Film

Der Tag des Spatzen
von Philip Scheffner
DE 2010 | 100 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 34
02.11.2010

Diskussion
Podium: Philip Scheffner
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Nadine Voß

Synopse

14. November 2005: in Leeuwarden wird ein Spatz erschossen, in Kabul stirbt ein deutscher Soldat. Mit den Methoden der Ornithologie auf der Suche nach dem Krieg in Deutschland. Bilder scheinbaren Friedens, zufällige Begegnungen, Vogelbeobachtungen. Dann wechselt die Perspektive. Ein politischer Naturfilm.

Protokoll

Blick auf einen Meerestrand, an dessen Horizont in unbestimmbarer Entfernung Bomben explodieren: Im Schlussbild finden sich zentrale Gedanken des Films visualisiert, Überlegungen zu Nähe und Distanz von Ereignissen und Prozessen, Grenzen der Sichtbarkeit und Strategien der Unsichtbarkeit. Die Frage „Befindet sich Deutschland im Krieg?“ dominiert die letzen Dialoge im Film; wann geraten kriegerische Ereignisse in den Radius der Sichtbarkeit, an welchem Punkt tangieren sie die eigene Realität? „Nähe ist eine Frage von Sich-ins-Verhältnis-setzen“ (Scheffner).

Einleitend fragt Öhner nach dem Namensgeber des Films, woraufhin Scheffner zunächst einen Zusammenhang zwischen ornithologischen und dokumentarfilmerischen Vorgängen herstellt: Die Logik des unsichtbaren Beobachtens von Vögeln und Menschen, die die eigene Präsenz zu leugnen sucht und dabei scheitern muss, stelle eine Parallele zwischen beiden Disziplinen dar und ziehe eine stetige Reflexion des Verhältnisses zwischen beobachtendem Selbst und Objekt mit sich. Es handele sich also mehr um einen Film über die Beobachtung von Vögeln, statt über Vögel selbst. Dennoch sei der Spatz im Speziellen ein ernstzunehmender Gegenstand und Protagonist des Films. Als „der Vogel an sich“, der aufgrund seiner städtischen Nähe in der menschlichen Wahrnehmung verhaftet ist und dessen weltweite Population gleichzeitig unerklärlicherweise zurückgeht, stellt der Spatz eine Analogie zur Sichtbarkeit von Krieg und Frieden dar. Definiert als „Ausnahmezustand des jeweils Anderen“ ist für Scheffner die Frage nach dem Frieden wichtiger als die nach dem Krieg, da Frieden in europäischen Breiten als Grundzustand anerkannt ist, während der Krieg stets in einem unsichtbaren „Anderswo“ verortet wird. Die Veränderung dieser eindeutigen Sichtbarkeiten vollzieht sich, wie die sinkende Population des Spatzen, kaum merklich: Entscheidungen, die von hier aus getroffen werden, Menschen, die von hier aus in den Krieg gehen, zurückkehren und mit ihren mitgebrachten Erfahrungen die Gesellschaft verändern. Tradierte Begrifflichkeiten geraten in Bewegung, müssen – auch und vor allem angesichts von Aktualitäten wie der Abschaffung der Wehrpflicht und terroristischen Phänomenen – neu überdacht werden: wie ist Frieden zu definieren und wo ist er (noch) zu finden? Befindet sich Deutschland im Krieg?

Der zugunsten des Domino-Day-Weltrekords erschossene Spatz in den Niederlanden und der Krieg in Afghanistan haben am Ende keine direkte Verbindung, stellt ein Diskussionsteilnehmer fest und formuliert seine Frustration über Geschichten, die angerissen und mit Spannungsmomenten aufgeladen, jedoch nicht auserzählt werden. Die Leerstellen in der Narration begründet Scheffner mit seinem Schnittkonzept: Bilder werden nebeneinander gestellt und erst im Nachhinein in Zusammenhang gebracht. Ziel dieses Konzeptes ist es, den Zuschauer in eine sich stets orientierende und Verbindungen herstellende Position zu versetzen; er wird selbst zum Beobachter. „Im besten Falle“, so Scheffner, „sieht man den Film nicht, man beobachtet ihn“. Die Spiegelung dessen findet sich im Einsatz der Kamera, die die Motive größtenteils in Totalen zeigt und Details im Close-up heranholt. Die Zuschauerposition eines Beobachters in Distanz wird verstärkt durch die Form des Sprechens der Protagonisten: Über lange Zeit hört man sie nur, ohne sie zu sehen. Erst im letzten Drittel des Films, in dem auch der Regisseur selbst zu Wort kommt, werden Stimmen und Sprechende in Zusammenhang gesetzt. Aus den Reihen des zuhörenden, vormals beobachtenden, Publikums wird angemerkt, dass diese Form der Darstellung die Gefahr birgt, institutionelle Strategien der Unsichtbarmachung des Krieges zu verlängern. Scheffner betont, dass in Bezug auf die Auswahl der Protagonisten Biographien oder Persönlichkeiten keine Kriterien gewesen seien. Anlass zum Sprechen sei die Landschaft gewesen, in der er die Menschen vorgefunden habe, und so fügen sie sich als Teil einer Soundscape in die gefilmte Landschaft wieder ein. Wichtig sei ihm auch, dass – wie in Bezug auf den jungen Veteranen – keine Personifizierung durch einzelne Erfahrungen gezeigt wird, sondern die Übertragungsmöglichkeiten präsent bleiben. Kritische Stimmen melden sich ebenfalls in Bezug auf Anliegen und Umsetzung: Ein Diskussionsteilnehmer merkt an, dass der Film auf der Suche nach Definitionen und Begrifflichkeiten in der Reflexion verhaftet bleibt, und dabei verpasst, Stellung zu beziehen. Jedoch, so argumentiert Scheffner, liegt die Aufgabe des Films als Medium der Wahrnehmung in diesem Fall nicht in der inhaltlichen Formulierung einer Haltung, sondern im Schaffen eines Freiraumes, der Reflexion erst ermöglicht. In diesem Kontext sei auch das Abbilden konkreter politischer Aktionen uninteressant im Gegensatz zu der Frage, an welchem Punkt das Handeln notwendig und warum die Entscheidung zur Aktion getroffen werde.

Gegen Ende des Gesprächs greift Scheffner die Problematik der Abbildbarkeit auf: Von Afghanistan gibt es ein Arsenal an Bildern, die sich der Dimension der Begreifbarkeit jedoch entziehen. Welche Bilder, welches Vokabular, welche Formen von Sprache und Veräußerung lassen sich finden? Bei Scheffner war es der Zufall, der durch Zeitungsartikel den Tod des Leuuwardener Spatzen und den Tod eines Soldaten zu Auslösern einer greifbaren Erfahrung machte. Wie schnell ein Blick auf die Mosel mit Afghanistan in Verbindung gebracht werden kann, zeigt, welche Stärke Bilder im Kopf im Gegensatz zu konkreten Abbildungen haben können. Zugunsten der Sensibilisierung müssen „für die Sichtbarkeit Umwege gegangen werden“; so ist DER TAG DES SPATZEN ein „Sich-ins-Verhältnis-setzen“ mit der sichtbaren Umgebung und ihren (fast) unsichtbaren Zusammenhängen.