Film

Al-Halqa – Im Kreis der Geschichtenerzähler
von Thomas Ladenburger
DE 2010 | 90 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 34
05.11.2010

Diskussion
Podium: Thomas Ladenburger, Lena Rem (Schnitt)
Moderation: Andrea Reiter
Protokoll: Markus Dewes

Synopse

Abderahim ist einer der besten Geschichtenerzähler Marrakeschs. Auf dem „Platz der Gehenkten“ bietet er seine Geschichten feil und möchte sein Können an seinen Sohn weitergeben. Kein einfaches Unterfangen, ein guter Erzähler braucht eine starke Persönlichkeit und viel Selbstvertrauen.

Protokoll

Al-Halqa – der Kreis, der Kreis der Erzähler. Lebendige Geschichte, gesprochene Tradierung, orale Überlieferung, die Narration als Weltkulturerbe. Ein warmherziger, eleganter, poetischer Film über Geschichten, das Geschichtenerzählen. Eine Dokumentation über ihre Erzähler, ein Nachdenken über die Traditionen der Halaiqi, ihre Fortschreibung, Modernisierung und über den Zauber der Sprache – dieses immaterielle Kunstwerk. Und eine berührende Erzählung über Vater, Sohn und Geschichte(n).

Andrea Reiter fragt Thomas Ladenburger nach seiner Motivation einen Film zu erzählen über die marokkanische Tradition des Geschichtenerzählens. Wann hat er begonnen die Beziehung zwischen Vater und Sohn (Abderahim und Zoheir El Maqori), die das Geschichtenerzählen als Beruf, möglicherweise als Berufung verstehen, zu thematisieren?

Ladenburger führt aus, dass er bei den Dreharbeiten zu seinem letzten Film in Ägypten mit den Berichten über diese Art des Geschichtenerzählens in Kontakt kam, sich jedoch herausstellte, dass diese Tradition in Kairo bereits ausgestorben ist. Bei der weiteren Recherche stieß er auf eine Unesco-Auszeichnung, die den Geschichtenerzählern eines bestimmten Platzes in der Altstadt von Marrakesh (Djemaa El Fna) verliehen wurde und die ihre Redekunst zum immateriellen Weltkulturerbe erklärte. Das Interesse an dieser oralen Wissenstradierung stand dann im Mittelpunkt der vierjährigen Arbeit am Film.

Er wollte die Halaiqi, also diejenigen die im Kreis stehen – die Schlangenbeschwörer, Gaukler, Geschichtenerzähler – in den Mittelpunkt des Films rücken, weil die ökonomischen Mittel, die in Folge dieser Auszeichnung seitens der Unesco flossen, in verschiedenen Kanälen des korruptionsanfälligen Staates versickerten. Die Erzähler wurden mit symbolischen Gesten und kleineren Aufträgen abgefunden, ihr „Sprechen an sich“ (Ladenberger), ihre Gabe das Publikum zu fesseln wurde dabei weniger honoriert.

Während der Dreharbeiten waren zwar die grundlegenden Fragen zur Faszination dieser Art des Erzählens wichtig, aber es wurde viel Material gesammelt „weil man einfach nicht weiß wie lange es so etwas noch gibt“ (Ladenberger). Im Hinblick auf die dramaturgische Aufbereitung wurde dann der Fokus auf die beiden Protagonisten gelenkt, in deren Auseinandersetzung auch der Frage nach der Gefährdung des kulturellen Erbes durch Nichtweitergabe der HalaiqiKunst nachgespürt wird.

Lena Rem ergänzt, dass der Schnitt des Materials sehr spannend gewesen sei, da er einen völlig anderen Einblick in die Art des Erzählens gewährt habe, denn „man kann von einem Geschichtenerzähler Geschichtenerzählen lernen.“ Auf die Frage nach der Szenenauswahl für die filmische Darstellung der Narration antwortet Ladenberger, dass eine dieser Geschichten bereits 45 Minuten dauere und er für seinen Film nur 90 Minuten Zeit habe. Daher mussten die Fragmente der Geschichten so montiert werden, dass der Einfluss des marokkanischen Alltags auf die Halaiqi-Dichtung deutlich sichtbar wird. „Diese Geschichten werden gelebt“, sind eng mit der Kultur verknüpft und können nicht losgelöst von ihr dargestellt werden.

