Film

Grabe Dir den Brunnen bevor Du trinken willst
von Tina Gerken
DE 2010 | 63 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 34
03.11.2010

Diskussion
Podium: Tina Gerken, Melanie Jilg (Schnitt)
Moderation: Andrea Reiter
Protokoll: Torsten Alisch

Synopse

Die Schwester kämpft mit dem Drang auszurasten. In den ramponierten Zimmern ihres Hauses gibt es selbstgenähte Kleider, Little-Kitty-Pluster-Pen-Bilder an der Wand, viel Rosa und einen blauen Plüschelefanten. Verzweiflung, Aggressionen und die Angst vor den verfolgenden, sich aufzwingenden Gedanken sind ihre ständigen Begleiter.

Protokoll

Die eigene Schwester filmen. Oder besser: den Wahnsinn der eigenen Schwester filmen. Geht das?

Die Anfangssequenz beginnt im Dunklen. Ein Atmen und eine Stimme: Wie soll es weitergehen? Ich weiß es nicht! (sehr deutliche, laute Schreie, und diese in verzweifelter Tonlage). Ein Vorhang taucht auf. Die Kamera traut sich nicht dahinter. Eine Frau kommt aus dem Raum hinter dem Vorhang – und schmeißt sich auf den Boden.

Eine Bild- und & Ton-Sequenz, die einen Film eröffnet.

Etliche Jahre vorher. Lebhaftes Erzählen der Schwester und der Gedanke: Das müsste man

filmen. Man? Die Schwester filmen, das muss ICH wohl machen (Tina Gerken).

Der Film: viel Wackeln, viel Sprechen, viel Schreien. 30 Stunden Rohmaterial verdichtet auf wenige, weiterhin roh wirkende Szenen, in denen dieser Denkzwang der Schwester sichtbar wird.

Tina Gerken geht es nicht um perfekte Kameraarbeit. Es geht darum, das Authentische einzufangen, es geht um Grenzen, die (eventuell) überschritten werden. Die Kamera ist durch ihre Ungeschliffenheit dauerhaft präsent, sagt jemand.

Der lange Gang mit der Kamera durch das leere, stille Haus impliziert bei manchen Zuschauern den Voyeurismus-Verdacht: In genau dieser Szene ist Lena nicht anwesend, und genau durch diese gefühlte Abwesenheit werde sie hier regelrecht vorgeführt. Das hätte so sein können, widerspricht Tina Gerken, aber diese Szene wie auch alle anderen waren mit Lena abgesprochen, gefilmt wurde nur mit ihrer Einwilligung. Dieser lange Gang durch das Haus zeigt die zwei Welten der Schwester: die mit sehr großem Gestaltungswillen gebaute rosarote Kitty-Welt und die ein Stockwerk höher liegende „Welt zum Ausrasten“ (ausflippen, durchdrehen, überschnappen, austicken).

Der fehlende Alltag im Film: Warum sehen wir keine Bilder vom Einkaufen oder dem angesprochenen Arztbesuch? Der Alltag Lenas spielt sich fast ausschließlich im Haus ab, erzählt Tina Gerken, während der vierwöchigen Drehzeit hatte Lena das Haus nur für diesen einen Arztbesuch verlassen, und nun dieses einmalige Ereignis zu zeigen, wäre dann genau nicht Alltag gewesen.

Die beschwichtigenden, kurzen Antworten der Filmemacherin auf Lenas Sätze, und das ähnliche Verhalten der Mutter, verstärken den Eindruck, dass dieses Haus nicht nur ein Schutzraum sondern geradezu ein Königreich ist, wo niemand anderes in Lenas Leben hineinreden und wo sie mächtig und grenzenlos werden kann: Auch die Dreharbeiten fanden nur auf Lenas Wunsch statt, wenn diese telefonisch zum Filmen rief. Eine Austarierung der Machtverhältnisse mit filmischen Mitteln, wo die Kamera zum Teil eine Macht- aber vor allem eine Schutzposition bietet, hinter die sich Tina Gerken zurückziehen kann, während die (kameralose) Mutter desöfteren in leichte Bedrängnis gerät.

Der im Film erwähnte Freund Frank bestätigt während der Diskussion persönlich diesen Eindruck, und er fügt hinzu, dass Lena sehr kraftvoll und aggressiv werden kann, sodass auch schon mal ein oder zwei Polizisten geholt wurden. „Der Kippschalter ist sehr wackelig“, sagt Frank, und völlige Nichtigkeiten können schnell zum Durchschlagen einer Wand führen.

Dieser Film soll kein Lehrfilm über Zwänge sein, er will allenfalls begreiflich und erfahrbar machen, dass es eine Unentrinnbarkeit aus diesen Zwängen gibt (und wie nah manches davon vielleicht dem eigenen Erleben kommt): Ein Kondensat, oder der Versuch einer Annäherung über Bilder, und auch eine Emanzipation gegenüber der Protagonistin.