Film

Schildkrötenwut
von Pary El-Qalqili
DE 2012 | 70 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 36
08.11.2012

Diskussion
Podium: Pary El-Qalqili
Moderation: Jessica Manstetten
Protokoll: Jana Wolff

Synopse

Seit Israel ihn ausgewiesen hat, ist der Vater der Filmemacherin wieder bei seiner Familie in Deutschland – und zieht sich dort meist verbittert in den Keller zurück. Pary El-Qalqili versucht, das Schweigen ihres Vaters aufzubrechen und reist mit ihm dafür nach Ägypten, Jordanien und Palästina. Familiengeschichte versus Politik.

Protokoll

Jessica Manstetten eröffnet die Diskussion mit der Beobachtung, dass der Film nach „Feldarbeit“ und „Virgin Tales“ die dritte Dokumentation im diesjährigen Programm der Filmwoche ist, in der es um Vater-Tochter-Beziehungen geht.

In diesem Fall war Wut der Auslöser den Film zu machen – die Wut des eigenen Vaters, weil er seine Geschichte nicht erzählen kann, weil sie in Deutschland nicht verstanden wird, weil die Tochter schwarze Löcher in seinem Narrativ berührt. El-Qalqili will mehr als Wut und Ohnmacht, sie will ihren Vater kennenlernen, Antworten auf ihre Fragen finden. Also begibt sie sich in direkte Konfrontation und schafft Räume für Gespräche, die filmisch sehr eng und gelungen mit der Geschichte eines Mannes im Exil verwoben sind.

Der erste filmische Kontakt hat auf einer gemeinsamen Reise nach Palästina stattgefunden. Das Projekt war zu dem Zeitpunkt noch ein anderes, ein Film über die Biographie ihres Vaters. Erst dort habe sie bemerkt, dass es nicht nur um ihn, sondern auch um sie gehen muss – es geht um etwas, was die beiden zu verhandeln haben.

Und sie verhandeln (und streiten) nicht nur auf der Reise, sondern auch in einem Raum im Keller, der einer Verhörzelle gleicht und bei Manstetten die Frage aufwirft, wieso dieser Raum so ist? Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist dermaßen angestrengt, dass der Raum dem entsprechen muss, so El-Qalqili, eine Art Nicht-Ort ohne Anknüpfung, der leer ist, wie die Beziehung. Diese Leere füllt sich mit einer Energie, und viel vom dem, was im Film zu sehen ist und was er erzählt, ist in dieser Energie, in diesem Raum entstanden.

Werner Ružička findet den Begriff des Nicht-Ortes zwar gut, doch ist der Keller sehr konnotiert und aufgeladen und für ihn daher kein Nicht-Ort, sondern ein Ort historischer Linien. Warum ist er so aufgeladen?

Bei den Gesprächen im Keller findet eine Art Kriminalisierung der Geschichte statt. Sie nimmt Bezug auf die politische Vergangenheit ihres Vaters, über die nicht gesprochen wird, weil sie tabu ist, erklärt El-Qalqili. Man hat sich zurückgezogen, keiner erzählt was – aus Angst. Daraus entstand das Bild einer Verhörsituation. Sie ist die Detektivin, er zieht die Grenzen, sie klagt an, und urteilt dennoch nicht. Eine Stimme aus dem Publikum sagt, es habe ihn stark berührt, dass der Vater sich wie eine Schildkröte in ihren Panzer in den Keller des Hauses zurückzieht, die Verfolgungsthematik ist dort sehr präsent. Der Vater will nicht nach außen, bestätigt die Regisseurin, er sucht sich Räume bzw. Orte, die seinem inneren Zustand entsprechen, und das ist der Keller, oder der Wald.

Cristina Nord erkundigt sich, wie das Filmen mit einer Kamera sich auf die Drehsituation in dem Kellerraum ausgewirkt hat. Hat sie den Zustand forciert oder ist sie Mittel zur Distanz zum familiären Konflikt?

El-Qalqili sagt dazu, dass die Anwesenheit der Kamera eine höhere Konzentration auf das Gespräch bewirkt hat. Es gab keine Ausflüchte, die beiden sind länger am Ball geblieben als sie es womöglich ohne Kamera getan hätten. Sie hat das Bewusstsein bei beiden geschärft, dass eine wichtige Verhandlung stattfindet, die Bühnencharakter hat.

In dem Film gibt es abseits der Gespräche und der Reise noch eine dritte Ebene, die Erzählung aus dem Off, unterlegt mit dem starken Motiv des Hauses in Berlin und der Mutter. Aus dem Publikum wird in diesem Zusammenhang die Eingangsszene als imposant gelobt. Das Treppenhaus schafft einen Raum, der nicht durch Wände entsteht; es ist wie eine Mauer, die innerfamiliäre Barriere. Hinter dieser Mauer liegt die Geschichte des Vaters, sie dient ihm als innere Grenze, als Schutz. Der Text kam übers Niederschreiben der Erinnerungen und der persönlichen Erfahrungen mit dem Vater, erklärt die Filmemacherin. Er ist dann im Schnitt neu entstanden, an den sie sehr intuitiv herangegangen ist. Da es keine äußere Dramaturgie gibt und auf der Handlungsebene nicht wirklich viel stattfindet, wollte sie das Material frei verwenden, von innen aufarbeiten.

