Preisträger:innen
3sat-Dokumentarfilmpreis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm
Thorberg
von Dieter Fahrer
„Thorberg“ führt uns an einen Ort, den wir aus dem Fernsehen zu kennen glaubten. Er zeigt uns direkt und deutlich Körper, Rituale und Regeln, die Begrenzungen des Raums und das Verstreichen der Zeit. Der Film lässt seine Protagonisten ausführlich zu Wort kommen, er übernimmt die Perspektive ihrer Selbsterklärungen aber nicht einfach. In präzis gewählten Bildern gelingt ihm eine fein austarierte Balance zwischen Nähe und Distanz. Für keinen Moment lässt er dabei vergessen, dass er in einer totalen Institution entstand. In die zunehmend eindimensionalen Debatten um Sühne, Strafe und Vergeltung greift dieser Film ein. Nüchtern, und umso provokanter, vermittelt er einen Gefängnisalltag, beim dem das erklärte Ziel der Resozialisierung längst nicht mehr im Vordergrund steht. Dieter Fahrer hat uns einen im besten Sinne politischen Film geschenkt, der das Ergebnis einer anhaltenden engagierten Praxis ist.
Lobende Erwähnung
Der Auftrag
von Ayla Gottschlich
Wir wollen aber auch eine lobenden Erwähnung aussprechen für einen Film, der bezüglich dem Aufbau von Spannung und Suspense einzigartig war an diesem Festival. Mit geradezu klinischer Nüchternheit und in millimetergenau geschnittenen Dialogen führt dieser auf das notwendigste reduzierte Film vor, wie die Suche nach so einfachen Dingen wie Wahrheit und Gerechtigkeit zum Thriller wird. In streng durchkomponierten Bildern zeigt dieser Film nicht viel mehr als die institutionell abgesteckte Interaktion von drei, ja eigentlich nur zwei Protagonisten. Einer von diesen vermag durch seine professionelle Beharrlichkeit nachhaltig zu beeindrucken. Die gleiche bewundernswerte Haltung zeichnet auch die Regisseurin Ayla Gottschlich aus, die ihren Film „Der Auftrag“ gegen jahrelange vielfältige Widerstände realisiert hat.
ARTE-Dokumentarfilmpreis
Preis des Goldes
von Sven Zellner, Chingunjav Borkhuu
Ein Presslufthammer bricht in die Stille der Wüste. Eine sanfte Stimme erklärt, wie man Dynamit präpariert. Eine Frau lächelt und versteckt die Messer, damit die Männer sich nicht abstechen.
Wir bewegen uns zwischen zwei Achsen: dem Horizont der Wüste Gobi und der Vertikalen eines Schachtes. Im Schnittpunkt dieser Achsen: 2 Bosse, 3 Arbeiter und eine Köchin – eine Gruppe von Desperados in einer Goldgräber-Saga.
Aber anders als in Amerika sind sie keine Siedler, die nach fremden Schätzen suchen, sondern befinden sich in ihrem eigenen Land. Und diesem Land und sich selbst fügen sie bei vollem Bewusstsein Wunden zu: sie vergiften ihren Körper mit Staub und Quecksilber und verletzen die spirituelle Ordnung, in dem sie sich in die Eingeweide ihrer Felsen schlagen.
Mit souveräner Sorgfalt erzählen die Filmemacher von der Aussichtslosigkeit der Arbeit der Goldgräber. Die Wüste ist eine leere Bühne und auf dieser Bühne arrangieren sie die wenigen Requisiten äußerst präzis zu einer Geschichte der Gewalt, die allerdings wie die selbstgebauten Dynamitstangen immer wieder in der Stille Gobis erstickt. Interviews verdichten die Filmemacher zu inneren Monologen, die dem Film eine ergreifende poetische Kraft verleihen. Die Kamera macht aus der Schwierigkeit, sich im Staub der Goldmühle und der enge der Schächte zu bewegen, ihre größte Stärke und schafft Bilder mit überwältigendem physischen Ausdruck. Der Arte-Preis geht an „Preis des Goldes“.
