Film

Nicht mehr
von Karin Jurschick
DE 2006 | 30 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 30
07.11.2006

Diskussion
Podium: Karin Jurschick
Moderation: Barbara Pichler, Fred Truniger
Protokoll: Andrea Reiter

Synopse

Der Vater ist gestorben. Es beginnen die notwendigen wie schmerzhaften Prozeduren: Das Einsargen des Verstorbenen, das Ausräumen der Wohnung. Nach und nach verschwindet das Mobiliar, der Körper erhält sein letztes Gewand – am Ende nur noch leere Räume, der Sarg wird geschlossen. 

Protokoll

Das „Nicht mehr“ eines Menschen führt unweigerlich zur Frage „was bleibt?“ – aber auch „was bedeutet Sterben?“ – „was ist der Körper?“ – und für Karin Jurschick konkret: „was ist der Vater?“

Nicht mehr ist „ein letzter Film“ über den Vater von Karin Jurschick, der für regelmäßige df- Besucher nicht ohne ihren Danach hätte es schön sein müssen (df ́01) zu lesen ist. Und doch versteht sie den Film nicht nur als Teil einer Reihe, als Epilog, sondern auch als etwas Eigenständiges. Denn der Tod ist etwas Eigenständiges, etwas „von Gewicht“ – er hat ein eigenes Gewicht.

Für Nicht mehr legte sie den Fokus auf den Tod des Vaters, denn Karin Jurschick wollte nicht noch einmal die Familiengeschichte aufrollen, keinen zweiten Film über den lebenden Vater machen. Die Wohnungsauflösung hatte sie aufgenommen, ohne bereits an einen neuen Film zu denken. Doch als der Vater „noch einmal schön gemacht“ wurde, war ihr die Basis für diesen Film klar geworden. Erinnerungsbilder – einige noch zu Lebzeiten des Vaters aufgenommene Sequenzen – scheinen auf wie fragmentierte Erinnerungen, die jeden ergreifen, der mit dem Tod konfrontiert ist. Durch sie wollte die Autorin bewusst der Narration „erst lebend – dann tot“ entgegentreten.

Dass der Ton im Laufe des Films lauter und intensiver wird, dass die Bestatter zu sprechen beginnen, die Möbelpacker zu pfeifen anfangen und die Filmemacherin am Ende gar „einen Kameraflug“ mit brummenden Geräuschen durch die Wohnung vollführt (als befreiendes Moment vielleicht), ist kein Trick in der Tonmontage, sondern eher den Situationen geschuldet: die anfänglich eher verunsichernde Situation für die Handwerker, dass die Tochter das Ausräumen der väterlichen Wohnung wie auch das Ritual des Ankleidens des Toten filmen wollte, löste sich mit ihrem eigenen Ruhigerwerden – indem sie mit der Kamera in einen Prozess des Arbeitens eintauchte. Fred Truniger fühlt sich durch die Erzählstruktur suggestiv gelenkt, das leerer Werden der Räume als eine Rückkehr des Lebens in die Wohnung lesen zu müssen. Natürlich schwingt ein Neuanfang mit – aber Karin Jurschick hat die Erzählung nicht unbedingt so angelegt.

Dem Bild der venezianischen Gondeln, das immer über dem Esszimmertisch gehangen hatte, und mit ins Pflegeheim kam, kommt für Karin Jurschick als „Übergang im doppelten Sinne“ eine besondere Bedeutung zu. Für Werner Ruzicka schwingt ein mythologisches Moment mit, denn er fühlt sich durch die Gondeln an den Acheron erinnert. Seine Frage zielt sodann auf den toten Körper, den unbeseelten und so nah gezeigten, ob dies nicht schwierig für Karin Jurschick gewesen sei? Natürlich. Aber sie hatte sich für den Abschied vom Vater Zeit genommen, bevor die Bestatter mit dem Ankleiden angefangen hatten, und sie zu drehen begann. Dann ruhte das gefilmte Material ein Jahr lang, bevor sie sich ans Werk machte.

Wer von der Vorgeschichte der Autorin nichts wusste, erlebte den Menschen als Toten unmittelbar, und baute erst durch den Film ein Verhältnis zu ihm auf. Jemand durchlebte ein Wechselbad der Gefühle, fühlte sich durch die Bilder an den eigenen Vater und dessen Tod erinnert. Im Publikum stellt sich die Frage, ob die Herangehensweise Karin Jurschicks eine formale Reduktion und ein rein weltlicher Zugang sei, der das Materielle bewusst ohne metaphysische Überlagerung zeige oder ob der Zuschauer gerade durch die nüchterne Beobachtung des Körpers trotzdem eine Nähe aufbauen könne, wobei ihm die Unfasslichkeit des lebenden und toten Vaters vor Augen geführt werde. Oder verbirgt sich hinter der Darstellung eine Provokation? Die Cutterin Anke Schäfer meint, dass im Kamerablick die beseelte Anwesenheit gelesen werden kann. Das Aufnehmen deutet sie als Ritual, und dabei keinesfalls als nüchterne Herangehensweise. Woraufhin Fred Truniger das Moment der Pietät hervorhebt, das erhalten bleibe, auch wenn das Ritual nicht religiös konnotiert sondern institutionalisiert gelesen werde. Das Thema der Schamgrenze wird aufgegriffen, die eingehalten worden sei, da der Vater innerhalb der ritualisierten Handlung immer feierlicher werde.

Karin Jurschick ist erleichtert, dass ihre Annäherung an den Vater vom Publikum in vielen unterschiedlichen Facetten wahrgenommen wird. Denn Nicht mehr ist für sie zugleich eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema Tod, dem sie sich nicht anders hätte nähern können als durch den eigenen Vater. Der eindringliche Blick auf das ritualisierte Ankleiden ermöglichte es ihr, den Toten eingehend zu zeigen.

Karin Jurschick hat den Film ohne eine Redaktion oder eine Förderung realisiert, was ihr größtmögliche Freiheit gewährleistete. Dieser Weg war für sie befreiend, denn sie hatte das Gefühl den Film Nicht mehr in dieser Form nicht mit einer Redaktion machen zu können. Aus dem Publikum kommt das Votum, dass sich schwerlich jemand finden ließe, der in eine finanzielle Begleitung des Sterbens einwillige – das sei ein zu persönliches Thema…

Symbolik der Bilder und Töne. Das Ohr, die Gondeln, das Rauschen des Wassers. Sie wecken Assoziationen. Das Ohr, als höre es noch, höre ein letztes Mal das Leben vorbeirauschen, oder als höre es gerade als totes Ohr nichts mehr, auch nicht das Plätschern, das das Lebende bedeute. Und als gruselige Assoziation führt es zur Fiktion: David Lynch ́s Blue Velvet.