Duisburger Filmwoche 35
stoffe
7. bis 13.11.2011

Festival Plakatmotiv

Grafik: Tilman Lothspeich

Preisträger:innen

3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

Carte Blanche
von Heidi Specogna

„Carte Blanche“ ist ein Film der Kontraste. Hier der Angeklagte, beschuldigt des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, dort die Opfer dieser Verbrechen. Hier die kühle Architektur des Gerichtsgebäudes in Den Haag, dort die Ärmlichkeit der Lehmhütten in Zentralafrika. Hier die organisierte Langmut juristischer Verfahren, dort der Schrei des Mädchens, dessen Beinwunde nicht heilen will.
Zwischen diesen Polen entwickelt der Film sein politisches Sujet. Er beschreibt das Verfahren, das der Internationale Gerichtshof in Den Haag gegen den kongolesischen Milizenführer Jean-Pierre Bemba vorbereitet. Dessen Truppen hatten 2002-2003 die Zivilbevölkerung terrorisiert, gemordet und vergewaltigt. Der Film verfolgt, wie die Mitarbeiter dieses Gerichts, Staatsanwälte, Ermittler, Forensiker arbeiten, um diese Verbrechen nachzuweisen und welche Motive sie antreiben.
Der Film verfolgt selbst eine Strategie, die jener des Gerichts gleicht: er setzt auf Augenzeugenschaft und Beweissicherung. Ein klassisches dokumentarisches Verfahren. Er zeichnet sich aus durch hartnäckige und präzise Recherche und zugleich durch Parteilichkeit. Heidi Specogna setzt die Opfer in einer Weise ins Bild, die ihnen ihre Würde wieder zurückgibt. In diesen Bildern steckt die Hoffnung, das lange Warten auf Gerechtigkeit möge am Ende belohnt werden.

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Aber das Wort Hund bellt ja nicht
von Bernd Schoch

Der Titel des Films ist ein Spiel mit der Semantik. Er setzt weder Punkt noch Fragezeichen, sondern scheint eine Entgegnung auf einen Satz zu sein, der uns unbekannt bleibt. Als Fragment einer Unterhaltung verweist er auf das, was wir nicht sehen und nicht wissen können. Und dennoch setzt er etwas in die Welt.
Die Arbeit mit Fragmenten setzt sich im Film fort. Drei Musiker bei der Arbeit. Wir sehen aber immer nur einen von ihnen. Vorsichtig beginnen seine Bewegungen, Klänge, steigern sich, werden laut, das Bild gerät in Vibration. Schweißperlen. Wir hören, was wir nicht sehen und sehen, was wir nicht hören.
Ein Schnitt, Stille.
Wieder ein Fragment, diesmal in Form einer Stimme, die aus dem Leben eines Berufsmusikers erzählt. Dann beginnt die Wiederholung der Form.
Der Film seziert ein Ereignis und setzt es im Kino wieder zusammen. Er verengt den Raum, dehnt die Zeit, und ermöglicht dadurch eine intensive Kino-Erfahrung mit dem Free Jazz des Schlippenbach-Trios. Und plötzlich wird das Unsichtbare hörbar und das Fragment gleichbedeutend mit dem Ganzen. Dieser Film ist mehr als ein Musikerportrait. Es ist auch ein Film, der auf radikale Weise von der Übersetzung, der Neuerfindung von Wirklichkeit im Dokumentarfilm handelt.
Der Arte-Dokumentarfilmpreis geht an „Aber das Wort Hund bellt ja nicht“ von Bernd Schoch.

