Extra

Alexander Kluge

Duisburger Filmwoche 23
03.11.1999

Podium: Alexander Kluge
Einführung: Georg Stanitzek
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Judith Keilbach

Präsentation und Diskussion eines dctp-Magazins sowie Vorstellung des Buches „Alexander Kluge. In Gefahr und größter Not / bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Film, Kino, Politik“. hg. von Christian Schulte, Verlag Vorwerk8 (Texte zum Dokumentarfilm Band 5, Hg. dfi, Mülheim/Ruhr)

Protokoll

Die Projektion des Magazinbeitrags Die Wüste lebt. Christoph Schlingensief über die Befreiung des Ausdrucks vom Zwang der Sinne ging der brillianten Diskussion zwischen Alexander Kluge und Werner Ruzicka bzw. dem Duisburger Publikum voraus. Während des Gesprächs lauschten die Diskussionsteilnehmer den dichten statements von Kluge und schienen von der Wortgewandheit auf dem Podium etwas eingeschüchtert oder zu fasziniert zu sein, so dass sich – bis auf zwei Nachfragen aus dem Publikum – die beiden Herren die Bälle zuspielten. In der Form des Gesprächs schimmerte dabei ab und zu etwas von der DIALOGDIALEKTIK (Ruzicka) auf, die zuvor auf der Leinwand beim Team Schlingensief/Kluge zu beobachten war.

Die geforderte Geistesgegenwart, die Ruzicka in Kluges eigenwilliger Interviewführung ausmachte, führte dieser zurück auf folgende

Grundregel seiner Arbeit:

Ω sich auf den Partner einstellen

Ω sich klar machen, was/wie der Partner denkt.

Sich hineinversetzen, MEDIUM SEIN, das Gespräch – wie in der der Kneipenrunde – am Laufen halten… (und keine Verabredung über den Verlauf).

Natürlich könne man sich nicht von seinen „Fimmeln“ und eigenen Interessen trennen, so Kluge auf Ruzickas Frage nach den lang angelegten „Eroberungslinien“, ebensowenig, wie man den Interviewpartner von dessen Interessen trennen könne.

Konkret: im Gespräch mit Schlingensief sei immer präsent:

dessen auf Deutsch Süd West Afrika ausgerichtetes Interesse; dessen Überlegung, was Deutschland an Afrika, der Wiege der Menschheit, als Dankeschön zurückgeben könne; dessen ‚Geschenkidee‘ Wagner; dessen Vorhaben, mit Lautsprechern ausgestattete LKWs durch den Kontinent zu schicken, um Wagners Musik über das Land schallen zu lassen [und dazwischen noch Kluges Einflechtungen und lose Enden zum Phönixcharakter der Kunst und Wagner und Bayreuth].

Es gelte, diesen ständig präsenten Ideen durch die Gesprächssituation eine Erprobungsund Sortiermöglichkeit zu verschaffen, ihnen – beispielsweise in Form von Hintergrundbildern [die Wüste lebt (oder doch nicht?), der Panzer in der Wüste rostet seit 80 Jahren nicht (oder doch?)] – zum Ausdruck zu verhelfen.

Lügengeschichte & Wirklichkeit – kleine Lektion zum dokumentarischen Prinzip:

Ω Jedes Dokument fungiert nicht nur als Objektives, ihm ist immer auch eine subjektive Seite inhärent.

Ω Auf der Nahtstelle (fiction/non-fiction) zwischen LÜGENGESCHICHTE & Wirklichkeit gilt es, wie eine Seiltänzerin zu balancieren (um einer ‚wahren‘ Sache zum Ausdruck zu verhelfen).

Lügengeschichten: Umgang mit Dingen, die andere nicht für realistisch halten.

μ Z.B. Wissenschaftsbeschreibungen: hochgradig fiktional, z.B. reale Diskussion des Problems, ob ein vom Körper getrennter Kopf diesem nachschauen kann.

μ Z.B. Kluge: Schwankender Zuschauer. Kopplung zweier ‚Fakten‘, z.B. „Ich war Hitlers Bodyguard“ (zusammengesetzt aus ‚Zeitzeuge‘ und historischem Dokument – Vollzug der andernorts praktizierte Nachinszenierung hier in der Vorstellung ‚des Zuschauers‘).

μ Z.B. Fernsehnachrichten: dringende Empfehlung eines lügendetektivischen Blicks. Dennoch: Bekenntnis Kluges zum dokumentarischen Prinzip (nach obigem Verfahren).

Einzige Absprache bei Kluge: am Ende des Gesprächs der Blick des Partners in die Kamera, als Spiegelung, Allein-Sein mit der Apparatur, vor allem aber: eine EHRERWEISUNG der Kamera gegenüber, die Kluge all‘ seinen Gesprächspartnern abverlangt (und sei es auch nur für das eigene Archiv).

Das Archiv der Bilder: Zugriff auf das Material, um Zusammenhänge herzustellen.

Zusammenhang: Hunger nach Sinn, Sinnsuche (die Aufklärung) muss unterstützt werden, ABER: Sinn kann kein planwirtschaftliches Projekt sein,

DENN: „Zum Sinn kommen im Moment, in dem man ihn nicht erstrebt.“

MEDIEN:

Der Film hat zu viel Bild,

das Vertrauen des Autors (Kluge) gilt den Worten,

das Fernsehbild besteht aus Zeilen, warum diese nicht mit Schrift beschreiben?

Das Internet „wächst den Worten zu“ (am 01.01.2000 auf vox: 3 Stunden Text als Vademecum für das neue Millenium).

Das Kino wird wieder auferstehen, wird wild wachsen (wenn die Reichsgaragenverordnung von 1937 (= Verpflichtung der Kinos, pro Kinositz eine bestimmte Anzahl von Parkplätzen bereitzustellen) einmals aufgehoben werden sollte).

Wohltat der Dunkelheit des Kinos: „Die Seele trinkt den Lichtstrom.“

 Alexander Kluge, Werner Ružička v.l. © Hendrik Lietmann
Alexander Kluge, Werner Ružička v.l. © Hendrik Lietmann