Film

Genet in Chatila
von Richard Dindo
CH/FR 1999 | 98 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 23
02.11.1999

Diskussion
Podium: Richard Dindo
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Hilde W. Hoffmann

Synopse

18. September 1982 – christliche Milizen richten unter den Augen israelischer Besatzungstruppen im Flüchtlingslager Chatila ein Massaker an, bei dem mehr als 1000 Palästinenser ermordet werden. Am Tag darauf besucht Jean Genet das Lager. Er beschließt, einen Text zu schreiben, den Roman ‚Un captif amoureux‘. Mit diesem Buch macht sich eine junge Französin algerischer Abstammung auf, sucht dessen Orte auf, trifft Menschen, die Zeugnis ablegen.

Protokoll

„Ich bin ein 68er Fossil“

war die erste Antwort Richard Dindos auf die Frage Werner Ruzickas nach seinem Interesse an Buch und Thema. Er komme auf Themen seiner Generation, er „arbeite[t] mit Erinnerung“. Die gewählten Bücher definierten seine Filme. In Jean Genets letzter Veröffentlichung, Ein verliebter Gefangener, fand er „Sätze“, die ihn dazu brachten, „Bilder zu Träumen“. Seine Selbstbeschreibung als „Proustianer“, der sehr von der Musik dieser Sprache geprägt sei, führte einen Gast zu Gilles Deleuze. Die Frage nach „Differenz und Erinnerung“ und der Konstruktion des Zeitbildes blieb jedoch in den Anfängen: Dindo fand die Frage zu kompliziert – Deleuze sei „einer der wenigen französischen zeitgenössischen Philosophen“, die er nicht gelesen habe.

Die Erinnerung

ist zentrales Element seiner Dokumentationen. Es gehe „um die Darstellbarkeit der Vergangenheit im Dokumentarfilm. Durch die filmische Erinnerung werde Sprache/ Geschriebenes wieder erlebbar“. Er wolle eine „Dialektik zwischen Vergangenem, Erinnerung und aktueller Empfindung“ herstellen. Er arbeite an der Frage, wie das Dokumentarfeld erweitert werden könne, umkreise die Fiktionalität und wende sich an die Fantasie und die Imagination der Zuschauer. Aus dem Publikum wurde gerade diese Freiheit der eigenen Imagination bestritten, „das Gefühl eingeengt zu sein“, „die Unmöglichkeit der eigenen Imagination“ und die „Wut über die Parallelität zwischen Ton, Bildmethaphern und konkretem Bild“ wurden formuliert. Dindo erklärte, er suche die möglichen Bilder: „Sie sind mehr als Illustration, aber auch Illustration. Bild und Text sind nicht synchron, sie überschneiden sich, gehen auseinander. Ich gehe hier an Grenzen“. – Eine Grenzbeschreitung die aus dem Publikum bezweifelt wurde.

Auf Ruzickas Frage, ob „die Perspektivwechsel durch den Blick der Protagonistin durch Fernglas oder Fotoapperat Erinnerungsarbeit aufzeigen“, verwies der Autor auf die Spontanität der filmischen Arbeit: „Ich wollte nicht inszenieren, ich bin Dokumentarist, der ganze Film ist völlig improvisiert“. Ein Verweis, der mit einem: „Das sagen sie alle“ quittiert wurde.

„Wenn so viele Bilder zum Sehen da sind, kann nichts darüber sprechen“,

ein Satz Genets, der für eine Diskutantin zum Gegenpol von Dindos Inszinierung der Überlebenden, bei der Konfrontation mit Videoaufnahmen des Massakers wurde. Trotz der Bemühung Dindos um verschiedene Erklärungsansätze wie: „Die Menschen im Lager baten mich die Aufnahmen zu sehen“; „Mir ging es um den Mut [der Lagerbewohner] diese Bilder anschauen zu wollen“; „Die Palästinenser haben im Widerstand immer mit Medien gearbeitet“; „Film ist ein Dokument der Erinnerung, das Wissen dieser Zeit, liegt in diesen Bildern“, blieben Zweifel im Publikum. Es fielen Begriffe wie „Betroffenheitsgetue“, jedoch gab es auch Zuschauer die „durch die Wichtigkeit des Themas mit dem Film versöhnt“, „berührt“ und „von der Vitalität begeistert“ waren.

Die Protagonistin in Jean Genets Bett

provozierte Fragen nach „der Rolle der jungen Frau“, nach „suggestiven Kamerablicken auf ihren Körper, sowie die Illustration Jutta Dobersteins: „Kindsfrau läuft durch die Wüste und ist betroffen“. Dindos Bekenntnisse, er habe „mit Genet nicht allein sein“ wollen, er möge Frauen oder er „habe versucht, das Mädchen schön darzustellen“, wurden von der neugierigen Frage, was der Autor „von dem Mädchen gewollt“ habe begleitet. Positive Stimmen beschrieben „dichte Momente von der Unmittelbarkeit der Erinnerung und des Erlebnisses der Betroffenheit“ durch die Naivität mit der die Protagonistin „das Feld des Grauens“ durchmesse, oder die Deutlichkeit der „Entfernung zu der revolutionären Erfahrung“ der jungen Frau im Gegensatz zu den palästinensischen Kämpfern.

Der Appell

des Autors für eine „Politisierung der Erinnerung“ und der „Treue zu sich selbst“ mündeten in Anlehnung an den Film in ein Requiem:

„alle meine Filme träumen noch immer:

den Traum der Revolution

den Traum von einer gerechten Gesellschaft

den Traum von Widerstand“