Duisburger Filmwoche 23
Tiefen|Schärfen
1. bis 7.11.1999

Preisträger:innen

ARTE-Dokumentarfilmpreis / Preis der deutschen Filmkritik

Mendel lebt
von Hans-Dieter Grabe

Der Film zeigt uns einen Ausschnitt aus der Gegenwart des Holocoust-Überlebenden Mendel Szajnfeld. Geschichte vermittelt sich hier jedoch weniger durch Rückschau, biographische Erzählung und den Rekurs auf kanonisierte Bilder, sondern über den Alltag der Hauptfigur. In der Normalität und dem scheinbar Unbedeutenden – wie etwa der Essenszubereitung – wird ein unmittelbarer Bezug zum sonst oft nur Abstrakten der Vergangenheit möglich. Eine besondere Funktion besitzen in diesem Zusammenhang die Zitate aus Grabes früherem Film Mendel Szajnfelds zweite Reise nach Deutsachland. Mendel Szajnfeld ist nicht einfach Informant, Zeuge, Objekt, sondern wird uns gezeigt als Subjekt seiner eigenen Geschichtsschreibung. So entwickelt sich eine außergewöhnliche Beziehung zwischen Darsteller, Film und Zuschauer, die sioh auszeichnet in ihrer Vermeidung von klischierten Repräsentationsmustern.

3sat-Dokumentarfilmpreis

Dezember, 1–31
von Jan Peters

Im gegenwärtigen Dokumentarfilm gibt es eine Konjunktur des Privaten. Jan Peters verarbeitet in Dezember, 1-31 die Trauer um einen verstorbenen Freund mit den Möglichkeiten des Home Movies. Er öffnet aber mit großem Temperament die Form des Tagebuchfilms und erfindet den Dokumentarfilm neu als Fröhliche Wissenschaft vom Tod und dem Leben danach.

Förderpreis des Verbandes der deutschen Filmkritik in der Sparte Dokumentarfilm

Divina Obsesion
von Volko Kamensky

In der klaren Struktur des Films eröffnen sich überraschende und ungewohnte Perspektiven auf einen Gegenstand des alltäglichen Umgangs – nämlich Verkehrskreisel. Wir kennen zwar Kreisverkehre, aber so, wie in diesem Film gezeigt, konnten wir sie eigentlich noch nie sehen. Gerade in der pointierten Verwendung der filmischen Mittel – wie Musik, der seriellen Darstellung des Gegenstandes, der Aufnahme in slow motion und der prägnanten Kürze – wird die Liebe zum Gegenstand faßbar. Die filmische Form, die Volko Kamensky gewählt hat, überzeugt durch die rhythmische Atmosphäre, den Humor und die filmische Dichte.

Jurys

Verband der deutschen Filmkritik

Jan Distelmeyer
Geboren 1969, lebt in Hamburg. Studium der Deutschen Sprache und Literatur, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und Philosophie in Bochum und Hamburg. Seit 1993 freier Autor und Filmkritiker u.a. für epd Film, Spex, Texte zur Kunst, Die Woche, taz hamburg, Kölner Stadtrevue. Produktion von einigen Kurzfilmen und Fernsehbeiträgen. Seit 1997 veranstaltet er Seminare zu den Themen Filmtheorie, Filmanalyse und -kritik.

Heike Klippel
Dr. phil., Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Soziologie in Mainz und Frankfurt a. M. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Frankfurt a. M. Mitherausgeberin von „Frauen und Film“. Veröffentlichungen u.a. „Gedächtnis und Kino“, Frankfurt a. M. 1997.

Barbara Obermaier
Geboren 1965, lebt in Köln. Studium der Slawistik, Romanistik, Medienwissenschaft und Kunstgeschichte in Orléans, Salzburg, Wien, Paris und Konstanz. Nach Produktionsassistenzen und Lektoraten bei Filmproduktionen arbeitet sie seit 1991 als freie Journalistin. Diverse Jobs u.a. beim WDR, SWR und „TiMe Filmverleih“. Seit 1998 belegt sie einen Fernstudiengang zur Filmtheaterkauffrau.

