Film

Im Glück (Neger)
von Thomas Heise
DE 2006 | 87 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 30
08.11.2006

Diskussion
Podium: Thomas Heise, Peter Badel (Kamera)
Moderation: Barbara Pichler
Protokoll: Andrea Reiter

Synopse

Berlin 1999 bis 2005. Fünf Jugendliche auf ihrem Weg voller Enttäuschungen, Träume und Fragen. Doch wohin führt dieser überhaupt, überlegt Sven, einer der Protagonisten. „Es gibt einfach nichts mehr, was jetzt noch kommt.“ Eine fragmentarische Langzeitbeobachtung.

Protokoll

Das Fragmentarische blitzt im Film als strukturgebendes Moment auf. Deshalb eröffnet Barbara Pichler die Diskussion mit der Frage nach der Entstehungsgeschichte und den Hintergründen.

Thomas Heise wollte einen Film machen, in dem er das Erwachsenwerden junger Menschen über einen längeren Zeitraum begleitet. Notizenartig, ähnlich der archäologischen Arbeit des Scherben-sammelns wollte er Situationen einfangen und sie zu einer Art Erinnerungsbild zusammenfügen. Archäologisches Sammeln – Zusammenfügen verschiedener Formate, unterschiedlicher Blicke und Sichtweisen. Es gab kein Konzept, sondern den Willen, das Filmmaterial, das Heise als „Notizen“ während eines Theaterprojekts mit Jugendlichen in Marzahn von Maxim Wolfram auf DV hatte drehen lassen – seine ersten „Scherben“ des Films – weiterzuführen.

Eine nicht chronologische Auswahl weiterer Scherben: Als Sven zur Armee geht ist für Heise klar, dass er ihn während der „merkwürdigen Ballettveranstaltung“ drehen wird. / Ein Mädchen taucht auf, eine Freundin von Sven, und sie verschwindet ebenso unerwartet. / Auf der Suche nach Finanzierung des Projekts dreht Heise mit Badel – wieder im Sinne der Notiz – diesmal auf 35mm. / Ein für Heise großartiges Graffiti an einem Berliner S-Bahn- Bogen fragt: „Was ist Zeit?“

Zugfahrten und Baustellen sind wiederkehrende Motive, ebenso die vielseitige Auseinandersetzung mit Zeit. Die Protagonisten auf dem Weg des Erwachsenwerdens sind unterwegs. Sie bewegen sich auf Schienen. Der Film sollte keinen Ort beschreiben, sondern mit gewisser Zufälligkeit die Bewegungen aufzeigen und die Orte nur streifen, nie konkretisieren. Zugleich gibt es in der Zusammenarbeit von Heise und Badel tradierte, methodische Elemente, die auch in Im Glück (Neger) wieder auftauchen sollten.

Heise vergleicht seinen Vaterland (df ́02) mit diesem Film: Ging es damals um die Überlagerung verschiedener Zeiten, findet in Im Glück (Neger) ein Kreisen um die Zeit statt.

Im aktuellen Film verzichtet Heise bewusst auf jegliche Interviews. Hierin sieht er eine für ihn ganz wesentliche Neuerung, die auf der Tatsache beruht, dass ihm die Menschen heutzutage viel zu medienkompatibel sind und dementsprechend uniforme, konventionelle und vorgefertigte Antworten in einem unflexiblen Frage-Antwort-Rahmen liefern. Heise wollte etwas finden, was das durchbricht – und versuchte es mit vorgetragenen Briefen und literarischen Texten und ganz wesentlich durch das Zeigen von Situationen, in denen seine Protagonisten agieren und dadurch viel mehr aussagen als sie es je durch eine reflektierte Äußerung gekonnt hätten.

Dazu weitere Scherben: Sven liest seinen an den Vater verfassten Brief vor, der an sich schon sehr stark ist; er läuft aus dem Bild und gibt der Kamera sein Bild im Spiegel preis. / Eine Filmnotiz in schwarz-weiß aus der Zeit des Theaterprojekts: Thomas Heise im Gespräch mit dem Jugendlichen Thomas, auf dem die Kamera ruht, während er ausführlich über sein persönliches Dilemma der Ausweglosigkeit klagt, wenn er nicht schnellstmöglich in der Schule ranklotze. Heise außerhalb des Bildes ist einzig an dem Weiterführen der Theaterarbeit interessiert. / Thomas einige Jahre später: Er hockt in seinem Zimmer auf dem Boden, spielt mit einem Spielautomaten und mit seiner Katze – und es zeigt sich, dass seine eigenen Befürchtungen eingetroffen sind. / Sven liest einen Brief an seine Freundin – neunzig hat er für sie verfasst und keinen abgeschickt, bemerkt er. / Lena will Schauspielerin werden, aber keinesfalls etwas vor der Kamera kundtun – was wir jedoch im Film so nicht erfahren. Sie tritt der Film- mit ihrer Fotokamera entgegen und liest aus einem von Thomas Heise vorgeschlagenen Text von Lautréamont – er enthält Verweise auf die Situation der Protagonisten. – Solche Scherben wurden mit allen Protagonisten gedreht, Svens waren für Heise am eindrücklichsten.

