Film

Die Herde des Herrn
von Romuald Karmakar
DE 2011 | 80 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 35
10.11.2011

Diskussion
Podium: Romuald Karmakar
Moderation: Werner Dütsch
Protokoll: Thomas Warnecke

Synopse

Eine filmische Exerzitie über die Herde des Herrn im Jahre 2005. Mit Begegnungen aus Marktl am Inn, dem Geburtsort des neuen Papstes, am Wochenende seiner Inauguration, mit Szenen aus Rom, elf Tage früher, als Hunderttausende zum Petersplatz drängen, um sich vom toten Papst mit Applaus zu verabschieden.

Protokoll

Werner Dütsch beginnt die Diskussion im brechend vollen Grammatikoff: „Ein Wort zum Thema katholische Kirche und Kino“. Die beiden seien ja aufs innigste miteinander verwandt (die bilderreiche Prachtentfaltung usw.), vor allem gelte für beide, dass sie nur Ausschnitte zeigten, das (nicht zu sehende) Abwesende größer, mehr sei als das (sichtbare) Anwesende, mit Bazin: „Das Off ist größer als das On.“ Und so auch hier. In beiden Teilen von Karmakars Film („Marktl“ und „Rom“) gehe es um Abwesenheit: in Marktl die des neugewählten, in Rom des verstorbenen Papstes, ganz zu Schweigen von der Abwesenheit Gottes, der nicht abgebildet werden dürfe (und trotzdem dieser merkwürdige Bilderreichtum). Die Zweiteilung des Films findet Dütsch sehr gut, es öffne sich „unabsichtlich“ ein Spektrum an Glaubenswahrheiten, Glaubenspraxis und Geschäftstüchtigkeit, das nicht miteinander (ineinander) aufgehe; die sichtbar werdende Marienfrömmigkeit der Gläubigen („Maria stößt die Reichen herab und hilft, die Armen zu erhöhen“) sei ja nicht diejenige, die das offizielle Rom bzw. der verstorbene wie der gegenwärtige Papst predigten, wobei Dütsch die beiden Maria betreffenden Dogmen (1854: Unbefleckte Empfängnis, 1950: leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel) erwähnt, außerdem falle im Film der Satz „die Kirche ist jung“, und Dütsch erinnert an die von Johannes Paul II. eingeführten Weltjugendtage, gleichzeitig werde eine Sexualmoral gepredigt, die von einem großen Teil etwa der Weltjugendtagsbesucher wohl kaum geteilt werde – kurz, noch einmal: eine große Synchronität von nebeneinander laufenden Dingen, die nicht miteinander aufgehen – und die wiederum der Film mit großer Fairness darstelle. Wir hätten ja alle Bilder der im Film gezeigten Ereignisse gesehen, Fernsehbilder nämlich, von oben meist, die Massen, Millionen zeigten; im Film hingegen würden lauter Einzelne sichtbar, außerdem werde die logistische Leistung sichtbar, diese vielen Einzelnen in bzw. nach Marktl bzw. Rom zu führen. Was On/Off angehe, gebe es auch eine zeitliche Ebene: Das Material des Films sei sechs Jahre alt, ebenso die im Film geäußerten Sätze z.B. über den neugewählten Papst Ratzinger, also Benedikt XVI., die Worte der Hoffnung seien, von welcher wiederum wir jetzt wüssten, dass sie sich nicht erfüllt habe. Von da kommt Dütsch auf die unglaubliche Popularität Johannes Pauls’ II. zu sprechen, deren Grund Dütsch darin sieht, dass man vergessen habe, wer dieser Papst gewesen sei: Sein Pontifikat sei das zweitlängste in der Geschichte gewesen, er habe dem kommunistischen Ostblock Widerstand geleistet, die Aussöhnung mit Israel vorangetrieben, die Weltjugendtage begründet, sei immer auf Reisen gewesen, und am Ende des Lebens habe er seine Krankheit ausgestellt, gleichsam als Stellvertreter Christi auch dessen Passion auf seine Weise nachvollziehend – an all das müsse man sich, so Dütsch, vielleicht erinnern, denn all das habe zu tun mit diesem „in der Tat bedeutenden Mann“; auch hier wieder: lauter Widersprüche, die auch im Film zu sehen seien, nicht zuletzt eben deshalb, weil nicht ein Haufen Leute, sondern einzelne gezeigt würden.

