Film

Nachtschichten
von Ivette Löcker
AT 2010 | 97 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 34
02.11.2010

Diskussion
Podium: Ivette Löcker
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Markus Dewes

Synopse

Während die meisten Menschen schlafen, gibt es Gründe, wach zu sein. Sprayer, Polizei und der Kältebus der Berliner Stadtmission sind im Einsatz, Sicherheitsdienste wachen. Andere machen Musik, einsame Wölfe sind unterwegs. Still ist es und kalt, Schnee liegt über Berlin. „Die Nacht kommt immer.“

Protokoll

Nachtschichten, das Prisma einer nächtlichen Umgebung. Porträt einer Stadt, ihrer Armut, Wut und Einsamkeit. Berlin von oben und unten, Wärmebildaufnahmen von klimatischer und sozialer Kälte. Einzelne Protagonisten geben dieser fragmentarisierten, in nächtliche Farben getauchten Annäherung ein individuelles Gesicht. Ein Obdachloser, ein Sprayer, ein Nachtwanderer, eine DJane, Polizisten der Luftüberwachung und Mitarbeiterinnen des Berliner Kältebusses kommen zu Wort, werden durch die verschneiten Berliner Nächte begleitet. Welches Bild ergibt sich aus diesen Einzelperspektiven?

Werner Ruzicka eröffnet die Diskussion mit der Frage nach den Beweggründen, der Motivation einer Wienerin und Wahlberlinerin einen solchen Film über die „Stadt ohne Ende“ zu drehen, erkundigt sich, welcher Stellenwert dem „Mythos Berlin“ bei der Planung eingeräumt wurde. Die Autorin/Regisseurin Ivette Löcker begründet die Wahl ihres Sujets mit folgendem Vergleich: „Die Berliner Nächte sind völlig anders als die Wiener [Nächte]“, es galt nicht nur den Mythos zu umrunden, sondern auch aufzuzeigen, wer diese Nachtmenschen sind, denen eine Existenz am Tage verwehrt wird, Menschen, die „tagsüber unsichtbar bleiben […], die aus dem Tag verstossen, in der Nacht ein Refugium gefunden haben“ und die sich „eingerichtet haben in der Nacht“.

Der Fokus auf die Anonymität und die Einsamkeit wird meteorologisch durch den Einbruch des Winters nochmals verschärft, wirft Werner Ruzicka ein. War dieser Effekt beabsichtigt? Löcker entgegnet, dass das Filmen einer Sommernacht nicht die erwünschten Aspekte betont hätte, eine Verschärfung der düsteren Seite der Metropole und dass der Schnee natürlich als ein starker visueller Verstärkungsreiz diente.

Waren die Personen, die mit der Kamera begleitet wurden, besondere Menschen? Nach welchen Kategorien wurden sie ausgesucht? Auf diese Frage nach der Auswahl der mitwirkenden Protagonisten, antwortet die Regisseurin, dass sie versuchte verschiedene to pographische Bereiche mit gegensät zliche Protagonisten zu beset zen. Einerseits die Menschen, die sich mit ihren Sehnsüchten in der (sie) schützenden Nacht eingerichtet haben, und andererseits Menschen, „die die Nacht verwalten“.

Werner Ruzicka bindet den beisitzenden Kameramann Frank Amman (Berlin) mit der Frage nach Blick- und Bildpolitiken ein und versucht zu erfahren, welche Funktion das besondere Licht für den Film hatte. Amman betont die besondere Atmosphäre der Nacht, welche die Arbeit eines Kameramanns „dankbar“ macht. Er hebt insbesondere die Lichtnuancen hervor, wenn er davon spricht, dass „das Licht in der Nacht verschiedene Farben besitzt“, was es den Orten erlaubt sich „in ihrer eigenen Farbe zu zeigen“. Die Topografien sind hierbei zweitrangig, es geht eher um die Erfahrbarmachung des Zustandes der einzelnen Orte. Der durchgehende Winter wird als Glücksfall bezeichnet, dessen „geschenktes Licht“ ein besonderes Gestaltungsmerkmal ist.

Die Frage wendet sich dem Ton zu, welcher von Werner Ruzicka als auffällig leise bezeichnet wird, ein Ton, der eher im Hintergrund wirksam ist. Löcker bestätigt dies, ihr ging es bei der bewussten Dämpfung des Tons um die Schaffung eines „privateren“ Klangbildes, welches die Menschen präsenter machen und die weniger öffentlichen Seiten der Nacht auf der Tonebene wiedergeben sollte.

