ebene habe. Voss spricht von „Schwingungen“. Zu Beginn habe sich Harlan abgegrenzt, klar definiert was er nicht wolle. Im Laufe der Dreharbeiten sei daraus jedoch ein gemeinsames Erarbeiten der Splitter geworden.
Thomas Harlans Erzählungen als Wandersplitter, die sich von ihm zu Gabriele Voss und Christoph Hübner bewegen, von ihrem Film zu uns und irgendwann Unruhe stiften werden.
Landschaftsbilder, die nicht als Zwischenbilder die Kapitel unterteilen. Zusätzlicher Raum zum Nachklingen, wechselnde Jahreszeiten und Wetterlagen erzählen.