Film

Abnehmen in Essen
von Claudia Richarz, Carl-Ludwig Rettinger
DE 1999 | 426 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 23
04.11.1999

Diskussion
Podium: Claudia Richarz, Carl-Ludwig Rettinger (Produktion, Buch), Ulle Schröder (Redaktion), Rolf Bringmann (Redaktion)
Moderation: Alexandra Schneider, Werner Ružička
Protokoll: Heimo Schirgi

Synopse

Jahreswechsel 1998/99, jetzt soll alles anders werden. Fünf Freundinnen beschließen, fortan gemeinsam stark zu sein und ein lang gehegtes Vorhaben endlich wahr zu machen. Dauerhaft schlanker werden, heißt die Maxime fürs neue Jahr. Gespräche über Schönheitsideale, Sex und Männer gehören ebenso dazu wie genußvolles Über-die-Stränge-Schlagen und die Erkenntnis, daß das Leben mit weniger Kilos nicht unbedingt einfacher ist.

Protokoll

Werner Ruzicka beginnt mit einer grundsätzlichen Frage: Wieso eine doku soap, habe das Thema oder die Erzählform entschieden? Carl-Ludwig Rettinger erklärt, der Wunsch nach so einer Serie sei von ARTE gekommen. Also habe er viel Driving School gesehen und einiges kopiert. Das Abnehmen sei ja auch für ihn nicht rein theoretisch, da er gerne esse und narrativ arbeite. Eine Diät habe schließlich ein klares Ziel und gebe eine Dramaturgie vor. Der Entschluß abzunehmen, impliziere den Wunsch, Lebensumstände zu ändern, da sonst nicht mit Erfolg zu rechnen sei. Der Wille zum Neubeginn als narrativer Antrieb einer Doku Serie.

Wie habe man die Protagonist*en gefunden, nuschelt Ruzicka. -INNEN platzt es aus Claudia Richartz heraus. Ruzicka entschuldigt sich für seine undeutliche Aussprache und meint es heiße ja auch die filmwoche. Erleichtertes Gelächter aus dem Publikum. Mit Hilfe von Zeitungsinseraten, so die Regisseurin und Kamerafrau. Und Gefühl bei der Auswahl. Rettinger präzisiert, sie hätten nach einer Gruppe gesucht und gewollt, daß die Frauen sich freiwilig melden. „Realität abz[uz] ocken“ sei ihnen zu billig gewesen.

Alexandra Schneider will etwas über die Arbeitsweise wissen. Wie werde ein Stoff entwickelt, dessen erzählerisches Potential – wie beim Direct Cinema – schon immanent sei? Rettinger spricht von normaler dokumentarischer Arbeit. Man müsse viel Material sammeln, in ständigem Kontakt mit den Protagonistinnen stehen, und mit ihnen Dinge unternehmen. Die Selektion plot- und subplotrelevanter Sequenzen erfolge erst später. Was ihn besonders gereizt habe, sei der für eine dokumentarische Arbeit ungewöhnliche prime time Programmplatz gewesen. Ulle Schröder hält fest, sie sei anfangs sehr skeptisch gewesen, da sie gedacht hätte, daß die Nichtwahrung der Einheit des Ortes ein Problem darstellen könnte. Als sie aber das fertige Produkt sah, sei sie sehr erleichtert und von der großartigen Leistung der Frauen begeistert gewesen. Rolf Bringmann, ihr Kollege vom WDR meint, er habe die Frauen in der Planungsphase getroffen und sofort auf sie gesetzt. Es käme nicht auf das Thema, sondern auf die Erzählweise an. Die Kooperation mit ARTE sei nötig gewesen, da das Genre, entgegen üblichen Darstellungen, ein sehr teures sei.

Werner Ruzicka will wissen, ob die Protagonistinnen vor 10 Jahren bereit gewesen wären, die Kamera so nah an sich heranzulassen, oder ob das etwas mit Verschiebungen innerhalb der Kategorien des Privaten und Öffentlichen zu tun habe. Richartz blockt ab: Sie hätten sich einfach gut verstanden. Ruzicka versucht es noch einmal. Habe das damit zu tun, daß es sich um eine kleine Kamerafrau, die unauffälliger ist, handelt? Richartz ist sauer. Sie meint, es sei ja möglich auch als kleine Person weiter wegzugehen, um Distanz zu schaffen. Verunsichertes Lachen im Publikum. Da springt Carl-Ludwig Rettinger ein: Sie hätten sich auf diese Arbeitsweise (Regie und Kamera in einer Person) geeinigt, weil interessante Situationen in der Kommunikation der Protagonistinnen mit der Kamera entstünden und ein direkterer Zugang möglich sei. Die Strategien seien ähnliche, wie er sie schon in den 60ern mit seiner Videoarbeit angewandt habe.

