Duisburger Filmwoche 27
echt falsch
3. bis 9.11.2003

Preisträger:innen

3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm

Das Problem ist meine Frau
von Calle Overweg

In diesem Film ist alles echt falsch. Der Autor Calle Overweg nennt es: sorgfältig erfunden. Die Männer in seinem Film sind fiktive reale Männer, und was sie sagen, ist künstlerisch verdichtete Wirklichkeit und damit höchst wirklich. Es geht um ein drängendes und oft verdrängtes Thema: physische Gewalt von Männern gegen Frauen. Der Film nimmt sich die Täter vor. Calle Overwegs Methode stammt vom Theater und die Wirkung ist doch unmittelbar und echt. Weil er seine Technik des Inszenierens offen legt, führt er die Zuschauer nicht in die Irre, sondern näher ans Wahrhaftige. Er erweitert damit die Möglichkeiten des Dokumentarischen und wird dem Motto dieser Duisburger Filmwoche in besonderer Weise gerecht.

ARTE-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschen Dokumentarfilm

Die Helfer und die Frauen
von Karin Jurschick

Der Film DIE HELFER UND DIE FRAUEN von Karin Jurschick behandelt mit überzeugendem Engagement und angemessener Komplexität die Problematik des Frauenhandels in Bosnien, Moldavien und dem Kosovo. Der Film macht den Skandal öffentlich, dass die internationalen Streitkräfte NATO, SFOR und KFOR im Verbund mit internationalen Hilfsorganisationen bei ihrem Einsatz in Krisengebieten selber die Strukturen für neue Krisen schaffen. Über eine differenzierte Recherche und einen intelligenten Umgang mit ihren Gesprächspartnern macht Jurschick umstandslos die weitreichende Bedeutung des Konflikts klar. Sie gibt dabei den betroffenen Frauen eine Stimme ohne sie im Bild auszustellen. Der Film klärt auf ohne zu belehren: Jurschick verzichtet auf einen bevormundenden Voice Over und kombiniert überraschende Bilder mit nüchternen Texttafeln. Damit sprengt der Film das Reportageformat. DIE HELFER UND DIE FRAUEN macht politische Kritik filmisch erfahrbar.

Förderpreis der Stadt Duisburg

Mein Leben Teil 2
von Angelika Levi

MEIN LEBEN TEIL 2, ein dokumentarischer Essay, öffnet Biografie und Familiengeschichte hin auf einen zeitgeschichtlichen Horizont deutsch-jüdischer Identität. Leben findet hier immer schon vermittelt über Bilder, Tonaufzeichnungen und Texte statt. Dies zieht andere Bilder nach sich: Imaginationen, Assoziationen, Erinnerungen.
MEIN LEBEN TEIL 2 zeigt auf filmischer wie auf inhaltlicher Ebene, wie Bedeutung hergestellt wird. Ausgangspunkt ist ein persönliches Erbe. Als Rahmen für die Auseinandersetzung fungiert das Thema der impliziten Weitergabe und Wirkmächtigkeit von Erfahrung.
Die Autorin beginnt eine fragende Bewegung des Entwirrens und Verdichtens – ein offener Prozess, der Zuschauerinnen und Zuschauer beteiligt und fordert. Gerade weil er Widersprüche nicht bereinigt, sondern in ihrer Komplexität produktiv werden lässt.

Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film

Tarifa Traffic – Tod in Gibraltar
von Joakim Demmer

Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts

Für den Schwung sind sie zuständig
von Margarete Fuchs

Der Film dokumentiert auf eine ausgewogene und sachliche Weise ein Stück ostdeutscher Architektur- und Sozialgeschichte und bewahrt sie vor dem Vergessen. Dabei bleibt er nicht in der Vergangenheit stehen, sondern schafft einen aktuellen gesamtdeutschen Kontext. Gesellschaftliche, politische und individuelle Gegebenheiten werden einfühlsam durch die handelnden Menschen vermittelt und nicht durch eine aufgesetzte Analyse. Darin liegt die Unmittelbarkeit und Stärke des Films.

Jurys

ARTE-Dokumentarfilmpreis

Birgit Kohler (Berlin)
Jan Verwoert (Hamburg)
Brigitte Werneburg (Berlin)

3sat-Dokumentarfilmpreis

Isabella Reicher (Wien)
Christoph Schneider (Zürich)
Fritz Wolf (Düsseldorf)

Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts

Frank Werner (Goethe-Institut Zentralverwaltung)
Susanne Ponn-Raßmann (Goethe-Institut Zentralverwaltung)
Marlies Pfeifer (Goethe-Institut Glasgow)
Gisela Rueb (Goethe-Institut Paris)
Sofia Michailidou (Goethe-Institut Athen)
Antje Looks (Goethe-Institut Hongkong)

Kommission

Margarete Fuchs
Geboren 1965. Gärtnerlehre, Studium Foto-Film-Design FH-Dortmund, Rechercheaufträge für Dokumentarfilme und Entwicklung von Dokumentarfilmstoffen. Freie Autorin und FilmemacherIn. 1994 „Eupen“, 1995 „Alps“, 1996 „Gretchens Stube“, 1997 „Letter to N.Y“, 2003 „Für den Schwung sind sie zuständig“.