Ob die Modifikation der Themen durch den Sohn, der die Inhalte der Erzählungen generationsspezifisch aktualisiert und transformiert, als Traditionsbruch gesehen werden kann, wird nicht abschließend beantwortet. Aber die Alltagsbindung der Halaiqis wird hervorgehoben, wenn sie beispielsweise Kinofiguren an die Stelle herkömmlicher Erzählfiguren treten lassen oder sexuelle Lebenshilfe in Form von Erzählungen bieten. Sie müssen sich stets bewusst sein, wie sie ihr Publikum fesseln können. Grundsätzlich besitzt die Herangehensweise der erzählenden Dichter eher eine emotionale, als eine intellektuelle Ebene. Oft entscheiden auch pragmatische Gründe wie die Länge des Aufenthalts in einer Stadt darüber ob sich aus dem Fundus der (kürzeren) oral tradierten oder der (längeren) schriftlich festgehaltenen Geschichten bedient wird.

Die soziale Stellung des Halaiqi in der heutigen Gesellschaft sei nicht sonderlich hoch, noch vor 30 Jahren habe die Kunstform noch ein deutlich höheres soziales Renommee besessen. Die Vortragenden seien nicht gezwungen gewesen Almosen einzufordern, sondern vom Publikum für ihre Darbietungen entlohnt worden. Somit sei auch der Konflikt zwischen Vater und Sohn eher ein sozialer, als ein generationsspezifischer. Ladenberger behauptet auch, dass der Sohn den „Wert der Tradition“ noch nicht vollständig versteht.

Der erste Diskutant fragt nach der gegenwärtigen Situation der Erzähler, den wahrnehmbaren Einfluss der Unesco-Auszeichnung und der Funktion der Gegenüberstellung des jungen Halaiqi mit dem bekannten Schauspieler Mohamed Hassan El Joundi. Die wenigen verbleibenden Erzähler befinden sich gegenwärtig in großer ökonomischer Not, weil sich auf dem Platz eine große Baustelle befindet und somit die traditionellen Plätze der Halaiqis verloren sind. In Folge der internen Vorführung von „Al-Halqa“ an einer Filmhochschule in Marokko kam es zu einem gesteigerten Medieninteresse, welches Abderahim El Maqori zwar kleinere Engagements einbrachte, aber die Situation bleibt prekär.

El Joundis Einführung hatte zweierlei Gründe. Zum einen war Zoheir ein großer Bewunderer von ihm und zum zweiten wuchs der Schauspieler in der Nähe des Platzes auf und erklärte mehrfach, dass sein Schauspiel durch die Halaiqi-Dichtung beeinflusst sei. Er hat sie auch erfolgreich modifiziert und „ins Radioformat“ übertragen. Außerdem organisierte er ein Festival der Erzähler, mit dem Ziel dieser Poesie wieder mehr Geltung und Gewicht zu verleihen. Auch er kann als einer der Modernisierer der Gattung gelten und somit ist die Parallelisierung von ihm und Zoheir auch als Abbildung verschiedener Transformationen des Geschichtenerzählens zu verstehen. Der Inszenierungsgrad des Films wird thematisiert. Zwar sei die Reise nach Fez natürlich Teil einer dramaturgischen Überlegung gewesen, alle Orte jedoch, die im Verlauf des Aufenthalts besucht wurden, seien durch El Maqori ausgesucht worden. Auf die Frage nach der existierenden deutschen Synchronfassung erklärt Andrea Reiter, dass dem Festival die Kulter der mündlichen Überlieferung sehr wichtig war und man sich daher für die Originalfassung und gegen die Offtextversion entschieden hat.