Film

Virgin Tales
von Mirjam von Arx
CH 2012 | 87 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 36
07.11.2012

Diskussion
Podium: Mirjam von Arx
Moderation: Cristina Nord
Protokoll: Constanze Berschuck

Synopse

Die Wilsons aus Colorado mit ihren sieben Kindern sind die Verkörperung der perfekten christlich-evangelikalen Familie. Mit vollem Einsatz veranstalten sie „Father Daughter Purity Balls“. Die Wilson-Mädchen üben sich selbst tapfer in „Pure Waiting“, während Vater Randy mit missionarischem Eifer für ein anderes Amerika kämpft.

Protokoll

Gemütlich wanken die Zuschauer vom Kino in den Diskussionsraum, noch herrscht eine ruhige Stimmung, dann häuft sich das Gemurmel der Stimmen und im Hintergrund des Podiums sieht man einen jungen Mann eifrig an einer Kamera hantieren. Der Saal wird immer voller und voller. bis die vordersten Reihen fast komplett besetzt sind und die Diskussion startet.

Zu Beginn verweist Moderatorin Cristina Nord auf die interessante Verbindung des Films, der nun einen Tag nach Obamas Wiederwahl in den USA und seiner „Victory Speech“ gezeigt wurde, in der er die United Nation stark betont und die Zweiteilung des Landes in blaue und rote Staaten ablehnt. Die aus der Schweiz stammende Regisseurin Mirjam von Arx ist sich allerdings nicht sicher, ob es tatsächlich ein vereintes Amerika gibt, da ihrer Ansicht nach viele konservative Amerikaner diese Zweiteilung akzeptieren und für sie „Toleranz schon fast ein Schimpfwort ist“.

Ihr Anliegen war es, immer offen und tolerant auf die Menschen und Familie Wilson zuzugehen, um die andere Denkweise zu verstehen, doch auf der Gegenseite spürte sie eher eine gewisse Abwehrhaltung. „Niemanden hat es interessiert. wer wir waren“. Eigentlich, so sagt sie, wisse Familie Wilson nichts über sie oder das Filmteam, obwohl sie ständig dort waren. Die entstandene Distanz empfand sie anfangs als angenehm, mit der Zeit aber doch als etwas beleidigend. Letztlich hat sie das Ausbleiben der Gegenfragen als ein familiäres Glaubenskonzept verstanden, das einem anderen Lebensmuster folgt und äußere Einflüsse abschirmt. So werden Sexszenen in Filmen vorgespult, bei Schönheit bzw. schönen Frauen das Wegschauen gelehrt und der Schulunterricht von der Mutter übernommen. Nicht verwunderlich, dass die neunköpfige Familie Wilson einem Ausblendungskodex treu ist, um ihr familiäres Gerüst mit wöchentlich stattfinden Ritualen bzw. Zeremonien nicht zu erschüttern oder über einen eventuellen Abtrünnigen ihrer Herde ernsthaft nachzudenken.

Neben der Ehe können die Rituale der Wilsons als Fundament des Familienlebens betrachtet werden, mit denen sie sich regelmäßig in ihrem Glauben und ihrer Entscheidung bestärken, den richtigen Weg zu gehen. Vor allem die gegenseitige Belehrung der Geschwister untereinander scheint die Entscheidung der jungfräulichen Zöglinge des Clans besonders zu bekräftigen. Pausenlos werden emotionale Reden an die Familie gerichtet, Tränen fließen, wertvolle Erbstücke werden überreicht, worauf eine Umarmungsarie folgt und der Raum hell erstrahlt vom Lächeln aller Anwesenden. Bei all den gegenseitigen Liebesbekundungen der Wilsons geht Logans spontane Lobpreisung der einzelnen Familienmitglieder am Frühstückstisch zwar im Film leicht unter, aber Mirjam von Arx berichtet, dass dieser Moment sie wirklich alle berührt hat. Selbst die komplette feministische Filmcrew konnte irgendwann nur schwer ihre Tränen zurückhalten (was beim Publikum im Saal die Lachmuskeln in Bewegung setzt).

Trotz rührseliger Momente, in denen selbst hart gesottene Feministinnen ihre persönliche Einstellung hinterfragten, war es für das Filmteam sehr ermüdend sich ständig an den Verhaltenscodex im Haus anzupassen. Zuweilen war das Gefühl sehr klaustrophobisch, so dass man letztlich immer froh war, aus dem „Häuschen“ der Wilsons wieder raus zu sein. Aufgrund der beklemmenden Wirkung, die das Wilson-Haus ausstrahlt, wurde ihr Film sogar mal als „Horrorfilm“ beschrieben. Unweigerlich bedauert man die Kinder, die keine Wahl haben und dort hinter einem rosa Vorhang aufwachsen. Die Geschwister werden als beste Freunde und Eltern als Helden betrachtet. Von allein würden sie diesen Vorhang wohl nie runterreißen, um aus dem warmen Nest der Familie auszubrechen. Wohin sollten sie auch? Draußen ist es kalt, überall herrscht Chaos und die Schuldgefühle gegenüber der Familie würden sie sicher in eine tiefe Depression stürzen. Dennoch überzeugt der Familienbund mit seiner ehrlichen Zuneigung füreinander und dem liebevollen Umgang zu der Eltern mit ihren Kindern. Daher befindet sich die Regisseurin oft in einem Wechselbad der Gefühle zwischen Sympathie und Antipathie.