Jetzt hat Dütsch eine Frage: Er will wissen, wie viel Material es zum Thema Geschäftemachen und Wallfahrt gebe.

Romuald Karmakar begrüßt erst einmal „Guten Tag!“ das Publikum, was ihm Applaus und Lacher beschert. Es sei nicht gar so viel Material gewesen, er habe in Rom am Mittwoch, Donnerstag und Feitag, dem Tag des Requiems für Johannes Paul II., gedreht (also am 6., 7., 8. April 2005, am 2. April 2005 war Johannes Paul II. verstorben), dann, elf Tage später, zwei Tage in Marktl (am 19. April 2005 war Ratzinger zum Papst gewählt worden), und pro Tag jeweils vier bis fünf Stunden. Dütsch empfand die Leute in Marktl als sehr offen Karmakar gegenüber; während er ihnen dort mit seiner Kamera quasi auf Augenhöhe gegenübergetreten sei, habe er sich in Rom meistens unter den Leuten im Wortsinne befunden, also in Untersicht gefilmt. Wie er dort hingekommen sei, will Dütsch wissen. Im Auftrag von Arte, so Karmakar, was aber nicht der Wahrheit entspreche, jedoch habe er das in Rom so behauptet; er habe durch einen befreundeten Arte-Kollegen eine Presseakkreditierung bekommen, was wichtig gewesen sei, um nicht warten zu müssen, sondern die für die Presse freigehaltenen Bereiche nutzen zu können, um also, wie Dütsch einwirft, „sogar schneller als die Priester“ voranzukommen. Das entspreche in gewisser Weise den Pilgern in Rom, die bemüht gewesen seien, möglichst früh gute Plätze zu ergattern, und sich beschwert hätten, wenn bzw. dass die Wege blockiert gewesen seien. Dütsch fragt, wie Karmakars technischer Apparat für diese Leute ausgesehen habe. Er habe, so Karmakar, eine MiniDV-Kamera, eine PD 150, benutzt sowie ein Richtmikrofon mit einem Windschutz, jenem „Puschel“, der auch mal im Bild zu sehen gewesen sei. Vor allem dieser Puschel sei es gewesen, der eine Suggestion von Professionalität bewirkt habe, so habe er beispielsweise (die Szene ist nicht im Film) einen jungen Mann gefilmt, der mit einem Handy telefoniert und wohl seine Mutter aufgefordert habe, doch mal Rai Uno einzuschalten, er sei vielleicht im Fernsehen. Es habe sich in Rom niemand an seiner, Karmakars Anwesenheit gestört; außer einigen wenigen, die nicht gefilmt werden wollten, hätten viele Leute sogar die Nähe seiner oder überhaupt der anwesenden Kameras gesucht, sie hätten quasi gesehen werden wollen als Lohn für die Strapazen, die sie auf ihrem Weg zum verstorbenen Papst auf sich genommen hätten, wie etwa jener Amerikaner aus Singapur, der noch einmal zurückgegangen sei, um sich vom bereitstehenden Kamerateam „abfischen“ zu lassen. Umgekehrt, so Dütsch, gebe es aber ja auch jene Menschen wie die polnische Tonfrau, die ihre Arbeit beiseite lege und mitsinge, und resümiert: „Die Wege des Herrn sind unergründlich.“ Warum aber sei das Material fünf Jahre lang liegengeblieben, will Dütsch wissen.

