Film

Thorberg
von Dieter Fahrer
CH 2012 | 106 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 36
07.11.2012

Diskussion
Podium: Dieter Fahrer
Moderation: Constantin Wulff
Protokoll: Nadine Voß

Synopse

Der Thorberg ist das Alcatraz der Schweiz, ein vollständig abgeschirmtes Gefängnis auf einem Felsen, ein Ghetto von Verurteilten aus über 40 Nationen. Hier sind die schweren Jungs, sagt man. Mit Schuld zu leben, nicht verrückt zu werden, das sind die großen Aufgaben hier. Nicht jedem gelingt dies.

Protokoll

„Im Gefängnis fühle ich mich sicher“, sagt Luca.

Er ist einer von 180 Inhaftierten auf dem Thorberg, hoch über dem Emmental sitzt er seine Zeit in der geschlossenen Strafanstalt ab, der weite Blick auf die Landschaft wird meist vom zugezogenen Vorhang versperrt. Wer wird hier vor wem geschützt? Was heißt ‚Außen’, wenn die ganze Welt ein ‚Innen’ ist? Was bedeutet es, wenn jemand ‚sicher verwahrt’ wird? Dieter Fahrer portraitiert den Thorberg und sieben Häftlinge dieser Männergesellschaft, in der es viele Kumpels, aber kaum Freunde gibt.

An 200 Tagen besuchte Fahrer die Insassen des Gefängnisses, gründete eine Videowerkstatt, führte Gespräche, lernte viele der Gefangenen näher kennen und fand seine Protagonisten. Schließlich bekam er einen Schlüssel zum Gefängnis und die Erlaubnis, sich mit den Gefangenen auf ihren Zellen einzuschließen – zwei Grundbedingungen für Fahrer, um zu drehen und den „Menschen dort auf Augenhöhe begegnen“ zu können.

Der Zugang zu den Zellen gewährleistete die Struktur des Films, die immer wieder Rituale des strikt organisierten Tagesablaufs im Gefängnis thematisiert und der Realität hinter der Zellentür gegenüberstellt: Hier verliert sich die Zeit im Nichts, dehnt sich, löst sich in ihrer Sinnentleerung gewissermaßen auf. Die räumliche Enge der achteinhalb Quadratmeter ließ sich nur schwer erzählen, alles konzentriert sich hier auf den Innenraum: Der Blick nach draußen verhangen, das Fenster zur Welt der Bildschirm von Fernseher und Computer. Ungeübte Augen erkennen nicht einmal die Tür: der freie Blick ist eben an Klinken gewöhnt.

Aspekte von Schuld und Willensfreiheit beschäftigten Fahrer, der selbst einmal eingesessen hat, zu Beginn des Projekts. Schnell merkte er, dass die Frage nach Handlungs- und Willensfreiheit auf dem Thorberg gar nicht gestellt wird; er erlebte, wie der geschlossene Vollzug die Menschen kaputt macht. Das Gefängnis von Thorberg, das architektonisch und strukturell längst nicht mehr heutigen Standards entspricht, ist schon länger ein Ort der Kontroverse: Raum für physische Aktivitäten ist praktisch nicht vorhanden, Ausbildungen mit Abschluss sind nicht möglich, begleiteter Ausgang wird nur selten gewährt. „Der Strafvollzug hat das soziale Verhalten des Gefangenen zu fördern, insbesondere die Fähigkeit straffrei zu leben“, fordert das schweizerische Strafgesetzbuch, aber Rehabilitation, bemerkt ein Diskutant, findet augenscheinlich nicht statt. Psychopharmaka werden auf dem Thorberg wie wahnsinnig verteilt, berichtet Fahrer, über Symptombehandlung gehe die Betreuung jedoch nicht hinaus: Therapien können nicht greifen, da alles im Gefängnis Gesprochene nicht für vier Ohren bestimmt ist, sondern immer auch Konsequenzen für den Strafverlauf bedeutet.

Wie legitimiert sich der geschlossene Strafvollzug in Thorberg im Bewusstsein um die schädigenden Auswirkungen auf die Insassen? Seit längerer Zeit beobachtet Fahrer die Tendenz, dass Vorstellungen von Sicherheit zunehmend mit dem ‚Einsperren und Schlüssel wegwerfen’-Prinzip einhergehen. Die gesellschaftliche Exklusion der Straffälligen resultiere aus dem „vorchristlichen“ Bedürfnis nach Rache und Vorstellungen von Schuld und Sühne, die im heutigen Strafvollzug und seiner historischen Entwicklung ihren Ausdruck finden.

Und dennoch: Im Gefängnis fühlt sich Luca auf der sicheren Seite. Was draußen wartet, ist „null Perspektive und keine Zukunft“. Hinter den Mauern von Thorberg ist er allein, für sich, ganz unten – wer hoch fliegt, vergrößert nur die Fallhöhe. Luca ist der rahmende Akteur des Films, an keinem anderen Protagonisten zeichnen sich die Dynamiken und Auswirkungen des Vollzugs deutlicher ab. An der Ambivalenz seiner Figur eröffnet der Film einen Metadiskurs, der sich um Zuschreibungen von Gut und Böse, um Vorstellungen von Moral und Schuld dreht. Assoziationen aus dem Publikum reichen von der dämonischen Kindlichkeit eines jungen Robert De Niro hin zu einem Hannibal Lecter, den die Kamera stets hinter Gitterstäbe verbannt. Fahrer selbst beschreibt Luca als liebenswerten, hochsensiblen Menschen, von dem man zugleich weiß, wozu er fähig ist – ein Spannungsfeld um Kategorien von Gut und Schlecht, das jedem Menschen innewohnt. Aber: Es ist leichter, das Böse oben, auf dem Berg zu verorten.