Film

Herr Berner und die Wolokolamsker Chaussee
von Serpil Turhan
DE 2010 | 39 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 34
04.11.2010

Diskussion
Podium: Serpil Turhan, Eva Hartmann (Schnitt, Ton)
Moderation: Werner Dütsch
Protokoll: Judith Funke

Synopse

Oft denkt er zurück, jetzt, nachts, wenn er nicht schlafen kann, denkt an alte Zeiten. Was man hätte besser machen können. Er hat es immer gut erwischt, im Krieg bei der Waffen-SS und auch danach, konnte sich anpassen. Vielleicht hätte man es anders gemacht. Aber man weiß es nicht. „In meinem Kopf der Krieg hört nicht mehr auf“.

Protokoll

Ein sehr junger Film, und doch ist schon in seiner Materialität die Vergangenheit präsent, in Körnern, Kratzern, Flecken, die durch die schwarz-weißen Bilder wimmeln. Als Final Cut Pro-Effekt sähe das anders aus, versichert die Regisseurin, nicht so organisch und verrückt. Fünf Rollen 16mm-Film hat sie im Rahmen einer Übung selbst entwickelt. Eine „Rückkehr zur Manufaktur“ (Dütsch): Einmal nicht digital drehen, sondern den Film anfassen, sich der Begrenztheit und Unberechenbarkeit des Materials aussetzen. Für Turhan ein enorm aufwändiges, aber sehr spannendes Experiment, „wie ein Überraschungsei“.

Das Ausgangsmaterial allerdings entstammte einem anderen Medium (und einem anderen Seminarprojekt): aus der Auseinandersetzung mit Heiner Müllers Drama „Wolokolamsker Chaussee“. Turhan wollte das Werk von alten Menschen vorlesen lassen; zufällig geriet sie bei der Suche im Altenheim an Herrn Berner, besprach und las den Text mit ihm, machte Tonaufnahmen. Einmal die Woche, bis sie fertig waren. Angeregt durch Müllers Text kam Herr Berner auf eigene Erinnerungen zu sprechen, Parallelen taten sich auf, Fakten kamen zutage – der Anstoß für langwierige Recherchen und eine intensive, belastende Phase der Beschäftigung mit Berners SS-Vergangenheit. Turhan hatte sich zuvor nicht näher mit dem Nationalsozialismus befasst, wie ein „naives Küken“ sei sie an die Situation herangegangen: „Das war alles neu für mich“.

Dennoch: Den Vorwurf, sie habe „ihre Hausaufgaben nicht gemacht“, weist sie entschieden von sich. Sie sei schließlich keine Historikerin, ihre Intention und Vorgehensweise sei eine andere gewesen. Zustimmung aus dem Publikum: Ein mutiger Film, ein spannendes Verfahren. Schade, wenn die ältere Generation das alles einfach so wegwischt. Auch hinsichtlich der angestellten Vergleiche (Ophüls, Harlan) wird eingeworfen, man müsse vorsichtig sein, nicht einen Filmemacher mit dem anderen zu schlagen.

Turhans Verwendung des literarischen Textes wird problematisiert: Wie steht es um ihre Verantwortung gegenüber dem Autor, dessen Material benutzt wird? Sie sei sehr fürsorglich mit Müllers Text umgegangen, betont Turhan, und auch mit Berner habe sie den Text eingehend besprochen. Natürlich ist es legitim, Müllers Material zu verwendenwird ihr beigepflichtet, genauso wie er es mit den Texten anderer Autoren getan hat. „Dazu sind Kulturgüter da.“

Es wird der Vorwurf geäußert, Turhan habe sich als Filmemacherin missbrauchen lassen; anstatt den Aussagen Berners kritische Fragen und filmische Verfahren entgegenzusetzen, nutze sie Müllers Autorität als Autor, um sich zu wehren. Peter Ott dagegen sieht in der Verwendung von Müllers Text einen Akt der Rache. „Immerhin wird dieser Text durch seinen Körper gejagt“, eine Parallele zu Harlans WUNDKANAL.

Uneins ist sich das Publikum über die Texttafeln am Schluss, die die Ergebnisse von Turhans Recherchearbeit festhalten. Sie sind aus dem Bedürfnis heraus entstanden, noch einmal zu sagen, wie groß die Verbrechen der fraglichen Kavallerieeinheit waren, Berners Selbstaussagen nicht unkommentiert stehen zu lassen.

Die Untertitel waren in erster Linie als Verständnishilfe notwendig, erläutert die Regisseurin; sie selbst habe Berners Aussagen nur mit Mühe und teilweise erst bei der Transkription verstanden. Sie mit Schwarzbild zu hinterlegen war ihr allerdings auch grafisch wichtig, als ein Hintergrund, vor dem die Sprache sichtbar werden kann. Auch die Verschriftlichung, der Prozess der Verbindung von geschriebener und gesprochener Sprache in den Untertiteln polarisiert. Eine gelungene Konfrontation mit der Leerstelle im Bild, heißt es, aber auch: „Als Form interessant, politisch problematisch“.

Für Dütsch entwickelt sich der Erkenntnisprozess im Film aus der Sprache heraus, Ästhetik und Inhalt seien hier nicht zu trennen. Er lobt die literarische Qualität des Gesehenen: aus der Montage des Materials entstehe ein dichter, kompakter Text, der vor allem durch die körperliche Konfrontation des Zeitzeugen sehr lebendig wirke. Mechanismen der Verdrängung werden offengelegt, es wird deutlich, wie Erinnerungen so weit verformt werden, bis man sie erzählen kann, in immer wieder kehrenden Phrasen.

Ein „subtiler Horrorfilm“, lobt Ruzicka, eine Geisterbeschwörung, die einen Menschentypus in all seiner „Bräsigkeit“ exhumiert. Und nicht zuletzt auch eine Exploration über die Unmöglichkeit, Erinnerung im Film festzuhalten.