Förderpreis der Stadt Duisburg
Schildkrötenwut
von Pary El-Qalqili
Heimat als Fiktion. Wahrscheinlich können wir uns alle darauf einigen, dass Heimat weniger ein konkreter Ort ist als eine bei jedem unterschiedlich stark brennende Sehnsucht. Aber was passiert, wenn Heimat gar kein Ort ist? Wenn sie nur ein Wort ist, das einem die Eltern ins Ohr flüstern? Wenn sie nur ein Bild ist, das wir aus den Beschreibungen anderer kennen? Wenn sie ein Verlust ist, den wir selbst nie erlitten haben?
In dem Film, den wir auszeichnen, sehen wir einen Menschen, den diese Abstraktion zerrissen hat. Er will an einen Ort zurückkehren, an dem er noch nie war – und verlässt dafür einen Ort, an dem er viele Jahre lang war, aber wahrscheinlich nie lebte. Zurück bleiben eine Frau und vier Kinder, von denen eines schließlich anfängt zu fragen. Das Antworten will, die den Vater zu sehr schmerzen, als dass er sie geben könnte, und das trotzdem weiterfragt. Ja, das den Vater in ein regelrechtes Kreuzverhör nimmt und doch kein Urteil fällt.
Obwohl die Fragen so viel Raum einnehmen, bietet der Film auch Antworten. Nur hören wir sie nicht, sondern sehen sie – nämlich wenn der Vater plötzlich aufrecht geht, den Kopf nach oben hebt, den Menschen direkt in die Augen sieht und eine Frucht verzehrt, als könne er sich ein ganzes geliebtes Land einverleiben. Diese Film-Machung, diese Wandlung von abstrakten Fragen und Antworten in konkrete Bilder ist es, die dem Film seine Kraft verleihen.
Um eine Frage aus dem Film selber zu zitieren: Was machen Kinder mit den Geschichten ihrer Eltern? Im besten Fall einen wunderbaren Film wie „Schildkrötenwut“.
Gratulation an Pary El-Qalqili.
Publikumspreis der Rheinischen Post für den beliebtesten Film
Schildkrötenwut
von Pary El-Qalqili
Jurys
ARTE-Dokumentarfilmpreis
Philipp Mayrhofer (Paris)
Nele Wohlatz (Karlsruhe/Buenos Aires)
Hannah Pilarczyk (Hamburg)
3sat-Dokumentarfilmpreis
Geri Krebs (Zürich)
Heike Hupertz (Frankfurt/Main)
Joachim Schätz (Wien)
Förderpreis der Stadt Duisburg
Heike Hupertz (Frankfurt/Main)
Hannah Pilarczyk (Hamburg)
Kommission
Till Brockmann
Geboren 1966 in Hannover, aufgewachsen im Tessin. Studium der Geschichte, Japanologie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2001 Lehrbeauftragter der philosophischen Fakultät. Seit 1995 als Filmjournalist und Filmkritiker, mehrheitlich für die NZZ tätig. Seit 2003 Dozent für Filmgeschichte und audiovisuelle Theorie an der European Film Actor School, Zürich. Seit 2007 Dozent für Filmgeschichte an der F+F, Schule für Kunst und Mediendesign Zürich. Seit 2002 Mitglied der Auswahlkommission und Diskussionsleiter der „Semaine de Critique“, Filmfestival Locarno. Dissertation: „Handbuch der Zeitlupe – Anatomie eines filmischen Stilmittels“.
