Protokoll
Zugleich mit dem Phänomen des Rock’n Roll wurde in den 50er und 60er Jahren ein neuer Typus von Künstler geboren, der DJ. Er ist es nun, der zum Star und Autor wird, indem er den klassischen Gedanken des künstlerischen Schöpfers auflöst, sich in genialer Weise seines Materials, der Musik, bedient und es neu arrangiert. DJ-Hell ist einer davon. Er selbst ist nicht nur Star, sondern zugleich harter Arbeiter und Süchtiger seiner Musik, an dem sich die Kamera in Karmakars „196 BPM“ festsaugt.
Zugegebener Maßen fordert der Genuss von „196 BPM“ seinem Publikum einiges an Kondition und Liebe zum Prozess und der musikalischen Ekstase ab. Die Macht, Bewegung und Intensität der Beats, die 62 Minuten lang auf den Zuschauer einhämmern, waren sicher nicht Jedermanns Sache – eine Generationskonflikt??
„Fangen wir mal vorsichtig an!“, war Harun Farockis Übersetzung davon, mit der er als Moderator in die Diskussion einstieg, um dann wenig vorsichtig zu fragen: „Hast Du noch viele solcher Bilder im Schrank, in denen Du einfach nur draufhältst?“
Romuald Karmakar war zu dem Zeitpunkt durchaus noch zu umfangreicheren Erklärungen bereit: Als Hintergrund dieses Projektes muss man sich die Punkszene der 80er Jahre in München denken, in der eine starke Super8-Szene regierte, nach dem Motto: Alle Macht der Super8. Aus der Erfahrung heraus Filme wieder so drehen zu wollen, wie man angefangen hat – ohne Drehbuch, ohne Exposee, ohne Produktionsfirma und Finanzierung, ohne großes Team um sich herum, „wenn es einem einfach gut geht“ – hat sich Karmakar entschlossen mit einer einfachen Mini-DV-Kamera zu arbeiten, mit nur einem Chip und integriertem Mikro. „Und je mehr ich das mache“, so Karmakar, „um so mehr zeigt es sich als eine wunderbare Ergänzung.“ (Es dürfte sich dabei auch um einen Freiheitsbegriff des Regisseurs und dessen Konsequenzen handeln).
Farocki aber blieb bei seinem Problem mit dem Single-Shot-Concept, das ihm zu mager schien, wenn er auch versuchte, es historisch mit Mathias Weiss zu verankern, bei dessen Projekten der 70er Jahre etwa die Länge der Filmrolle zu Maßeinheit und Taktgeber wurde, der er sich als Regisseur unterordnete. In der Übertragung auf „196 BPM“ sollte das für Farocki aber auch heißen, dass er keine relevanten Entscheidungen des Regisseurs erkennen könne.
Für Karmakar ist dagegen gerade die Plansequenz – die im Augenblick als seltene Art „nur noch in Taiwan und einigen versprengten Regionen Österreichs“ geschützt existiert – die höhere Kunst, weil sie aus sich heraus Raum und Rhythmus schaffen muß. Folglich arbeitet der Regisseur mit höherem Risiko und bringt sich in eine angreifbarere Position. Karmakar war es dabei zu wenig, lediglich nach einem Misstrauen gegenüber Überartikuliertheit zu fragen.
Auch Farockis Verführungsversuch zu einem Vergleich zwischen dem Regisseur Karmakar und dem DJ, „der ja auch ein Geheimnis hat, das man nicht erkennt“, mit dem er DJ-Hell zum Alter Ego des Regisseurs werden lassen möchte, blieb unerhört.
Karmakar fand es „schwach“ das Handwerk des DJ Hell nicht zu erkennen, das evident sei und das er transportieren wollte. Und das wäre nur möglich, wenn man den Prozess zeige und er im Film repräsentiert wird.
