Duisburger Filmwoche 34
HORIZONT
1. bis 7.11.2010

Festival Plakatmotiv

Grafik: Tilman Lothspeich

Preisträger:innen

3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

Die fünf Himmelsrichtungen
von Fridolin Schönwiese

Was bedeutet Leben in der Fremde? Das Eigene zu verabschieden und es gleichzeitig zu bewahren, einen Teil seiner selbst zu verlieren und trotzdem die Notwendigkeit, eine neue Identität zu finden. In der Fremde zu leben, bedeutet aber nicht allein zu sein: Es gibt jene, die man zuhause zurückgelassen hat und jene, mit denen man versucht, eine neue Gemeinschaft zu bilden. Dieses Bild kennzeichnet die Vereinigten Staaten von Amerika seit Jahrhunderten als Inbegriff eines Einwanderungslandes und als Utopie. Fridolin Schönwiese begleitet zwei Immigranten in Mexiko, in Kansas City und zu einem Ort, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist: die fünfte Himmelsrichtung. Dabei findet er in beeindruckender Weise zu einem Gleichgewicht zwischen stiller Beobachtung und aufschlussreicher Sichtbarmachung. Denn was dort und da sichtbar wird, hebt erwartbare Widersprüche auf: Die Bilder verschmelzen die unterschiedlichen Lebensräume zu einem neuen Ort der immerwährenden Heimatlosigkeit.

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Von der Vermählung des Salamanders mit der grünen Schlange
von René Frölke

Der Film, den die ARTE-Jury auszeichnet, mutet einem zu, lange nicht zu wissen, worum es geht. Alltagsbilder einer Familie vermischen sich mit Momentaufnahmen eines Ortes, und dazwischen malt ein Mann.
Die Bilder, die der Regisseur malt, erklären uns nichts über diese Menschen. Sie bieten uns viel mehr: Sie machen uns ihre Geschichten spürbar. Farben gesellen sich zu Farben, Erzählungen treffen auf Erzählungen. So füllen sich langsam die Lücken in der Familiengeschichte, aber die Fragen bleiben. Sie klingen nach und lassen uns noch lange an einen Film denken, der mit feinen Schwingungen ein großes Echo schafft. Wir gratulieren.

Förderpreis der Stadt Duisburg

Herr Berner und die Wolokolamsker Chaussee
von Serpil Turhan

Es gibt viele Zugänge zur Geschichte. Der Film, den wir mit der Hälfte des Förderpreises auszeichnen, entscheidet sich für einen einfachen, genauer, für einen zunächst, auf den ersten Blick einfachen.
Nämlich: dafür einen Mann – er ist alt, ansonsten weiß man von ihm gar nichts – einen Text lesen zu lassen. Dieser, ein Theatertext, führt den Mann zurück, in die Vergangenheit, an Orte des Zweiten Weltkrieges, der Vernichtung, des Völkermordes, von dem der Mann ein Teil war.
Das ist nicht alles: die besondere Inszenierung nimmt die Erzählungen des Mannes auf, setzt Betonungen und ermöglicht dem Betrachter Einblicke in Seelenschichten, in sowohl in einzelnen Biographien wie im Allgemeinen weiterwirkenden gespenstischen Dimensionen deutscher Geschichte.

Auf Teufel komm raus
von Mareille Klein, Julie Kreuzer

Auf Teufel komm raus stellt sich einem brisanten gesellschaftspolitischen Thema und nimmt aus heikler Position gegensätzliche Perspektiven ein, ohne eine eigene Haltung aus dem Blick zu verlieren. In überlegter dramaturgischer Entwicklung werden verborgene Motive aufgedeckt und unbequeme Entscheidungen über Schuld und Bestrafung erkundet. Vorgefasste Meinungen machen neuen Fragen Platz.

