Film

Neukölln-Aktiv
von Sabine Herpich, Gregor Stadlober
DE 2012 | 97 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 36
10.11.2012

Diskussion
Podium: Sabine Herpich, Gregor Stadlober
Moderation: Constantin Wulff
Protokoll: Jana Wolff

Synopse

„Neukölln-Aktiv“ ist eine vom örtlichen Jobcenter und dem Bezirksamt finanzierte Aktivierungshilfe. Junge Männer ohne Abschluss sollen fit gemacht werden für den Arbeitsmarkt. Alte Pädagogen treffen auf junge Sprachlosigkeit. Das Handyverbot wird zur Machtprobe. 

Protokoll

Neukölln-Aktiv ist kein Film über gewalttätige Jugendliche, gefährliche Migranten oder gentrifizerte Berliner Stadtbezirke. Neukölln-Aktiv ist ein Film, der auch in vielen anderen Stadtteilen Deutschlands hätte gedreht werden können – das Porträt einer Sozialisierungsmaßnahme.

Ursprünglich war in Anlehnung an Frederick Wiseman ein Institutionenporträt geplant. Während man aber den bürokratischen Weg ging, um die Institution, in diesem Fall das Jobcenter Neukölln, zu filmen, hat sich die unbürokratische Möglichkeit aufgetan „Neukölln- Aktiv“, eine Aktivierungsmaßnahme für junge Männer zu begleiten. Der Leiter der Maßnahme erhoffte sich eigentlich einen Image-Film, willigte dann aber ein und ließ dem Team alle Freiheiten. Am Ende war er enttäuscht. Von den beteiligten Jugendlichen haben nur zwei den Film gesehen und mochten ihn, waren gar ein bisschen stolz. Die anderen Teilnehmer waren bisher nicht zu erreichen; zu oft werden Telefonnummern und Adressen in diesen Kreisen gewechselt.

In dem Film geht es vor allem um Sprechweisen und Erziehung. Schon der Anfang ist exemplarisch: Der Mitarbeiter redet mit dem Jugendlichen, das Blatt der Bürokratie liegt dazwischen – allein das Setting verdeutlicht, was die beiden trennt. Es bewegt sich wenig im Film, genauso wie die Einstellungen auf der jeweiligen Situation verharren. Diese formale Entscheidung kommt daher, dass die beiden Filmemacher sich von vorneherein einig waren, dass hier kein großer Prozess stattfinden würde; sie wollten sich eher in der Dauer beobachtend einem Geschehen nähern. Zudem war für Herpich, die eigentlich Montage studiert hat, die Arbeit mit der Kamera neu, deshalb sind die Bilder so ruhig, was im Endeffekt aber viele schöne Szenen ergeben habe.

Es stellt sich natürlich die Fragen nach der Sinnhaftigkeit dessen, was in dieser Aktivierungsmaßnahme geschieht, und der Film beantwortet das auch, findet Wulff. Wenn man ein Porträt über zwei Seiten macht, in diesem Fall Personal und Kunde, und Hierarchien porträtiert, läuft man notgedrungen Gefahr, eine Seite einzunehmen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch der Film. Er möchte wissen wie sich die Filmemacher positioniert haben. Sie seien mit großen Vorurteilen an die Sache gegangen und haben das Ganze eher als Disziplinierungsmaßnahme für Jugendliche gesehen, dann während der Dreharbeiten aber bemerkt, dass alles viel komplexer sei und mal die eine, mal die andere Seite eingenommen, so Herpich. Das ist ein grundsätzliches Dilemma, mit dem man bei solchen Filmen umgehen muss, bemerkt Wulff, und verweist auf Wisemans Film über Polizisten als Schweine und Helfer („Law and Order“, USA 1969). So seien die beiden Filmemacher aber nicht vorgegangen.

Beim Sichten haben sie entschieden, ob das Material dramatisches Potential hat und man versucht, das zu kultivieren oder ob man es auf der nüchternen Ebene belässt, auf der sie es im Endeffekt gelassen haben – der Rest habe sich dann im Schnitt ergeben, erklärt Stadlober. Eigentlich stecke in jeder Szene Dramatik, aber am Ende hat sich an der Situation der Protagonisten nicht wirklich etwas verändert. Der Film ist also kein Drama, das habe sich vom Material so aufgedrängt, und deshalb haben sie das Geschehen mehr wie eine Geschichte erzählen wollen. Man muss dem, was man gefilmt hat, schließlich auch gerecht werden, und die vermeintliche Verheißung bzw. Erfüllung hat mit dem Material, das sie am Ende hatten, so nicht funktioniert.

Peter Ott erinnert an Deleuze und sein Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. Die Institution ist hier die Kontrollgesellschaft, eine Maßnahme folgt der anderen, man wird nie fertig. Dahinter drohen harte Sanktionen, die „offenen Karrieren“, denn „was soll man sonst mit denen machen?“ Er fragt sich, wo der Film innerhalb dieses totalitären Systems der Kontrollgesellschaft steht? Ist er außen vor oder ein Teil davon? Stadlober sieht das ambivalent, und diese Ambivalenz wird durch und in dem Film erhalten. Das heißt für ihn, er ist nicht Teil davon. Der Film hat keine spezifische Botschaft, keine klare Perspektive, ist nicht stark positioniert, und man habe versucht, damit umzugehen.