Die elektronische Musik hat seit gut 10 Jahren eine Wirkung, die die Jugend prägt und die Loveparade ist ein Thema das schon selbstverständlich medial vermittelt wird. Das Eigentliche aber, das dort passiert, die Übernahme und Unmittelbarkeit der Musik, können all diese gewohnten Bilder für Karmakar nicht fassen. „196 BPM“ ist ein Versuch darüber, ob man es überhaupt erzählen kann.“
Und zudem ist „196 BPM“ für Karmakar eine neue Form des Heimatfilms. Der Dokumentarfilm scheine augenblicklich nur noch nur noch für den „Misserabilismus“ zuständig zu sein – als ethnografischer Film, der über Missstände zu berichten hat. Ab und an müsse man aber auch mal einen Heimatfilm machen. (Und im Vergleich zu einem seiner letzten provokativen Heimatfilmprojekte, als das man dann vielleicht auch „Manila“ verstehen sollte, ist „196 BPM“ eine sehr freundliche Version dessen. Übrigens wird auch in „Manila“ die eindrucksvolle Schlussszene von Musik bestimmt).
Ein altvertrautes Stichwort war das der „Inszenierung“ der Menschen vor der Kamera, das Karmakar aber erst einmal mit einem „Wenn-man-das-Thema-wirklich-diskutieren-will,-wie- Kameras-Menschen-beeinflussen,-dann-muss-man-gleich-bis-zu-Murnau-zurückgehen“, abblockt. Schließlich aber findet er es richtig beobachtet, dass der Film sowohl ethnografischen Daten (über Jugendkultur und interkulturelle Kommunikation etc.) liefert, wie er das Phänomen der Inszenierung, das die Kamera bei ihrem beobachteten Objekt hervorruft, zeigt. Der Effekt, dass sogar eine kleine Kamera eigenartiges Verhalten produziert, wird interessant, wenn man länger als 15 Sekunden dran bleibt, denn genau den Zeitraum füllen die gewohnten Muster aus (Winken, Zunge rausstrecken etc.), danach steht man hilflos vor ihr. Die Aufnahmen, die Karmakar bei dem Projekt „196 BPM“ direkt in der Loveparade gemacht hatte, hätten genau aus dem Grund nicht darüber hinausgereicht, wenn es darum ging Musik zu zeigen.
Länger diskutiert wurde auch die Dreiteilung des Films – auch das ohne das sichtliche Vergnügen Karmakars. (Zur Information: die ersten beiden kurzen Sequenzen zeigen je eine nächtliche Straßenszene während des Wochenendes der Loveparade in Berlin, die sich in Dauer und Ort gleichen. Die dritte Szene dagegen dauert 50 Minuten an, in denen die Kamera DJ Hell bei seiner Arbeit in einem Berliner Club beobachtet). Hilde Hoffmann: Wenn der Zustand während des Loveparade-Wochenendes in Berlin erklärt werden soll, dann ist die Dreiteilung zu verstehen, wenn es um die Arbeit an der Musik geht, dann sind die beiden ersten Teile obsolet. Und Jan Verwoert zur „hierarchischen“ Einteilung des Films: Am Anfang gibt es ein Volk ohne Objekt, dann ein Objekt ohne Volk. Dem Zuschauer werde die Möglichkeit genommen zu interagieren (???). Verwoert erinnert sich daran, dass er vor wenigen Jahren gezwungen war, zwei Stunden lang Himmler anzustarren (!) – nun seien es 50 Minuten gewesen, in denen er DJ Hell anstarren musste.
Es hätte interessant sein können, an dieser Stelle über die Körperkonstruktionen des Betrachters bei Karmakar nachzufragen und welche Rolle der imaginäre Betrachter bereits bei der Entstehung der Bilder spielt. Da hatte Karmakar jedoch längst schon keine Lust mehr am Podium.
Aber wieso auch reden. Schließlich war es die Popmusik, die eben den Intellekt durch ihre Beats umgehen wollte, um neue Erfahrungen auszulösen und eine direktere Beziehung zum Körper herzustellen. „Let the records speak“ ist Karmakars ganzer Text für den Katalog! Und das ist ok, denn wann kommt man schon mal aus dem Kinosaal und hat dabei das Gefühl den dunklen Raum genauso taub und erhitzt zu verlassen, wie in früheren Zeiten die Diskothek, um nach der wild durchtanzten Nacht angenehm erschöpft in die kühle morgendliche Luft einzutauchen…