3sat

Pierre Lachat
Züricher Filmkritiker, von 1970 bis 1984 als Redakteur für die Schweizer Kulturabteilung des SF DRS tätig. Als freischaffender Publizist gestaltet er zur Zeit vor allem Beiträge für die beiden Sendungen von Radio DRS 2 „DRS 2 aktuell“ und „Reflexe“. Des weiteren arbeitet er als Dozent für Filmgeschichte an der Universität Fribourg.

Christiane Peitz
1959 in Saarbrücken geboren, lebt mit ihrer Tochter in Berlin. Nach einem Studium der Musikwissenschaft in Mainz, Hamburg und Berlin arbeitete sie ab 1984 als Kulturredakteurin der „tageszeitung“. Seit 1992 schreibt sie als freie Journalistin u.a. für „Die Zeit“, „Tip“, „Basler Zeitung“ und für diverse Rundfunkanstalten. 1995 erschien ihr Buch „Marilyns starke Schwestern“. Frauenbilder im Gegenwartskino“ im Klein Verlag, Hamburg.

Bert Rebhandl
Geboren 1964, lebt in Wien. Studium der Germanistik, Philosophie und der katholischen Theologie. Ab 1993 freier Journalist. Film- und Literaturkritiker für die Tageszeitung „Der Standard“, daneben filmpublizistische Arbeiten zu Haneke, Broomfield, Depardon, Kirostami etc. Mitarbeit an der Wiener Filmzeitschrift „Meteor“. Seit 1998 Kulturredakteur des Wiener Nachrichtenmagazins „Format“.

Kommission

Elisabeth Büttner, Dr. phil.
Geboren 1961 in Würzburg, Studium der Filmwissenschaften. Lehrtätigkeit an der FU Berlin. Verschiedene Publikationen zu den Arbeitsschwerpunkten Gesellschaft, Kino, Zeit, zuletzt: „Anschluß an Morgen, Eine Geschichte des österreichischen Films von 1945 bis zur Gegenwart“. Konzeption und Realisation von Filmschauen, Symposien und Seminaren. Mitbegründerin der Forschungskooperative „das kino co-op“ Wien 1990. Mitglied von SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien, Wien.

Jutta Doberstein
Geboren 1966. Assistenztätigkeiten bei Filmfestivals und Standphotographie. Filmstudium in London. Seitdem eigene Dokumentarfilme und Bühnenprojektionen für verschiedene Theater. Außerdem arbeitet sie als Kamerafrau, Übersetzerin und in Kommissionen der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und der Duisburger Filmwoche. Filme: „Skin Fields“ (1991), „Ewig und Drei Tage“ (1993, zusammen mit Volker Köster).

Volker Heise
Geboren 1961 in Buecken, Niedersachsen. Studium der Politischen Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut, FU Berlin. Freier Journalist, u.a. tätig für den Sender Freies Berlin, den Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg und verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Dramaturgischer Berater bei zero film, Berlin. Volker Heise lebt und arbeitet in Berlin.

Rembert Hüser, Dr. phil.
Geboren 1961 in Münster (Westf.), Studium der Germanistik und Geschichte in Münster, Bielefeld, Cornell. Schalkefan, (seit 1988 Mitglied). 1992-1998 Wissenschaftlicher Assistent (Germanistik) an der Uni Bonn, seit 1999 im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“ in Köln. Arbeitsschwerpunkte: Kulturpolitik, Literaturtheorie und Filmwissenschaften.

Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Abeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.

Alexandra Schneider
Geboren 1968 in Bern. Studium der Soziologie und der Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 1994 Assistentin am Seminar für Filmwissenschaft und diverse Lehraufträge u.a. im Bereich Dokumentarfilm und Filmgeschichte an der Universität Zürich und an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Zürich. Verschiedene Publikationstätigkeiten, zuletzt als Herausgeberin von „Die anthropomorphe Kamera“ (1997) von Christine Noll Brinckmann und des Schweizerischen Filmjahrbuchs CINEMA. Alexandra Schneider lebt und arbeitet in Zürich.