Förderpreis der Stadt Duisburg

Anna Pavlova lebt in Berlin
von Theo Solnik

Was passiert eigentlich, wenn der Rausch zum Alltag wird? Wenn die Flucht zum Ritual erstarrt? Wenn es nur noch Nächte und keine Tage mehr gibt?
In bestechenden Schwarz-Weiß-Bildern erzählt unser ausgezeichneter Film von einem Leben, in dem es keine Kontraste mehr gibt. Wo Sprache zu Lallen wird, Begegnungen zu Kollisionen, Leben zu Brei.
Und dann ist es doch ganz anders. Dann lernen wir eine Frau kennen, die eine Vergangenheit hat und an die Zukunft denkt. Deren Gegenwart mehr Spannungen enthält, als wir es auf den ersten Blick vielleicht vermuten. Wir sehen, wie sie verletzt wird und andere verletzt. Wie sie ausgenutzt wird und selber ausnutzt. Wir kommen einer Frau näher, die auf sich allein gestellt ist und deren Verlorenheit uns erschüttert.
Dennoch erklärt sie sich nur aus dem Zusammenhang einer Stadt heraus, die zum Treiben gemacht zu sein scheint, die das Denken an morgen verschiebt und den Augenblick, das Jetzt, immer noch etwas ausdehnen möchte.
Der Film, den wir mit dem Förderpreis auszeichnen, bringt uns eine Frau näher, einen Lebensstil und eine Stadt. All diesen Reichtum trägt er in seinem Titel: „Anna Pavlova lebt in Berlin“.

Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film

Die große Passion
von Jörg Adolph

Jurys

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Michael Girke (Herford)
Nele Wohlatz (Karlsruhe/Buenos Aires)
Hannah Pilarczyk (Hamburg)

3sat-Dokumentarfilmpreis

Geri Krebs (Zürich)
Michael Pekler (Wien)
Fritz Wolf (Düsseldorf)

Kommission

Suzanne Mi-Son Quester
Geboren 1979 in Starnberg. Musikstudium in München, nach einem einjährigen Aufenthalt in Südkorea und Japan Wechsel zur Japanologie nach Berlin. Ab 2001 Dokumentarfilm an der Filmhochschule in München. 2004/2005 Studienaufenthalt in Südkorea mit einem Stipendium des DAAD. Seit 2006 freiberufliche Tätigkeit als Filmemacherin. Seit 2009 Lehraufträge für Schnitt an der HFF München. Liebt Amateurmusik und arbeitet an einem Dokumentarfilm über „HEIDI – eine Geschichte der Kindheit“. Filme (Auswahl): FINOW (2002); DIENSTAG und ein bißchen mittwoch (2007); EIKI – vielleicht nach Japan (2010)

Andrea Reiter
Geboren 1973 in Mainz (DE), kam 1984 in die Schweiz. Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Zürich & Köln. 2001-06 Regieassistentin & Producerin für die Dokumentarfilmproduktion Boomtownmedia in Berlin. Lebt und arbeitet als freie Autorin und Dokumentarfilmerin in der Schweiz und Spanien. Filmografie: 2011 Avan’s art work; 2008 etoy – Mission Eternity; 2004 Lebenslust und Lampenfieber

Jana Wolff
Geboren 1976, aufgewachsen in Berlin. Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin. Von 1998 bis 2005 für die Berlinale und diverse andere Festivals tätig, von 2006 bis 2010 Festivalkoordinatorin an der dffb. Seitdem frisch, fromm, fröhlich und freischaffend unterwegs.

Till Brockmann
Geboren 1966 in Hannover, aufgewachsen im Tessin. Studium der Geschichte, Japanologie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2001 Lehrbeauftragter der philosophischen Fakultät. Seit 1995 als Filmjournalist und Filmkritiker, mehrheitlich für die NZZ tätig. Seit 2003 Dozent für Filmgeschichte und audiovisuelle Theorie an der European Film Actor School, Zürich. Seit 2007 Dozent für Filmgeschichte an der F+F, Schule für Kunst und Mediendesign Zürich. Seit 2002 Mitglied der Auswahlkommission und Diskussionsleiter der „Semaine de Critique“, Filmfestival Locarno. Dissertation: „Handbuch der Zeitlupe – Anatomie eines filmischen Stilmittels“.