Jessica Manstetten
Jessica Manstetten studierte zunächst Literaturübersetzen in Düsseldorf, dann Film-, Fernseh-, Theaterwissenschaften, Romanistik und Sozialpsychologie in Bochum. Arbeitet neben der Duisburger Filmwoche für die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen in der Programmsektion Musikvideo sowie für das IFFF Dortmund/Köln in der Auswahlkommission ‘Panorama’. Mitauswahl beim Kasseler Dokfest-Lounge Programm, Schwerpunkt AV Performances. Programmzusammenstellungen für Festivals, Institutionen und Veranstaltungen im Ruhrgebiet, darunter u.a. International Short Film Festival Uppsala, Media Art Festival Impakt, Shift Basel, Tricky Women Wien, Kulturbüro Friedrichshafen. Übersetzt und spricht Filme ein.
Cristina Nord
Geboren 1968 in Korbach, hat Literaturwissenschaft und Lateinamerikanistik in Berlin und in San José, Costa Rica, studiert. Sie ist Filmredakteurin im Kulturressort der „tageszeitung“. Für den WDR hat sie mehrere „Filmtips“ realisiert, unter anderem zu „Brokeback Mountain“ und zu Christian Petzolds Film „Yella“. Sie lehrt Filmkritik an der Freien Universität Berlin. Außer für die taz schreibt sie unter anderem für „Cargo“, „Der Standard“ und „kolik.film“. In Vorträgen, Buch- und Katalogbeiträgen beschäftigt sie sich mit der Darstellung von Geschichte im gegenwärtigen deutschen Kino, mit Queer Cinema und der „nouvelle vague allemande“. Sie lebt in Berlin.
Peter Ott
Geboren 1966. Filmemacher, Produzent, Schauspieler. 2007-11 Professur für Film und Video an der Merz-Akademie, Stuttgart. 2001-2005 Gründung div. Produktionsgesellschaften. 1994 Gründungsmitglied Abbildungszentrum. 1986-92 Studium an der HfbK in Hamburg, Visuelle Kommunikation. Filmografie (u.a.): 2010 „Gesicht und Antwort“, Dokumentarfilm, 72 min.; 2008 „Übriggebliebene Ausgereifte Haltungen“, Dokumentarfilm, 85 min.; 2007 „Hölle Hamburg“, Spielfilm, zusammen mit Ted Gaier, 88 min., www.hoellehamburg.org; 2004 „Jona (Hamburg)“, Dokumentarfilm, 86 min.), www.otthollo.de/jona; 1998 „Die Spur“, Spielfilm, 90 min.; 1995 „Der Renegat“, Videomagazin fortlaufend, zus. mit Silke Fischer & Jan Peters, insgesamt 240 min.
Susanne Quester
Geboren 1979 in Starnberg. Musikstudium in München, nach einem einjährigem Aufenthalt in Südkorea und Japan Wechsel zur Japanologie nach Berlin. 2001-2012 Dokumentarfilm an der Filmhochschule in München. 2004/2005 Studienaufenthalt in Südkorea mit einem Stipendium des DAAD. Seit 2006 freiberufliche Tätigkeit als Filmemacherin. Filme (Auswahl): FINOW (2002); DIENSTAG und ein bisschen mittwoch (2007); HEIDI. Eine Recherche (in Fertigstellung)
Werner Ružička
Geboren 1947. Studium der Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften in Bochum. Ab 1974 Leiter der kommunalen Filmarbeit in Bochum. 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“ als Regisseur und Produktionsleiter. Nach 1982 verschiedene Arbeiten für Fernsehen und Theater. Seit 1985 Leiter der Duisburger Filmwoche. Juror u.a. bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, den Österreichischen Filmtagen Wels und beim Adolf Grimme Preis. Lehraufträge für Dokumentarfilm, u.a. an der Hochschule für Film und Fernsehen München, sowie Goethe-Institut-Seminare über Dokumentarfilm u.a. in China und Israel.