Schon lange hegte Mirjam von Arx ein Interesse an dem Thema Jungfräulichkeit, wofür die von Familie Wilson organisierten Jungfrauenbälle ein perfektes Umfeld darstellten, um das Thema indirekt anzusprechen, ohne mit dem Finger drauf zu zeigen. Abgesehen von dem politischen Hintergrund interessierte sie vor allem die geistige Einstellung der Mädchen. Besonders viele Einblicke bekommt der Zuschauer in das Schicksal von Jordyn, die „nicht unter der Haube“ ist. Da Familie Wilson nun einmal fest daran glaubt, dass jedem Kind schon bei seiner Geburt ein perfekter Partner vorbestimmt sei, ist Jordyn dazu „verurteilt auf ihren Prinzen zu warten“, egal wie hart es für sie ist, was in ihrem Videotagebuch ersichtlich wird. Der ansteigende Druck und das Warten darauf, endlich verheiratet zu sein und die Aufgaben als Hausfrau und Mutter zu übernehmen, kann man richtig mitfühlen. Der Neid auf das Glück ihrer Schwester Khrystian ist sehr stark spürbar. Diese hat schon längst ihren perfekten Traumprinz-Soldaten gefunden und erzählt, vor einem jungen, keuschen Publikum, sichtlich gerne und begeisternd von den märchenhaften Anfängen ihrer Liebesgeschichte und ihrem ersten Kuss. (Nebenbei berichtet die Regisseurin, dass Jordyn inzwischen doch „unter der Haube“ ist).

Aus dem Publikum äußert sich ein Mann über die in ihm hervorgerufene Missbrauchsthema, das für ihn auf den Bällen durch die körperlich enge Darstellung der Vater-Tochter-Beziehung zum Ausdruck kommen, und fragt, ob das die Suche nach einer dunklen Seite war. Mirjam von Arx würde vor allem die politische Seite von Randy als dunkle Seite bezeichnen und seinen festen unerschütterlichen Glauben, dass er im Recht sei und „alle anderen in die Hölle fahren“. Doch in der Vater-Tochter-Beziehung hat sie keine dunkle Seite an Randy entdeckt, auch wenn seine Figur stark polarisiert, insbesondere wenn er vor Gleichgesinnten von seinen Überzeugungen spricht.

Als Vater der Wilsons nimmt er die Rolle als Familienoberhaupt, Ernährer und Beschützer ein und ist daher auch eine zentrale Figur im Film, vor der die Kinder am Beginn des Films freudestrahlend niederknien.

Als „Drone“ werden Männer also nicht behandelt, wie es eine Frau aus dem Publikum hinterfragt. Zwar sind Frauen die wichtigen „Livegiver“, doch haben Männer eine noch wichtigere Funktion als „Vertreter von Gott“ und Oberhaupt der Familie. Für die Frauen-Filmcrew war es demzufolge spannend zu zeigen: „Wir haben einen Job!“ und besonders stolz war die Regisseurin auf die Reaktion der jüngsten Tochter im Hause Wilson, die gar nicht wusste, dass Frauen Kamerafrauen sein können. „Yes!“

Vom Publikum kommt die Frage, warum der Film nur das eingeübte Familienbild mit aller Inszenierungskunst der heimischen Fassade darstellt und nicht das alltägliche Leben zeigt? Alltagsszenen wurden zwar gedreht, aber waren für den Film nicht so ergiebig wie z.B. die Zeremonie zur „Frau- und Mannwerdung“. Zudem lassen die Szenen aus Jordyns Videotagebuch, das sie begleitend zur Langzeitdokumentation gedreht hat, etwas von dem durchscheinen, was sich hinter der Fassade verbirgt. Selbst Mirjam von Arx hat sich darüber gewundert, wie sich die Familienmitglieder „nonstop“ anhimmeln können, ohne sich jemals zu streiten.

Sichtbare Risse bekommt die Fassade nur in „ganz kleinen Gesten“, wie Randys mahlender Kiefermuskulatur oder dem bösen Blick der Mutter, als die jüngste Tochter unelegant mit dem Schokoladenpapier raschelt. Nach solchen Szenen hat die Regisseurin klar gesucht. Besonders stark ersichtlich ist die Mimik von Jordyn, als sich ihre Familie über ihr anhaltendes Singledasein lustig macht. Hier versagt das so oft eintrainierte Lächel-Training und man merkt förmlich, wie es in Jordyns Seele brodelt. Ein anderes Beispiel ist die Skype-Szene mit der allein zurückgebliebenen Khrystian, die rein gar nichts mit sich anzufangen weiß, als ihr Ehemann mal wieder in den Krieg zieht. Das aufmunternde „I love you“ der Mutter klingt fröhlich, doch ihre Mimik wirkt hilflos.

Von außen nicht ersichtlich und im Film unberührt bleibt die schlechte finanzielle Situation der Familie Wilson, die in der Diskussion zur Sprache kommt. Da ihr Glaube nur ein Einkommen erlaubt, mit welchem die Familie auskommen muss und die kluge Hausfrau kreativ umzugehen hat, ist der finanzielle Druck entsprechend groß. Peter Ott empfindet es als kritisch, dass dieser ökonomische Punkt im Film vollkommen ausgespart wird. Eine weitere kritische Stimme aus dem Saal meint, dass er die Familie im Film nicht gesehen habe, sondern nur einen „Propagandafilm“ der vom Thema überfrachtet ist.

Doch solche Kritik prallt an dem märchenhaften Dokumentarfilm ab. „Virgin Tales“ will einfach eine „Utopiewelt“ zeigen, die visuell wie musikalisch funktioniert. So wurde, wenn auch unter Protest, für das Soundkonzept sogar ein echter „Christian-Rocksong“ komponiert, der ohne Ironie im Ohr bleibt, wie das Echo des Films.