Vrääth Öhner, Dr. phil.
Geboren 1965 in Linz (OÖ). Film-, Medien- und Kulturwissenschaftler. Studium der Publizistik- und Kommunikations- sowie der Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zu Theorie, Ästhetik und Geschichte von Film und Fernsehen, zu Medien- und Populärkultur. Arbeitet derzeit am Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft an einer Fallstudie über den „Justizpalastbrand 1927 als Krisensymptom gerichtlicher Ordnungsmacht“. Lebt in Wien.

Lars Klostermann
Geboren 1973 in Moers. Studium der Kommunikationswissenschaft, Philosophie und Filmtheorie in Essen. Mitarbeit bei verschiedenen Film- und Kunstfestivals, wie der Duisburger Filmwoche oder aktuell dem vierwändekunst Festival, Düsseldorf. Seit 2005 als Dozent für „doxs – dokus für Kinder und Jugendliche“ und für das „Grimme Institut“ tätig. 2009 Gründung der „Meta-Unlimited“ GbR, Agentur für Video und Screendesign. Lebt und arbeitet in Düsseldorf.

Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Arbeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.

Filme

Mondo Lux – Die Bilderwelten des Werner Schroeter (Elfi Mikesch | DE 2011)
Die große Passion (Jörg Adolph | DE 2011)
August (Mieko Azuma | DE 2011)
Fremd (Miriam Fassbender | DE 2011)
Emscher-Skizze I (Christoph Hübner, Gabriele Voss | DE 2006–11)
Wo stehst du? (Bettina Braun | DE 2011)
Farben einer langen Nacht (Judith Zdesar | AT 2011)
Subverses – China in Mozambique (Ella Raidel | AT 2011)
Carte Blanche (Heidi Specogna | CH 2011)
Way of Passion (Joerg Burger | AT 2011)
Abendland (Nikolaus Geyrhalter | AT 2011)
Emscher-Skizze II (Christoph Hübner, Gabriele Voss | DE 2006–11)
Day is done (Thomas Imbach | CH 2011)
Frau Macht (Tama Tobias-Macht | DE 2011)
Der Schatten des Propheten (Philipp Mayrhofer, Christian Kobald | AT/FR 2010)
Nichts für die Ewigkeit (Britta Wandaogo | DE 2011)
Emscher-Skizze III (Christoph Hübner, Gabriele Voss | DE 2006–11)
Die Herde des Herrn (Romuald Karmakar | DE 2011)
Aber das Wort Hund bellt ja nicht (Bernd Schoch | DE 2011)
Sonnensystem (Thomas Heise | DE 2011)
Eight Characters and Two Syllables (Andreas Schneider | DE 2011)
American Passages (Ruth Beckermann | AT 2011)
Emscher-Skizze IV (Christoph Hübner, Gabriele Voss | DE 2006–11)
Whores’ Glory (Michael Glawogger | AT 2011)
Tahrir im April (Juliane Henrich | DE 2011)
Kampf der Königinnen (Nicolas Steiner | DE/CH 2010)
Emscher-Skizzen (Christoph Hübner, Gabriele Voss | DE 2006–11)
Anna Pavlova lebt in Berlin (Theo Solnik | DE 2011)
Vaterlandsverräter (Annekatrin Hendel | DE 2011)

Extras

In Erinnerung an Friedrich Kittler

Ernste Spiele. Film und Lecture Harun Farocki

Zum Film überreden oder über Film reden?

Die Schlacht an der Somme (GB 1916)

Die Tage der Roten Engel – Geschichte einer Rock-Generation (Pavel Pečenkin | RU 2011)

Motto

stoffe

Zum 35. Mal die Stoffe, aus denen die Wirklichkeit ist. Die Stoffe, in denen sich die Wirklichkeit zeigt, sich erklärt, sich erzählt. Bilder mit Hintergrund, Menschen mit Würde. Zum 35. Mal in Duisburg. Dem Ort des Sehens, Denkens und Redens.