Durch Sven ereignet sich auch das Ende des Films. Heise hatte die Idee, Sven eine Kamera zu kaufen, damit er gewisse Szenen selber aufnehmen könne. Doch das überforderte ihn total, berichtet Heise. Im Laufe der Zeit wurde Sven immer weniger klar: ging es nur noch um den Film oder war da noch eine freundschaftliche Beziehung? Heise schlug daraufhin vor, dass Sven ihm einen Brief schreiben sollte und erhielt den mit Ehrgeiz und doch so vielen Brüchen vorgetragenen Brief als Video-Botschaft. Heise schlägt eine Lesart vor: Sein Film macht ein Feld auf und endet in diesem Brief mit einer „eingebauten Filmkritik“. – Sven spricht u.a. davon, dass Heise nur auf Bilder reagieren könne, die er von ihm sehe, nicht aber wisse, was in seinem Innersten vor sich gehe.

Thomas Heise fand seine Protagonisten durch Theaterprojekte, die er realisiert hatte. Sven, eine wesentliche Figur in Im Glück (Neger), hatte der Autor bereits 1995 bei seiner Theaterarbeit mit Jugendlichen im Berliner Ensemble kennengelernt. In einer späteren Inszenierung von Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome in Marzahn teilte er Sven, mit dem er den Kontakt gehalten hatte, die Hauptrolle des Aaron zu, und fand hier auch seine anderen Protagonisten.

Die Aggressivität des Tons fällt auf. Mal sieht man sehr ruhige Bilder, dann wiederum sind sie so laut, dass jegliche Sprache der Protagonisten unterdrückt wird. Da stellt sich die Frage, ob der Autor beim Zuschauer bewusst Aggressivität provozieren wollte? Thomas Heise hat den Ton so verwendet, wie er sich manchmal konkret ergab, z.B. in der Übersteuerung des DV-Materials auf der Brücke. – Auf der Tonspur zeigen sich die Geräusche einer Großstadt: leise Momente stehen hart geschnitten den lauten gegenüber. Seine Lieblingsszene: die beiden Frauen mit Sven in einem Straßencafé. Der Straßenlärm lässt kein Verstehen zu. Erst durch Heises Erläuterung werden die Frauen dem Publikum nähergebracht: es handelt sich um zwei Freundinnen/Rivalinnen von Sven. Und weil ihr Gespräch niemanden etwas angeht, wie Heise meint, ist es auch nicht hörbar.

Das Unhörbarmachen der weiblichen Protagonisten ruft im Publikum Unmut hervor. Warum werden sie zu einer Art Alibi, warum so klischeehaft dargestellt? Warum fliegen sie nicht raus, wenn sie nicht reden, fragt Brigitte Werneburg.

Das war die Abmachung mit Lena: ihr könnt alles mit mir machen, nur reden werde ich nicht, habe sie dem Filmteam gesagt. Das war kein Grund, sie aus dem Film zu werfen. Stattdessen suchte Thomas Heise über das Vorlesen des Lautréamont-Textes oder das Fotografieren andere Möglichkeiten, sie zu dokumentieren. Die Deutung des Verhaltens der Jugendlichen als „seltsam lethargisch“ macht Peter Badel am Generationenunterschied fest.

Aus dem Publikum kommt die Frage, ob Thomas Heise Sven durch die letzte Briefsequenz nicht entblöße, da Sven diese aus den Theaterproben übernommene Form des immer wieder Ansetzens doch wohl in der irrigen Annahme verwendet habe, Thomas würde sie schneiden.

Eine Rohschnittabnahme durch die Protagonisten gab es nicht. Heise hatte allen ausdrücklich gesagt, sie sollten sich nur zum Mitmachen an dem Filmprojekt entscheiden, wenn sie sich sicher seien. Aber natürlich gab es für Heise besonders bei der Integration dieser Sequenz in den Film den Konflikt mit der Privatheit. Badel verweist auf das enge Verhältnis des Filmemachers zu einigen seiner Protagonisten. Vor allem für Sven wurde Heise zum Berater in allen Lebensfragen. – Als die Dokumentierten den Film dann das erste Mal sahen, kamen sie mit hochroten Köpfen heraus. Heise diskutierte mit ihnen und konnte seinen Standpunkt vermitteln. Ob Sven wisse, dass er mit seinem vorgetragenen Brief ein Stück Kinogeschichte geschrieben habe, wie ein Diskutant einwirft, bezweifelt Heise.

Werner Ruzicka interessiert Heises Skepsis, Interviewsequenzen als eine Realität des Antwortens zu verstehen und fragt, ob dadurch das Lesen in den Gesichtern einen höheren Stellenwert bekommt und man mit dem Zeigen von Gesichtern eine unverstellte Realität herstellen könne? Heise weist diesen Gedanken des Aufschließens oder Aufbrechens im reinen Beobachten zurück. Er wollte nicht versuchen „irgendetwas rauszukriegen“, denn oft meinten die Protagonisten, sie müssten sich vor der Kamera verhalten, ihr etwas liefern. Danach sucht er nicht. Und doch will er die Distanz miterzählen, die zwischen seinem Sprechen und dem der Jugendlichen besteht – sich vielleicht durch den Altersunterschied ergibt.

Thomas Heise hat für Im Glück (Neger) erstmals mit einem Komponisten gearbeitet. Er wollte die Möglichkeiten von Filmmusik ausloten und nahm „das Kinderlied“ als Motto. Erst nach einem Auswechseln des Musikers war er zufrieden mit dem reflektierenden, nicht emotionalen Charakter, den er der Musik bescheinigt.

Ein Bezug zum Titel des Films: Shakespeares Theaterstück, auf das Heiner Müller Bezug nimmt, sollte ursprünglich mal Der Neger heißen, erzählt Heise, denn die Hauptfigur dort sei Aaron, nicht Titus. Aus Zeitgründen konnte in der Diskussion weder auf die zahlreichen Bezüge im Titel noch auf die vielen weiteren Details des Filmes eingegangen werden.