Werner Ruzicka kommt auf die typischen Serienattribute wie den Einsatz von Musik, den Vorspann und den Off-Text zu sprechen. Beim Vorspann seien sie nicht so frei gewesen, meint Rettinger. Etwas wirklich „scharfes“ zu produzieren koste viel Geld, Geld daß er lieber in den Schnitt stecken wollte. Die Effekte hätten sie nicht so im Griff gehabt, er sei aber trotzdem zufrieden. Die Musik finde er gut eingearbeitet, so daß sie unbemerkt, ja sogar ins Unterbewußte eindringend, Gefühle vermittelt, die Zuseher bewegt. Auf den Komentar könne er persönlich verzichten, man müsse aber bedenken, daß die Serie eben nicht für mitternachtsprogrammsehende Dokumentarfilmliebhaber gemacht worden sei, sondern für die zappende, unkonzentrierte Masse. Das Publikum wird unruhig: Die Musik und der Kommentar hätten den touch von Kinderfernsehen, das Potential sei nicht im geringsten ausgeschöpft und werde den hervorragenden Darstellerinnen nicht gerecht. Rettinger beharrt, daß er die Musik äußerst gelungen finde, weil sie das Innerste der Frauen herauskehre.

Nochmals eine Stimme aus dem Publikum: Der Rohschnitt ohne Musik und Kommentar sei besser gewesen, nicht so zugekleistert wie die Endfassung. Rettinger insistiert, daß der Diskutant unmöglich einen Rohschnitt ohne Musik zu sehen bekommen hätte können. Er habe sie nur nicht bemerkt, da sie so kunstvoll eingeflochten sei. „Zugekleistert“ sei reine Polemik, er könne ja ruhig seine eigene Doku-Reihe einmal herzeigen, um mitreden zu können. Die Emotionen schwappen hoch. Das Publikum drängt weiter: Die MacherInnen hätten einen sehr überholten Autorenbegriff und versuchten, dessen Reste krampfhaft zu verteidigen. Die Frauen seien die Autorinnen. Ruzicka gibt Textbeispiele aus dem Film „es kommt gewichtiger Besuch“, „dicke Freundinnen“, etc. Rettinger meint, ohne Kommentar wäre der Film auf Programmplatz 23:30. Die Gesellschaft brauche starke AutorInnen, der Traum der 70er sei ausgeträumt. Er bewundere die Darstellerinnen, die – viel stärker als er – im Stande seien, vor der Kamera Emotionen zu transportieren. Intellektuelle Schichten litten an emotionaler Verarmung. Susanne, eine Darstellerin aus dem Film meldet sich zu Wort: Es habe nichts mit Intellekt und schwarzgekleideten Filmmenschen zu tun, lediglich mit Lebenslust und sinnlicher Wahrnehmung der Umgebung. Die Anhäufung an Klischees sei beunruhigend. Beim Casting habe sie sich die AutorInnen angesehen und nicht umgekehrt. Sie sei schlußendlich diejenige, die von sich etwas preisgibt. Ohne Vertrauensbasis hätte sie nicht an dem Projekt mitgearbeitet..

Ein Zuseher läßt nicht locker und kommt auf den Kommentar zurück. Wenn man Frauen im Treppenhaus sehe, brauche man wohl keine anbiedernde Erklärung („es kommt gewichtiger Besuch“). Fernsehen funktioniere eben sehr verbal, meint Rettinger, der Diskutant habe ihn nicht verstanden. Es kommt zu einem Wortwechsel in dem jemand aus dem Publikum es für symptomatisch befindet, daß Rettinger mit Hilfe des Mikrophons verbale Gewalt ausübt. Es fehle ihm halt an Vertrauen in sein Publikum.

Die Diskussion endet dann, wider Erwaten, versöhnlich. Es wird höchstwahrscheinlich Fortsetzungen geben, was mit einem Applaus gewürdigt wird.