Die Mutter bleibt stumm im Hintergrund des Films, ist aber nicht weniger wichtig. Die Sprachlosigkeit der Eltern ist auch ein Thema, und so hat sie dies zeigen wollen, sagt die Regisseurin. Der Vater lebt in der Vergangenheit, in seinem eigenen Scheitern, die Mutter lebt in der Realität, aber außerhalb einer Auseinandersetzung mit der Situation. Man geht sich aus dem Weg. Die Einstellungen mit der Mutter sind nicht beobachtend, sondern arrangiert. Sie bewegt sich durch das Haus wie ein Schatten der Vergangenheit. Sie habe auch Gespräche mit der Mutter gedreht, sagt El-Qalqili, aber ihre Perspektive ist so stark und eloquent, dass das im Schnitt nicht funktioniert habe, der Vater sei dadurch zu klein geworden, und da es um den Vater geht, musste die Figur der Mutter in dieser Form reduziert werden.

Geri Krebs möchte mehr zur Lage von Qalqiliya im Westjordanland wissen. Das wird seiner Meinung nach zu wenig thematisiert und lokalisiert. Er wundert sich, dass die Regisseurin nur wenig auf die Belastung und Bedrohung und die damit einhergehende Willkür eingegangen ist. Qalqiliya hat natürlich eine Sonderposition, erwidert die Regisseurin, es ist die einzige Stadt in der West Bank, die komplett mit einer Mauer umgeben ist und nur einen Ausgang hat. Darum ging es ihr aber nicht und deshalb ist das auch weder verortet noch weiter erklärt. Die Palästina-Frage schwebt über allem, aber sie hatte nie vor, einen politischen Film zu machen und daher auch keine Bilder gesucht, die Bedrohung zeigen. Es ging ihr darum, herauszufinden was für ein Mensch ihr Vater ist; daher setzt sie den Fokus lieber darauf, wie eine Familie sich schlafen legt. Manstetten sieht es als Qualität, dass der Film radikal persönlich bleibt und alles andere außen vor lässt. Sie bietet an, dass die Bedrohung sich eher aus dem Inneren des Vaters erzählt, und das kann man nicht einfach in Bildern, die alle kennen, abhandeln. El-Qalqili bestätigt, dass für ihren Vater die Mauer und die Besatzung zur Normalität geworden sind, daher sind kontrollierende Soldaten für eine Geschichte über ihren Vater nicht interessant. Im Prinzip besteht der ganze Film aus Nicht-Orten, die nicht weiter definiert sind. Das war Teil des Konzepts. Manstetten findet das toll, es wird nur ein Raum aufgemacht: der Raum der Geschichte zwischen Tochter und Vater. Es kommt viel mehr auf den Inhalt der Szenen an, um das Erleben in diesem Raum, den der Film anbietet. Cristina Nord ergänzt, dass der Film da in die Tiefe geht wo er kann, und da wo er es nicht kann und will, tut er es auch nicht. Sie hält das für eine plausible Entscheidung. Es geht nicht um das Verhältnis des Vaters zu Qalqiliya und dessen Mauer, sondern zu seiner Tochter und um seine Erfahrung mit dem Exil. Birgit Kohler erwähnt einen für sie wichtigen Moment, in dem ein Foto des Vaters beschrieben wird, ohne es zu zeigen, und findet das eine sehr elegante und eindrückliche Lösung, dass es hier um die Erzählung und nicht ums Familienalbum geht.

Natürlich drängt sich dem Publikum die Frage auf, was nach dem Film passiert ist, ob sich die familiären Beziehungen verändert haben und wie man überhaupt als Filmemacher Abstand zu einem so persönlichen Thema gewinnt.

Für El-Qalqili war es kein leichter Prozess, zur Filmfigur zu werden. Sie hat als Person zu sehr drin gesteckt, war sehr „okkupiert“ von der Geschichte. Mit Abstand betrachtet wäre sie gern mutiger gewesen, aber die beiden Rollen haben sie mehr überfordert als erwartet. Erst im Nachhinein habe sie erkannt, dass es gut gewesen wäre eine Co-Regie zu haben, aber ihre Co- Autorin und die Cutterin haben ihr geholfen, die Distanz zum Film zu bewahren und zu begreifen, dass sie selbst auch eine Figur ihrer eigenen Erzählung ist.

Der Vater versteht die Tochter immer noch nicht, versteht nicht warum sie so wenig über ihn weiß, aber es hat sich schon etwas bei ihm verändert, sagt die Regisseurin. Die Wunden des Vaters konnte der Film nicht heilen, sein Scheitern schmerzt ihn immer noch, aber er ist stolz, dass es einen Film über ihn gibt; endlich will jemand seine (Leidens-)Geschichte hören. Er sieht sich als Opfer, und der Film gibt ihm die Möglichkeit das zu erzählen. Das war auch seine Motivation überhaupt mitzumachen. Überraschend ist für ihn nur die kritische Haltung seiner Tochter. Die Perspektive der Mutter ist eine andere, es tut ihr weh den Film und den darin liegenden Familienkonflikt zu sehen. Für sie ist es keine schöne Erfahrung, denn auch ihre Wunde ist nicht verheilt.

Im Endeffekt hat El-Qalqili nicht alle Antworten gefunden, viele Fragen und Leerstellen bleiben, die Geschichte ist sehr komplex, der Film nur ein Versuch. Er ist wie eine Kreisbewegung. Manchmal verändern sich Beziehungen, und manchmal eben auch nicht.