Filme

Pripyat (Nikolaus Geyrhalter | AT 1999)
Das kleine Kaufhaus (Jens Schanze | DE 1999)
Abnehmen in Essen (1) (Claudia Richarz, Carl-Ludwig Rettinger | DE 1999)
Vom deutschen Rand (Volker Köster | DE 1999)
Grüße aus der Lebensmitte (Marian Kiss | DE 1999)
ID Swiss (von Bernasconi, Davi, Fares, George, Musale, Thümena, Werenfels | CH 1999)
Genet in Chatila (Richard Dindo | CH/FR 1999)
Un ga nai – Bad luck (Christoph Draeger, Martin Frei, Thomas Thümena | CH 1999)
Abnehmen in Essen (2) (Claudia Richarz, Carl-Ludwig Rettinger | DE 1999)
Damenwahl. Szenen aus dem Abendland (Viola Stephan | DE 1999)
3 aus Tausend (Andres Veiel | DE 1999)
Waschen und legen (Alice Agneskirchner | DE 1999)
Models (Ulrich Seidl | AT 1998)
Dezember, 1–31 (Jan Peters | DE 1998)
Die Erklärung des ersten Kapitels Luce. (das doch eyn yeder lernte mit eynem halb Aug sehen) (Andreas Jakob Goldstein | DE 1998)
Abnehmen in Essen (3 & 4) (Claudia Richarz, Carl-Ludwig Rettinger | DE 1999)
Dunkle Stunden zählen nicht (Marin Martschewski | DE 1998)
Schlagen und Abtun (Norbert Wiedmer | CH 1999)
Divina Obsesion (Volko Kamensky | DE 1999)
Mendel lebt (Hans-Dieter Grabe | DE 1999)
Kriegssplitter (Johann Feindt | DE 1999)
Bridge to Monticello (Michael Pilz | AT 1996/98)
Berlino (Valeska Griesebach | DE/AT 1999)
Die unstillbare Sehnsucht des Dr. Speck (Thomas Schmitt | DE 1998)
Déjà vu (Lisl Ponger | AT 1999)
Herr Zwilling und Frau Zuckermann (Volker Koepp | DE 1999)

Extras

„Paparazzi“ G.R.A.M.

Zu Gast: Alexander Kluge

Referenzen der Wirklichkeit – Auf dem Weg zum letzten Bild?
Teil 1: Strategien der (Selbst-) Inszenierung
Teil 2: Hinter die Oberflächen? Körperbilder im technischen Universum

Glam/Doc – Kicks für die Filmkritik

Ein Spezialist (Eyal Sivan | DE/FR/AT/BE/NE/IL 1998)

Nachttanke (Samir Nasr | DE 1999)

Studienbereich Film/Video der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Zürich

Motto

Tiefen|Schärfen

Tiefenschärfen sprengen Oberflächen und eröffnen Blickräume.

Auch was nicht im Focus ist, bleibt präsent.

Wer glaubt, mit dem Sehen fertig zu sein, sieht nur halb.

Die Duisburger Filmwoche will auch im 23. Jahr ihres Bestehens ein Forum sein für das Erproben neuer Formen des dokumentarischen Sehens und des Sprechens über Dokumentarfilm. Jede Wirklichkeit verlangt ihre eigene Ästhetik, ungeachtet genrespezifischer Purismen und etablierter Handschriften. Deswegen ist Duisburg offen für unkonventionelle, aber lebendige Ansätze und kritisch gegenüber eingefahrenen Mustern. Das Programm, das seit 1990 auch Beiträge aus Österreich und der Schweiz umfasst, wird auf eine überschaubare Anzahl von Filmen begrenzt gehalten. So wird jedem einzelnen Film die ihm gebührende Aufmerksamkeit gegeben und Filmemachern und Publikum die Gelegenheit zum ausführlichen Erfahrungsaustausch.

Die Duisburger Filmwoche zeigt nicht nur Dokumentarfilme, sondern ist selbst ein dokumentarisches Ereignis, und das heißt: mehr sehen als man zu sehen glaubt und immer aufs neue: die Tiefen schärfen.