Film

Soy libre
von Andrea Roggon
DE 2010 | 87 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 34
06.11.2010

Diskussion
Podium: Andrea Roggon, Hagen Schönherr (Kamera), Petra Lisson (Kamera)
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Ann Katrin Thöle

Synopse

Alltag im kubanischen Sozialismus: der volle Bus muss erklommen, Abschiede gefeiert, kleine Händel abgewickelt werden. Dazwischen sind Fetzen von Gesprächen zu hören und die Dinge, über die man nichts sagt. Mit melancholischem Stoizismus ist das zu bewältigen. Wenn nur die Languste mit zerlassener Butter nicht wäre.

Protokoll

Schlussakt im Programm der Horizonte.

SOY LIBRE nimmt uns mit nach Havanna, Reiseziel und Sehnsuchtsort wintergeplagter Europäer, berühmt und gerühmt für seinen morbiden Charme – kaputte Häuser, Zigarren, alte Autos, Sonne, Meer und Buena Vista Social Club… Also noch ein Film, der altbekannte Klischees bedient? Auch bei Werner Ružička löste das Stichwort „Kuba“ zunächst keine Begeisterungsstürme aus. Andrea Roggon aber beweist mit ihrem Diplomfilm, dass es jenseits abgegraster Bilderlandschaften noch etwas zu entdecken gibt, wenn man den Blick hinter die Fassaden wagt und auf die eigene Neugierde vertraut. Zusammen mit Hagen Schönherr und Petra Lisson, mit denen sie eine eher kollaborative als hierarchische Arbeitsweise verfolgte, hat sie neue Bilder gefunden, die im Zusammenspiel mit der Tonebene eine, so Ružička , poetische Kraft entfalten.

Gegen Ende eines einjährigen Studienaufenthalts in Havanna begann sich Roggons Kuba-Bild zu verändern. Sie wollte, so berichtet die Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg, filmisch diesen gewissen Punkt herauskristallisieren, der sie berührt hat, eine besondere Stimmung, die vielleicht mit Melancholie oder Apathie zu beschreiben wäre (beides übrigens wiederkehrende Zustandsschilderungen in den Duisburger Filmen und Diskussionen dieses Jahres). Aus dieser Überlegung heraus, aber auch angesichts der Tatsache, dass es für Kubaner noch immer gefährliche Konsequenzen haben kann, sich öffentlich kritisch zu der persönlichen oder zur politischen Lage des Landes zu äußern, ergab sich die Entscheidung, Bild- und Tonebene voneinander zu trennen. Aus dem Off hören wir also Stimmen, ohne das dazugehörige Bild zu sehen. Dass die unterschiedlichen Schichten dennoch ineinander greifen, Bild und Ton miteinander zu korrelieren scheinen und gleichzeitig eine Vielstimmigkeit erzeugen, hängt mit dem visuellen Konzept zusammen, das Roggon und Schönherr entworfen und an dem sie lange gefeilt haben. Ziel war es, die Welt erlebbar zu machen, die Unmittelbarkeit der Zeit- und Raumerfahrung und das Gefühl des Reisens ins Bild zu übertragen. Als grundlegendes filmisches Stilmittel drängte sich die Plansequenz geradezu auf, weil sie dazu zwingt, „in einem Moment und einem Raum zu sein und zu bleiben“. Dass sich Schönherr schon länger mit dem ästhetischen und erzählerischen Potenzial der Plansequenz beschäftigt, kam diesem Ansatz zugute. Unterstützt wird die Strategie des Erfahrbarmachens auch durch die Musik. Sie vermag einen Wechsel der Reflexionsebenen einzufangen, beziehungsweise auszulösen: in bestimmten Momenten lässt sie einen verweilen, stößt Gedanken an, ruft eine Erinnerung oder ein Gefühl hervor.

Beim Ton erhielt das Team Verstärkung von einem Kollegen aus Guatemala, der ein komplettes Tonkonzept entwickelte. So etwas seien sie aus Deutschland nicht gewohnt gewesen, betont Roggon. Denn leider werde der Ton im Dokumentarfilm hierzulande immer noch stiefmütterlich behandelt und die Filmschulen hätten diesbezüglich einiges an Versäumnissen aufzuholen.

Ružička findet, das formal-ästhetische Konzept der jungen Filmemacher ist aufgegangen. Der Eindruck: Laufen und schauen, was passiert… Das erinnert an Klaus Wildenhahn: „Dabei sein, gerade auch dann, wenn man nicht alles versteht.“ Die Neugierde des Flaneurs hat etwas, was der soziologisch-archäologische Blick nicht bieten kann.

SOY LIBRE reflektiert die Grenzen individueller Handlungs- und Entscheidungsgewalt und wirft Fragen nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Freiheit auf. Auch jenseits von Kuba: Wie ist es um die eigene Freiheit bestellt? Ein Diskussionsteilnehmer etwa fühlte sich veranlasst, über seine Träume und Vorstellungen nachzudenken. An anderer Stelle wird der Vergleich zur DDR im Jahr 1989 gezogen. Damals hätte eine ganz ähnliche Stimmung geherrscht, das Gefühl des Eingesperrtseins und gleichzeitig der Impuls: wir müssen hier bleiben, hier etwas verändern, hier um unsere Freiheit kämpfen. Tatsächlich erklärt sich für Schönherr, der aus Sachsen kommt, sein Interesse an Kuba auch vor dem Hintergrund der persönlichen Vergangenheit. Durch die Dreharbeiten ergab sich die Möglichkeit, einmal zu überprüfen, wie es mit dem Ostblock weitergegangen ist. Manchmal seien auch Kubaner auf ihn zugekommen um sich zu erkundigen, wie das nach dem Ende des Sozialismus denn nun sei, ob sich die daran geknüpften Hoffnungen erfüllt hätten.

Im Film gibt es eine einzige Person, deren Stimme ein Gesicht erhält: Yoani Sánchez, die Frau, von der man sagt, sie raube Fidel Castro den Schlaf. Über ihr weltweit bekannt gewordenes Internetblog „Generación Y“ spricht sie soziale Missstände und politische Widersprüche an. Dass sie dies nicht anonym, sondern unter ihrem richtigen Namen tut, hat bisher noch keine staatlichen Repressalien nach sich gezogen – erstaunlicherweise. Für Roggon war die Bloggerin eine Möglichkeit, den Eindruck von Bewegungslosigkeit zu durchbrechen und einen sich allmählich vollziehenden Bewusstseinswandel zumindest anzudeuten. Hier ist jemand, der sein Leben selbst in die Hand nimmt und jene aufrüttelt, die sich nicht zu bewegen wagen.

Was seine berufliche Zukunft betrifft, so hätte sich Hagen Schönherr gern in die Richtung bewegt, die ihm ursprünglich vorschwebte. Aber ungünstige arbeitsstrukturelle Faktoren sowie wirtschaftliche und ästhetische Zwänge, mit denen er sich zunehmend konfrontiert sah, haben ihn dazu bewogen, vorerst eine andere Laufbahn einzuschlagen. Als Kameramann wird er nur noch ab und zu ausgewählte Filmprojekte übernehmen. Solche, von denen er wirklich überzeugt ist, bei denen eine echte filmische Vision zu erkennen ist. So wie bei SOY LIBRE.

 Andrea Roggon, Petra Lisson v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Andrea Roggon, Petra Lisson v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald