Film

Jesus, Du weißt
von Ulrich Seidl
AT 2003 | 87 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 27
03.11.2003

Diskussion
Podium: Ulrich Seidl
Moderation: Vrääth Öhner, Werner Ružička
Protokoll: Diana Ebster

Protokoll

Dem Herrn Jesus, das lernen wir in Ulrich Seidls neuestem Film „Jesus, Du weißt“ wird nicht nur unterstellt, alles zu wissen, er erhält auch eindrucksvoll diffizile Arbeitsaufträge von seinen Anhängern, deren sonst stilles Gebet der Film laut werden lässt: so soll er zum Beispiel Erklärungen dafür liefern, wieso Eltern grausam zu ihrem Kind sein können, oder den entscheidenden Tipp geben, wie ein Denunziationsanruf beim betrogenen Ehemann am besten durchzuführen sei, ist zuständig, wenn ein pubertierender Antiheld von seinen erotischen Phantasien befreit werden will oder das Fernsehprogramm die Zerrüttung innerfamiliärer Kommunikation betreibt, weil Jesus seinen Heiligen Geist nicht bei den entscheidenden Programmdirektoren wirken lässt…

Keine leichte Übung, weder für Jesus noch für Ulrich Seidls Filmprojekt, das sich die Aufgabe gestellt hat, Glauben zu zeigen. Und deshalb mag es richtig erscheinen, den Film gleich zu Beginn zahlreichen Fürbitten anzuvertrauen, der Herr möge sich seiner annehmen. Ulrich Seidls Werk „Jesus, Du weißt“, eröffnet damit eine völlig neue Spezies: den gesegneten Film. Und mit dem wurde das Festival der Duisburger Filmwoche eröffnet!

Dass man den Film bewusst an den Anfang des Festivals gesetzt habe, betont Werner Ruzicka gleich zu Beginn der Diskussion. Seidls Werke haben mittlerweile eine Tradition in Duisburg als Stoff engagierter und kontroverser Diskussionen. Die sonst gerne erhobenen Vorwürfe aber, er würde seine Figuren vorführen oder gar filmisch ausbeuten und sich über sie lustig machen, blieben diesmal aus – was bei dem heiklen Thema „Glauben“ doch erstaunen könnte.

Neben der besonderen Erfahrung von Zeit und Raum, die der Film Ruzickas Einschätzung nach gebe, sei auffallend, was Seidl nicht zuletzt im Abspann mit der Nennung des „Castings“ deutlich macht. Für den Dokumentarfilm scheint es längst nicht selbstverständlich zu sein. Und das Casting, so Seidl, war denn auch tatsächlich eine umfangreiche und langwierige Sache, mit der mehrere Personen beschäftigt waren. „Am Ende aber war es sehr leicht“, und sukzessive hat Seidl für sich „die interessanten Leute ausgesucht“. „Interessant“ war, so definierte es der Regisseur, wer glaubhaft war. Vom ersten Drehtag an begann dann die Überzeugungsarbeit dazu, „etwas zustande zu bringen, was man so noch nie gesehen hat: „Die Intimität zwischen Mensch und Gott“.

Eine entscheidende Rolle dabei kam der Kamera zu. Entsprechend auch Vrääth Öhners Frage zu der strengen symmetrischen Quadrierung der Bilder und den auffallend starren Tableaux mit ihren festen Kameraeinstellungen. Seidl argumentierte mit dem intimen Akt, an dem man teilnehme. Die Menschen, die der Film zeigt, sprechen zu Gott und durch die Kamera rückt auch der Zuschauer in die Position von Gott. Und tatsächlich verschmilzt die Kamera den Blick des Betenden, des Zuschauers und den „Blick Jesu“, bzw. dessen artifizieller irdischer Repräsentanten miteinander (und wie wir wissen, ist die Position dieser Kunstwerke im Sakralraum zumeist eine statische).

Von da aus stieß man im Gespräch direkt vor zu dem Begriff der „Wahrheit“. Ruzicka schienen vor allem die Augenblicke des Films am intimsten, wenn seine Personen vor der Kamera innehielten, wenn der Protagonist z.B. plötzlich schluckt, still wird und seinen ungeordneten Gedanken nachgeht. Oft, so Seidl, haben seine Figuren die Kamera einfach vergessen: „Genau dort ist die Wahrheit und genau dort wollte ich hin“.

Das „Wahre“ fängt sich in den Augenblicken, „wenn man nicht mehr nachdenkt, sondern direkt mitten in dem steckt was einen beschäftigt oder auf der Seele liegt“. Immer wieder aber in der Diskussion gab es die Frage zur „Inszenierung“ eben dieser intensiven Augenblicke bei Seidl, denn ganz so unschuldig kommt der Film nicht immer ans Ziel. Zum Teil werden in „Jesus, Du weißt“ längst vergangene Situationen emotional reanimiert: extremstes Beispiel ist die nicht undramatische Szene, in der eine betrogene und verlassene ältere Dame im Zwiegespräch mit Jesus resümiert, ob sie nun ihren abtrünnigen Gatten mit Gift erledigen soll oder sich selbst. Man befürchtet Schreckliches, um dann in der Diskussion zu erfahren, dass diese Überlegungen tatsächlich mehr als 10 Jahre vor dem Dreh akut waren und die existentielle Frage längst nicht mehr aktuell ist (beide sind übrigens noch am Leben).

Öhner wendete denn auch ein, dass für ihn der Inhalt der Gebete, die der Film zeigt, in einer interessanten Nähe zu allnachmittäglichen Talkshows stehe und der Glaube in Seidls Film wie ein psychologisches Regulativ erscheint. Und sicher sieht auch Seidl es so, dass die meisten sich in ihren Gebeten die Sorgen von der Seele redeten, im Gegensatz zu Talkshows gehe es hier aber eben nicht um billige Effekte. Deshalb sei es auch gut, dass in dem Film der Glaube nicht auf einen Nenner zu bringen sei. Das sieht auch Ruzicka so, und die Idee des Glaubens werde dadurch nicht verraten. Andererseits erkennt er aber auch Setzungen, mit denen Seidl bewusst Spannung aufbaut, wenn etwa die „Büglerin“ – wie Ruzicka diese Figur in den Sichtungen für sich zu nennen begonnen hatte – über das Problem unterschiedlicher Glaubenszugehörigkeiten zwischen ihrem Mann und ihr spricht und plötzlich die Information fällt, dass der nicht etwa ein Protestant ist, wie man schnell vermutet, sondern Pakistani und Moslem. Interessant an eben dieser Figur scheint Seidl selbst aber mehr noch das Prozesshafte ihres Bildes im Film. Denn im Verlauf ihrer durch die Gebete vermittelten Erzählung wandelt sich das Bild der Leidtragenden, passiv Erduldenden; dagegen erscheint ihr Mann immer mehr als das Opfer seiner Frau, die mit ihrer zäh betriebenen Gläubigkeitsarbeit die ganze Familie in die Erstarrung manövriert.

Dem Egoismus vieler der Gebetswünsche, die der Film offen legt, entsprechend, merkt Ruzicka an, dass sicher auch eine etymologische Verbindung zwischen den Worten „beten“, „bitten“ und „betteln“ besteht. Bei seinen eigenen kindlichen Abendgebeten etwa, sei primär das neue Fahrrad Thema gewesen, das er für den Moment des Erwachens vom Jesuskind gerne neben sein Bett gestellt haben wollte…

Nachdem die Kameraeinstellungen und die strengen formalen Mittel des Films mehrmals ebenso gelobt wie kritisiert worden waren, kam von Brigitte Werneburg dazu der längst fällige Hinweis, dass es für diese direkte Blickführung zwischen Kruzifix und Anbetendem eine lange Tradition gibt, die uns allen aus den Don Camillo und Pepone Filmen der 60er Jahre bestens vertraut sein dürfte. Don Camillo ist das cineastische Urbild des vor der Kamera mit Jesus Verhandelnden.

Zu den gewählten Orten und deren Organisation: die Kirchen waren zum Teil die, die die Figuren des Film auch tatsächlich besuchten, zum Teil nicht; sie waren für den Film nicht extra gesperrt worden; sondern tagsüber einfach wenig besucht; und Hemmungen vor der Kamera laut zu beten, gab es bei den Gefragten scheinbar nicht.

Die gewagte Frage eines Gastes ob Seidl denn Parallelen zwischen sich und Bunuel sehen, lief leider ins Off. Zwar hatte der im erzkatholischen Spanien aufgewachsen Bunuel in den 60er Jahren in Filmen wie „Der diskrete Charme der Bourgoisie“ oder „Das obskure Objekt der Begierde“ ebenfalls auf Abgründe der bürgerlichen Gesellschaft hingewiesen. Der etwas weit hergeholte thematische Vergleich reichte aber nicht zum Gedankenanstoß.

Konkreter waren dann die Fragen, wie Seidl überhaupt zu dem Filmthema gekommen sei, ob sich durch den Film seine Einstellung zum Glauben verändert habe („nein“) und warum keiner der Betenden wirklich glücklich wirkt. Das Projekt war vom Produzenten Martin Kraml an Seidl herangetragen worden und erschien Seidl als willkommene Abwechslung nach den letzten größeren Projekten. Die Frage, ob ein Film über den Glauben nicht auch zum Lachen sei könnte, beantwortete Seidl sehr ernsthaft: sich lustig zu machen, wäre leicht gewesen, „denn es gibt auch unter den Gläubigen Freaks in allen Schattierungen“ und so hätte man ebenso gut einen Film produzieren können, in dem man 2 Stunden lang gelacht hätte. Zuletzt aber geht es um Einsamkeit, Liebe und Tod. Und der Film hat auch mit der unmittelbar eigenen christlichen Sozialisierung Seidls zu tun und den dort gemachten Erfahrungen – daher auch die Widmung an Seidls Eltern.

Anders aber als bei Don Camillo und Pepone bleibt Jesus in Ulrich Seidls Film stumm und als Hauptdarsteller in geheimnisvoller Weise unsichtbar. Jesus aber wird schon wissen, was er mit Seidl und durch ihn mit uns anstellen wollte…