Dokumentarfilmpreis des Goethe Instituts

How to Make a Book with Steidl
von Gereon Wetzel, Jörg Adolph

Wir haben uns bewusst für einen Film entschieden, der sich als Protagonisten einen Weltbürger der globalen Kunstszene gesucht hat, der zugleich lokal in Deutschland verwurzelt ist. Der Film, der uns Anteil nehmen lässt am kreativen Zusammenspiel von Künstler und Handwerker und an der Entstehung einer auch im Ausland hoch geschätzten deutschen Buchdruckkunst.
Mit der gleichen ästhetischen Präzision, die ihren Protagonisten auszeichnet, betreiben auch die beiden Regisseure ihr filmisches Handwerk und nehmen uns darüber hinaus mit auf eine unterhaltsame Reise mit vielen Stationen und bedeutenden Vertretern der internationalen Kunst und Literatur, die uns zudem vor Augen führt, wie international und universell die Wertschätzung dieser Druckkunst ist.

Lobende Erwähnung

Auf Teufel komm raus
von Mareille Klein, Julie Kreuzer

Den Regisseurinnen gelingt es, die vielschichtige Auseinandersetzung um die fehlende Akzeptanz der Ansiedlung eines Sexualstraftäters in einem kleinen Ort nach Verbüßung seiner Strafe und die nachfolgende mediale Dynamik auf höchst differenzierte Art darzustellen.
Faszinierend ist es vor allem, wie genau sich die beiden Filmemacherinnen ihren zum T. sehr problematischen Protagonisten zu nähern verstehen und wie ihre sensible Interviewtechnik im Lauf des Films für den Zuschauer stets neue Lebensgeschichten und Bedeutungsebenen zutage fördert.

Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film

Das Schiff des Torjägers
von Heidi Specogna

Jurys

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Michael Girke (Herford)
Daniella Marxer (Paris)
Hannah Pilarczyk (Hamburg)

3sat-Dokumentarfilmpreis

Till Brockmann (Zürich)
Heike Hupertz (Frankfurt/Main)
Michael Pekler (Wien)

Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts

Christian Lüffe (München)
Isabel Mardones (Santiago de Chile)
Karin Oehlenschlaeger (Boston)
Marlies Pfeifer (Glasgow)
Barbara Reich (Nairobi)

Kommission

Werner Dütsch
Geboren 1939. Kindheit, Jugend und Schulen im Rheinland und im Ruhrgebiet. Arbeit in der Chemieindustrie, in Filmclubs, Filmtheatern und der Kinemathek in Berlin. Über drei Jahrzehnte Redakteur beim WDR: Filmprogramme, Produktion von Filmsendungen und Dokumentarfilmen – bis 2004. Dozent an der Kunsthochschule für Medien Köln.

Vrääth Öhner, Dr. phil.
Geboren 1965 in Linz (OÖ). Film-, Medien- und Kulturwissenschaftler. Studium der Publizistik- und Kommunikations- sowie der Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zu Theorie, Ästhetik und Geschichte von Film und Fernsehen, zu Medien- und Populärkultur. Arbeitet derzeit am Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft an einer Fallstudie über den „Justizpalastbrand 1927 als Krisensymptom gerichtlicher Ordnungsmacht“. Lebt in Wien.

Andrea Reiter
Geboren 1973 in Mainz (DE), kam 1984 in die Schweiz. Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Zürich & Köln. 2001-06 Regieassistentin & Producerin für die Dokumentarfilmproduktion Boomtownmedia in Berlin. Lebt und arbeitet als freie Autorin und Dokumentarfilmerin in der Schweiz und Dänemark. Filmografie: 2008 etoy – Mission Eternity; 2004 Lebenslust und Lampenfieber

Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Arbeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.

Lars Klostermann
Geboren 1973 in Moers. Studium der Kommunikationswissenschaft, Philosophie und Filmtheorie in Essen. Mitarbeit bei verschiedenen Film- und Kunstfestivals, wie der Duisburger Filmwoche oder aktuell dem vierwändekunst Festival, Düsseldorf. Seit 2005 als Dozent für „doxs – dokus für Kinder und Jugendliche“ und für das „Grimme Institut“ tätig. 2009 Gründung der „Meta-Unlimited“ GbR, Agentur für Video und Screendesign. Lebt und arbeitet in Düsseldorf.