Da hat Karmakar was gehört. Aus dem Publikum. Eine Frau, die nahe beim Protokollanten sitzt, hat eher leise gesagt: „Weil’s so schlecht war.“ Karmakar will, dass sie das noch einmal verständlich wiederholt, sie präzisiert dann: dass der Puschel zu sehen gewesen sei, und manchmal auch die Kadrierung, da seien Köpfe abgeschnitten gewesen. Das mit dem Puschel tue ihm leid, es komme nie wieder vor, wegen des Puschels habe er das Material nicht gezeigt und ob die Zuschauerin nicht auch die Staubpartikel bei manchen Gegenlicht-Szenen gesehen habe. Werner Ružička geht sozusagen dazwischen. Genau diese „Plänkelei“, sich über Leute lustig zu machen, etwa über den Merkantilismus der Marktler oder den Bürgermeister – all das werde durch den Rhythmus des Films mehr und mehr eingeholt, gehe irgendwann nicht mehr. Aus der Gläubigkeit der Masse träten Individuen hervor, und sie seien in ihrer Gläubigkeit glaubwürdig. Es gebe im Film einen Rhythmus von Gläubigkeit als gesamtkörperlicher Erfahrung, als Beispiel nennt er die Mädchen mit der polnischen Fahne in Rom („kleine Geschichte, gut beobachtet“) und den Laufschritt der Fußwallfahrer in Marktl, der in der Bewegung der Kamera sichtbar sei. Ob auch er, Karmakar, durch das Mitgehen, durch das, was sich da abspielte, anders gesehen habe, will Ružička wissen, ob es ihn verändert habe?

Das wisse er nicht mehr, es sei schon so lange her, so Karmakar. Man könne immer noch die Ernsthaftigkeit der Leute beobachten, die habe es gegolten, in den Film zu übertragen. Was das mit ihm selber mache, interessiere nicht einmal ihn selbst. Da fragt Pepe Danquart mal ganz direkt: „Ich frage jetzt ganz direkt: Bist du gläubig?“ Und was ihn, Karmakar, denn nach Rom bewegt habe? Das habe nichts mit dem Film zu tun, seine Religion sei unerheblich, sagt Karmakar, und dass er das häufig gefragt werde und dann immer antworte, seine Religion sei das Kino. Nach Rom sei er gereist, weil es ihn überrascht habe, wie viele Leute der Tod des Papstes bewegt habe, selbst in der Süddeutschen Zeitung habe man ja in jenen Tagen zwanzig Artikel täglich zum Thema lesen müssen und hätten sich selbst Sportkommentatoren gläubig bekannt, und bei alledem habe er sich gefragt: „Hab’ ich da was übersehen?“ Er glaube – hier besser: er nehme an, die jungen Leute hätten ein Teil des medialen Ereignisses sein wollen. Er habe seinerzeit viel in Clubs gedreht (196 BPM, df’03, BETWEEN THE DEVIL AND THE WIDE BLUE SEA, df ’05) und konstatiert einen vergleichbaren Drang, dabei sein zu wollen: Er habe das Gefühl gehabt, die Leute aus den Clubs in Rom wiederzusehen. Weiter hätten ihn die vielen bürgerlichen Leute interessiert, die bis zu 15 Stunden für etwas angestanden haben, was sie offensichtlich schon lange nicht mehr getan hätten. Er habe sich gefragt, ob das Glaube sei oder doch wiederum Projektion, Teil eines Ereignisses werden zu wollen.

Aus dem Publikum wird gefragt, ob der Titel des Films zurücknehmen wolle oder solle, was schon gesagt worden sei: dass man einzelne aus der „Herde“ hervortreten sehe? Ihm gefalle, wenn jemand nicht wisse, wo „Herde des Herrn“ herkomme, antwortet Karmakar. Ihm sei es um eine Möglichkeitsform gegangen, die unsere Gesellschaft anbiete, nämlich individuelle Entwürfe gegen eine Lehrmeinung wie beispielsweise die der Kirche durchzusetzen, indem man also darauf verzichte, Teil der Herde des Herrn zu sein. Zweitens beziehe sich der Titel auf eine der letzten Reden Ratzingers im Konklave, in der er die Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“ („Die Herde des Herrn zu weiden“) Pius’ X. von 1907 zitiert habe, die sich gegen den Modernismus in der Kirche wandte. Von der Herde des Herrn sei allerdings schon im Alten wie im Neuen Testament die Rede, sagt Dütsch, „kann ich dir zeigen“.