Hilde Hoffmann
Geboren 1968. Studium der Film- und Fernsehwissenschaft, Politik und Neuere Geschichte in Bochum und Glasgow. Konzeption und Realisation von Medienprojekten, Tagungen und Festivals. Seit 1999 Wissenschaftliche Mitarbeit am Institut für Film- und Fernsehwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Mitglied der Bochumer Diskurswerkstatt. Mitgestaltung des regionalen Film- und Videofestivals „Blicke aus dem Ruhrgebiet“. Publikationen im Bereich Film- und Fernsehwissenschaft zuletzt mit Judith Keilbach: „Spielleiter zwischen Medienkritik und Normalismus — Beobachtungen zur Darstellung des Fernsehens in Spielfilmen“ zusammen mit Judith Keilbach. In: Gottschalk, Kerner und & Co; Hrsg. Parr, Rolf & Thiele, Matthias. 2001 Edition Suhrkamp

Vrääth Öhner, Dr. phil.
Geboren 1965 in Linz. Studium der Publizistik- und Kommunikations- sowie der Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Freier Film-, Medien- und Kulturwissenschafter. Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Mitbegründer des Verlagsprojekts PVS Verleger. Von 1995 – 1999 Redaktionsmitglied der Filmzeitschrift „Meteor“. Arbeitet derzeit im Rahmen von zwei Forschungsprojekten über „Repräsentation von Jugendkultur im Fernsehen“ sowie über „Fernsehen – Geschichte – Gedächtnis“. Lebt in Wien.

Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Arbeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.

Gudrun Sommer
Geboren in der Steiermark. Studium der Philosophie in Graz und Bochum. Mitarbeit bei verschiedenen Film- und Fernsehfestivals wie der International Public Television Screening Conference, den Kurzfilmtagen Oberhausen und den Internationalen Filmfestpielen Berlin. Jurymitglied der deutschen INPUT Vorauswahl. Seit 1998 Festivalorganisation bei der Duisburger Filmwoche.

Mark Stöhr
Geboren 1970. Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaften und der Film-, Fernseh- und Theaterwissenschaften in Konstanz und Bochum. Seit 1997 Redakteur beim Filmmagazin Schnitt. 1999-2000 tätig für die Duisburger Filmwoche. 2001 Mitarbeiter beim medien kunst verein hartware. Freier Film- und Musikjournalist. Seit 2003 Kommissionsmitglied und Organisatorische Leitung der Duisburger Filmwoche.

Fred Truniger
Geboren 1970. Studium der Filmwissenschaft und Germanistik an den Universitäten Zürich, FU und HU Berlin. Ab 1992 Mitarbeiter des Int. Film-, Video- und Multimediafestivals VIPER Luzern und dort 1995 Gründer und Leiter des Multimedia-Programmes. Konzeption von Filmprogrammen und Symposien u.a. des Sonderprogrammes „Nützliche Bilder“ an den Kurzfilmtagen Oberhausen 1998. Seit April 2001 Assistent am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich, Lehr- und Forschungsbeauftragter im Bereich filmischer Raum- und Landschaftswahrnehmung.

Filme

Jesus, Du weißt (Ulrich Seidl | AT 2003)
Gwenyambira Simon Mashoko (Michael Pilz | AT 2002)
Tarifa Traffic – Tod in Gibraltar (Joakim Demmer | CH/DE 2003)
Story (Dana Ranga | DE 2003)
Große Ausfahrt (Maximilian Erbacher | DE 2003)
I Am from Nowhere (Georg Misch | AT/D/GB 2002)
Seelenschatten (Dieter Gränicher | CH 2002)
Reporter vermisst (Johann Feindt | DE 2002)
Mein Leben Teil 2 (Angelika Levi | DE 2003)
Pashke und Sofia (Karin Michalski | DE 2003)
Daily Delight (Bitta Boerger | DE 2003)
Das Problem ist meine Frau (Calle Overweg | DE 2003)
Für den Schwung sind sie zuständig (Margarete Fuchs | DE 2003)
Die Helfer und die Frauen (Karin Jurschick | DE 2003)
196 bpm (Romuald Karmakar | DE 2002)
Call me Babylon (Andreas Pichler | DE 2003)
Golden Lemons (Jörg Siepmann | DE 2003)
Good Morning Hanoi (Julia Albrecht | DE 2003)
James Benning – Circling the image (Reinhard Wulf | DE 2003)
Technik des Glücks (Stefan Kolbe, Chris Wright | DE 2003)
Dunkler Lippenstift macht seriöser (Katrin Rothe | DE 2003)

Extras

Große Bilder für kleine Zuschauer

echt falsch I
echt falsch II

Buchpräsentation

Deseret (James Benning | USA 1995)

Motto

echt falsch

„Der Blick ist die Fiktion, und der Text ist der Ausdruck dieses Blicks, die Legende zu diesem Blick. Die Fiktion ist nämlich der Ausdruck des Dokuments, das Dokument ist der Eindruck. Eindruck und Ausdruck sind zwei Momente einer Sache. Ich würde sagen, der Eindruck geht vom Dokument aus. Aber wenn man das Dokument betrachten muss, in dem Augenblick drückt man sich aus. Und das ist Fiktion. Aber die Fiktion ist genauso real wie das Dokument. Sie ist ein anderer Moment von Realität.“ (Jean-Luc Godard)

Fake-Dokus, bezeichnenderweise auch Mockumentaries – „Spott-Dokumentarfilme“ – genannt, sind unverlässliche Handlungsreisende zwischen Fiktion und Dokument und konterkarieren den Automatismus unserer Wahrnehmung, jedes Bild nach seinem tatsächlichen Wahrheitsgehalt abzuscannen. Die Instanz der Vermittlung wird zum Dreh- und Angelpunkt, und die Fake-Dokus blicken uns dabei spöttisch in die Augen. Dem Willen zur Wahrheit halten sie einen ironischen Spiegel vor, und dabei bleibt einem das Lachen auch schon mal im Halse stecken.

Die Duisburger Filmwoche widmet sich in diesem Jahr dem Autonomen, dem Skandalösen, dem Produktiven und nicht zuletzt dem parodistischen Charme von Mockumentaries.