Werner „Swiss“ Schweizer
Geboren 1955 in Luzern. Studium der Soziologie, Publizistik und Europäische Volksliteratur in Zürich (lic. phil. I). Mitgründer der Mediengenossenschaft Videoladen (1977) und der Produktionsfirma Dschoint Ventschr Filmproduktion AG (1987). Arbeitet in dieser Firma als Produzent von Dokumentarfilmen. Absolvent EAVE, Graduate 1990. Aktiv in der Schweizerischen Filmpolitik, u.a. Stiftungsrat der Cinematheque Suisse in Lausanne und Vorstand der Urheberrechtsgesellschaft Suissimage. Bereitet zur Zeit einen Kino-Dokumentarfilm über Iris und Peter von Roten vor („Verliebte Feinde“). Filmographie: (Auswahl) 1989 Dynamit am Simplon; 1996 Noel Field – der erfundene Spion; 2002 Von Werra; 2008 Hidden Heart

Filme

How to Make a Book with Steidl (Gereon Wetzel, Jörg Adolph | DE 2010)
Autisten (Wolfram Seeger | DE 2009)
Von der Vermählung des Salamanders mit der grünen Schlange (René Frölke | DE 2010)
Nachtschichten (Ivette Löcker | AT 2010)
Der Tag des Spatzen (Philip Scheffner | DE 2010)
Grabe Dir den Brunnen bevor Du trinken willst (Tina Gerken | DE 2010)
Holding Still (Florian Riegel | DE 2010)
Geysir und Goliath (Alexander J. Seiler | CH 2010)
Liebe Geschichte (Klub Zwei: Simone Bader, Jo Schmeiser | AT 2010)
Die grosse Erbschaft (Fosco Dubini, Donetello Dubini | CH/DE 2010)
STERNE (Frank Wierke | DE 2010)
Herr Berner und die Wolokolamsker Chaussee (Serpil Turhan | DE 2010)
Das Schiff des Torjägers (Heidi Specogna | DE/CH 2010)
Zwei, drei Standorte (Martina Müller | DE 2010)
Die fünf Himmelsrichtungen (Fridolin Schönwiese | AT 2009)
Al-Halqa – Im Kreis der Geschichtenerzähler (Thomas Ladenburger | DE 2010)
A Road Not Taken (Christina Hemauer, Roman Keller | CH 2010)
Gesicht und Antwort (Peter Ott | DE 2010)
Tage des Regens (Andreas Hartmann | DE 2010)
LUS oder Geschmack am Leben (Erwin Michelberger | DE 2010)
Die Wahrheit über Dracula (Stanislaw Mucha | DE 2010)
Kleinstheim (Stefan Kolbe, Chris Wright | DE 2010)
Auf Teufel komm raus (Mareille Klein, Julie Kreuzer | DE 2010)
Soy libre (Andrea Roggon | DE 2010)

Extras

Sieben Dokumentarische Miniaturen aus der Werkstatt der Kunsthochschule für Medien Köln

Der Körper des Autoren. Klaus Wildenhahn zum 80. – ein Gespräch

Die Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord | FR 1973)

Es Ist DENNOCH möglich (Peter Hesse, Bernd Uhlen | DE 2010)

Kinostudija Novyj kurs (Pavel Pechenkin | RU 2008)

Motto

HORIZONT

Man kann kein Bild von der Welt machen; immer sind es Ausschnitte, Ausgewähltes, Augenblicke. Zusammengefügt und zusammengedacht zum Teil eines möglichen Ganzen.

Und immer steht man im Horizont seiner Zeit und deren Möglichkeiten. Aber manchmal sehen die Bilder weiter, überschreiten den Horizont und zeigen andere Wirklichkeiten. Neue Bilder. Nachdenkliche Bilder.