Die Anfangssequenz wird untersucht, hier dominiert nicht das Bild des landenden Jets und des aufsteigenden Helikopters und die damit einhergehende Dynamik von Annäherung und Entfernung die Bildpolitik, sondern die Parallelisierung von Jäger und Tier, so Löckers. Die Nacht wird somit zum verbleibenden Lebensraum der Tiere, welcher durch den antagonistisch montierten Jäger (und Verwalter der Nacht) bedroht wird; der Rückzugsraum, der Ort der Sicherheit vor dem Tag wird zunehmend kleiner.

Ein Wechsel hin zum Schnitt, Werner Ruzicka bezeichnet die episodisch angelegten Kamerafahrten mit den wechselnden Protagonisten als kamerapolitisch organisierte Dramulette, deren dramaturgische Inszenierung deutlich wird. Dieser Eindruck wird durch die Autorin bestätigt, die zugewiesenen Räumlichkeiten sollten „adäquate Orte“ für die einzelnen Darsteller sein, welche zunächst einzeln gefilmt und später im Schnitt zusammengefügt und überblendet wurden. Auch die Redekonzepte, welche nicht immer sichtbar machen, wer gegenwärtig spricht, waren dramaturgisch bestimmt. Die Verwirrung innerhalb der Ordnung des Dialogs war gewollt, obwohl vom eigentlichen Konzep t der vollständigen Entkörperlichung der Stimmen abgesehen wurde.

Die erste Publikumsfrage nimmt die Auswahl der Protagonisten wieder auf und erkundigt sich nach den möglichen strafrechtlichen Konsequenzen des Abfilmens der Aktivitäten des Grafittisprayers. Löckers erklärt, dass man sich nach rechtlicher Beratung und trotz der schwierigen juristischen Lage für die Verwendung des Materials entschieden hat, welches fraglos eine Straftat abbildet. Zur bereits ausgeführten Auswahl der Protagonisten wird ergänzt, dass es sich um Personen handeln musste, die auf verschiedene Weisen „mit der Nacht und der Dunkelheit konfrontiert“ sind.

Die nächste Publikumsfrage beklagt das Nichteinlösen des Prologs bzw. die fehlende Verbindung zum filmischen Material. Löckers erklärt, dass diese Vorbemerkung als Türöffner zu verstehen ist, welcher deutlich machen soll, dass der Zuschauer (und Filmer) in die „Nacht hinaus gehen muss“ um sich dort dem „Sog der Nacht“ hinzugeben. Notwendig, weil es ansonsten nicht zu einer Konfrontation mit der Dunkelheit kommen kann.

Eine weitere Publikumsfrage betrifft den Einsatz der Materialien, der technischen Mittel und der Kamerawahl. Amman erklärt hierzu, dass eine leistungsstarke, kleine Digitalkamera verwendet wurde, deren hohe Lichtempfindlichkeit und Mobilität ausschlaggebend war, weil es wichtig war mit den einzelnen Protagonisten „mitgehen zu können“ und so personennah die speziellen Topografien zu durchschreiten, was für die Rhythmisierung des Films von großer Bedeutung war.

Werner Ruzicka weist auf diese spezifische Personenporträtierung hin und merkt an, dass die Darsteller Fragmente ihrer Biografien sichtbar werden lassen, die „glücklicherweise nicht zu Ende erzählt werden.“ Die Personen finden somit zu sich und treten aus der Ein zel per s pek tive innerhalb des s täd ti schen Prismas „vermenschlich t “ hervor, sie privatisieren ihren nächtlichen Raum. Löcker bejaht diese Deutung und erklärt, dass durch ein Zerbrechen der Oberfläche der nächtlichen Routinen ein „Durchdringen zu ihren Sehnsüchten“ erzielt werden sollte.

Die weiteren Publikumsfragen betreffen Räumlichkeit und Ton des Films. Insbesondere die direkte, fast unmittelbare Nähe, welche durch die klar wahrnehmbare Atmung eines Protagonisten eingefangen wird, dient als gelungene Einspeisung von Körperlichkeit.

In seinem Schlusswort unterstricht Werner Ruzicka, dass dieser Film zahlreiche topografische und biografische Narrative „sehr anspruchsvoll“ miteinander verwebt und ein reichhaltiges Angebot an dokumentarischen Stilen vereint. Der Film überzeuge durch seine konsequenten Blick – und Bildpolitiken, die sich nicht scheuen bei den biografischen Miniaturen sehr nahe an die Gesichter der Handelnden heran zu gehen, und auch durch die eindrucksvolle Inszenierung von Bewegung innerhalb der Räumlichkeiten.