Ott kommt noch einmal auf das Formular als immer wiederkehrendes Objekt zurück. Ist der Film auch so ein Formular? Auch er bildet eine ständige Testsituation ab. Die Jugendlichen sind sympathisch, die Maßnahme schrecklich, es gibt „null Entwicklung“. Wo steht der Film also im institutionellen Kontext? Was nützt er den Jugendlichen als Entrepreneure der Sozialmaßnahme? Man sieht, dass die Maßnahme nicht im Sinne des Erfinders funktioniert, so Stadlober. Sie ist unterfinanziert und die Pädagogen nicht hochqualifiziert. Man kann sich nicht vormachen, dass es etwas bringt, der Film ist für die Protagonisten noch am ehesten ein Hilfsmittel zur Reflexion. Jemand aus dem Publikum unterstützt diese Art des Filmemachens. Sie findet in Milieus statt, wo Filme eine moralische Kategorie darstellen. In höheren Etagen der Industrie würde sich das Gleiche abbilden, nur komme man dort nicht hin. Es wäre interessant, einen Film zu sehen, der sich in diesen „höheren Sphären“ abspielt. Ein anderer Diskutant findet, dass Otts Fragestellung zu sehr eingrenzt. Sowohl die Jugendlichen als auch die Pädagogen sind abgebildet, die Filmemacher stehen dazwischen und werfen einen Blick auf das Ganze, denn beide Seiten haben ihre Probleme, Dinge funktionieren nur in einem bestimmten Rahmen. Von beiden Seiten ist es so angelegt, dass der Spielraum sehr klein ist, dass die Maßnahme unter diesen Voraussetzungen nicht weit führt. Jemand anderes bemerkt, dass die Institution zwar die Kontrollinstanz ist, sie biete aber auch Raum, ist eine Möglichkeit des Systems und immerhin ein Angebot.

Eine weitere Stimme aus dem Publikum findet, dass der Film eine sehr charakteristische Präsentation solcher Situationen sei. Macht es die Filmemacher nicht wütend, in eine Situation zu schauen, in der das Kind schon in den Brunnen gefallen ist? Er vermutet, dass es problematisch (und wahrscheinlich auch zu lang) gewesen wäre, zusätzlich die Vorgeschichten der Jugendlichen abzubilden, oder hat das nicht interessiert? Herpich sagt, sie haben bewusst entschieden, sich auf die Maßnahme zu beschränken. Es gibt kein Vorher und kein Nachher, das Leben der Jugendlichen kommt nur ausschnitthaft vor. Sie haben insgesamt nur punktuelle Informationen über die Jugendlichen sammeln können, weil sie erstens nicht über das gesamte Jahr, das die Maßnahme gedauert hat, sie auch filmisch begleitet haben und die Jungs auch in der Zeit, in der sie gedreht haben, nur selten da waren; da wird es schwer Kontinuitäten zu erzählen. Ein Film, der alles erzählen soll, ist ein anderer Film. Stadlober stimmt zu, er ist froh über diese Entscheidung, man muss nicht alles ausbuchstabieren.

Ute Holl hat gut gefallen, wie die Jugendlichen Sprache strategisch nutzen, um sich Vorteile zu verschaffen. Sie schauen, dass sie durchkommen, „lügen sich quasi durch“, und man fragt sich, wo die Wahrheit liegt bzw. welche Rolle sie in solchen Maßnahmen spielt. Eine Aussage wird zur Akte; das ist eine Situation, die uns alle angeht, alles wird aktenkundig – sehen, sprechen, denken. Wulff verweist auf die zehnminütige Szene mit der Sozialarbeiterin, die für ihn nichts anderes ist als: die Marx-Brothers treffen auf John Ford – ein sehr lustvoller dadaistischer Moment, in dem sich die Sprache verselbständigt und der Blick der Kontrollgesellschaft sich auflöst.

Jemand aus dem Publikum hätte gern mehr über die Pädagogen erfahren. Sie sind engagiert, aber mehr oder weniger frustriert und er stellt sich vor, dass es schwierig ist, das darzustellen. Was ist deren Motivation? Bis auf den Leiter und Gülay sind die Mitarbeiter Langzeitarbeitslose und demzufolge einfach dankbar, Geld verdienen zu können, erklärt Herpich. Der Leiter initiiert die Projekte und treibt Gelder auf; er ist gar nicht so oft vor Ort wie es im Film scheinen mag, deshalb hält sich auch sein Frust in Grenzen. Bei Gülay sieht das anders aus, sie bekommt alles mit, ihr Grad der Frustration ist wesentlich höher, obwohl sie erst seit einem Jahr dabei ist. Interessant war, dass das Ganze wie eine Familie funktioniert: Gülay ist die Mutter, die da ist und sich kümmert, der Leiter ist der Vater, der darüber schwebt, straft und lobt. Herpich bedauert, dass es ihnen nicht gelungen sei, diese Facette im Film zu zeigen.

Die Szene im Jobcenter ist für einen Zuschauer die Schlüsselszene, da sie den Zynismus der Maßnahme so deutlich zeigt. Es geht einfach nur darum, die Arbeitslosenzahlen klein zu halten, Leute aus der Statistik rauszukriegen. Er fragt sich (und die Filmemacher), ob sie Orte sehen, wo soziale Partizipation glücken könnte? Es gibt einen ganzen Markt verschiedener Träger, die Maßnahmen anbieten, und diese ist vergleichsweise erfolgreich. Sie bietet keinen Job, aber wenigstens einen Schulabschluss.

Bruno Derksen nimmt Bezug auf Peter Ott und sagt, dass die Diskussion zeigt: man landet in einer sozialdemokratischen Perspektive, redet nur übers Scheitern, im Film sieht man nur Scheitern. Aus der Perspektive des Staates ist alles super. Er kontrolliert, die Maßnahmen erfüllen ihren Zweck. Die Frage was man besser machen kann, wie eine bessere Maßnahme aussehen könnte, ist falsch. Der Fehler liegt nicht bei den Leuten, der Fehler liegt beim Staat.