Constantin Wulff
Geboren 1962. Filmschaffender, Kurator, Publizist, Lehrbeauftragter. 1992 Gründungsmitglied von Navigator Film, Wien. 1995 bis 1997 Mitglied der Auswahlkommission der Duisburger Filmwoche. 1997 bis 2003 Co-Leitung der „Diagonale – Festival des österreichischen Films“ in Graz. Kurator zahlreicher Dokumentarfilm-Retrospektiven (u.a. zum Direct Cinema) und Personalen (u.a. Frederick Wiseman, Marcel Ophüls, Nicolas Philibert. Mitglied von zahlreichen Fachkommissionen und Juror in der Schweiz und in Österreich im Bereich Filmförderung und Filmpreise. 2008 bis 2011 Obmann von dok.at (Verband Österreichischer Dokumentarfilm). Seit 2008 Lehrbeauftragter für Dokumentarfilm an der Filmakademie Wien und seit 2009 am Filmcollege in Wien. Mitherausgeber der Bücher: „Schreiben Bilder Sprechen – Texte zum essayistischen Film“ (1991) und „Marcel Ophüls: Widerreden und andere Liebeserklärungen – Texte zu Kino und Politik“ (1997). Eigene Filme: „Spaziergang nach Syrakus“ (CH/A/D 1993, Dokumentarfilm); „Treid“ (A 1999, Kurzfilm); „Heldenplatz, 19. Februar 2000“ (A 2002, Dokumentarfilm); „In die Welt“ (A 2008, Dokumentarfilm, 3sat-Dokumentarfilmpreis 2008; Großer Diagonalepreis 2008/2009). Lebt und arbeitet in Wien.
Filme
Stahlbrammen und Pfirsiche (Florian Pawliczek, Andy Michaelis | DE 2012)
Feldarbeit (Henrike Meyer | DE 2012)
Revision (Philip Scheffner | DE 2012)
2000m² mit Garten (Tama Tobias-Macht | DE 2012)
Jeremy Y. call Bobby O. oder Morgenthau Without Tears (René Frölke | DE 2012)
Donauspital – SMZ Ost (Nikolaus Geyrhalter | AT 2012)
Das persische Krokodil (Houchang Allahyari, Mazyiar Gohari | AT/IR 2012)
Perret in Frankreich und Algerien (Heinz Emigholz | DE 2012)
Virgin Tales (Mirjam von Arx | CH 2012)
Thorberg (Dieter Fahrer | CH 2012)
MansFeld (Mario Schneider | DE 2012)
Atelier (Peter Ott | DE 2012)
Schildkrötenwut (Pary El-Qalqili | DE 2012)
Happy End (Stanislaw Mucha | DE 2012)
Richtung Nowa Huta (Dariusz Kowalski | AT 2012)
Kern (Veronika Franz, Severin Fiala | AT 2012)
Am Ende Aller Tage (Irina Heckmann | DE 2012)
Heidis Land – Eine Reise (Susanne Quester | DE 2012)
Der Auftrag (Ayla Gottschlich | DE 2012)
Detlef – 60 Jahre schwul (Stefan Westerwelle, Jan Rothstein | DE 2012)
Ein neues Produkt (Harun Farocki | DE 2012)
Heino Jaeger – look before you kuck (Gerd Kroske | DE 2012)
Oben im Eck – Holger Hiller (Janine Jembere | DE 2011)
Angriff auf die Demokratie – Eine Intervention (Romuald Karmakar | DE 2012)
Neukölln-Aktiv (Sabine Herpich, Gregor Stadlober | DE 2012)
Preis des Goldes (Sven Zellner, Chingunjav Borkhuu | DE 2012)
Extras
Motto
RÄUME
„Im Raume lesen wir die Zeit.“
Filmische Räume sind eine Illusion. Sie entsteht aus der immer wieder neu vorzunehmenden Ordnung der Bewegung. Orientierung schafft die Zeit. Die panoramatische Perspektive öffnet sich, Ränder geraten in den Fokus. Duisburg stellt scharf: vom Überblick zum Einblick. Der Reduktion des Räumlichen begegnet die Duisburger Filmwoche, indem sie seine diskursiven Räume öffnet: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“