Jemand aus dem Publikum sagt, die Schwarzblenden zwischen den einzelnen Sequenzen hätten den Film verlangsamt, seinen Fluss gebremst, und will wissen, ob Karmakar diese Schwarzblenden eingesetzt habe, um Material zu sparen, „weil’s keine anderen Bilder gab“? „Tut mir leid“, antwortet Karmakar. Er verwende keine Zwischenschnitte; man könne schneiden oder abblenden. Für ihn sei Abblende ein Auslaufen aus dem Narrativ; beispielsweise die Fußwallfahrt gehe über 80 Kilometer, die könne er nicht komplett verfolgen bzw. zeigen, da suggeriere die Abblende, dass es ewig so weitergehe. Es könne aber die Verlangsamung auch daran liegen, dass seine Kamera 25 Bilder in der Sekunde aufnehme, für die Projektion in Venedig aber eine Transformation auf 24 Bilder pro Sekunde nötig gewesen sei, das mache insgesamt immerhin zwei Minuten aus.

Dass der zweiteilige Aufbau die Chronologie der Ereignisse umkehre, habe viele Gründe, sagt Karmakar. So beginne der Film mit dem Geburtshaus und der zweite mit dem Petersdom als gleichsam dem Todeshaus des Papstes; dann erzähle der Marktl-Teil von einer Dorfstruktur, Rom hingegen sei eine internationale Bühne, es würde also ein soziologischer Bogen gespannt, der auch ein Angebot sei, den weiten Weg Ratzingers zu ermessen, von solch einem Ort an die Spitze der größten Institution der Erde gelangt zu sein. In umgekehrter, also chronologisch richtiger Reihenfolge hätte der Film nicht funktioniert, was Assoziationsmöglichkeiten angehe.

Zum On und Off gehöre, jetzt wieder Dütsch, dass das Publikum etwas weiß, und insbesondere wegen des Internets könnten Filmemacher heute wohl von einem größeren Wissensstand ihres Publikums ausgehen? Das habe er seinerzeit nicht bedacht, so Karmakar, er habe nur den Moment einfangen wollen und sich erst dieses Jahr wieder mit dem Material beschäftigt. Ein Satz wie der, „die Leute werden sich noch wundern“ (über das, was sich mit Ratzinger als Papst ändern würde), funktioniere nach sechs Jahren besser.

Ob der Film selbst finanziert sei, will Dütsch wissen, der Abspann erwähne einen Koproduzenten. Den habe er nur erfunden, so Karmakar, um in Venedig ein zweites Hotelzimmer zu bekommen, für einen Mitarbeiter, der sonst keins bekommen hätte. Abgesehen von den Untertiteln sei der Film komplett selbstfinanziert. Er finanziere seit 2000 alle seine Dokumentarfilme ohne Hilfe oder Förderung; zwar könne ihm sein Name unter einem Förderantrag sicher helfen, doch wenn er sich, wie 2005, spontan entscheide, nach Rom zu reisen, könne er eben nicht noch eben schnell ein Exposé für irgendein Gremium schreiben, er mache Filme oft aus Neugier und nicht nach einjähriger Vorbereitungsphase.

Die Körperlichkeit, die sich etwa durch den Gang mit den Leuten vermittele, habe ihn, Ružička, zum Teil der Herde gemacht, auch an seine „katholische Karriere“ bis in seine Hochpubertät hinein erinnert; sei er sonst schon Zuschauerkörper, werde er hier auch zu einem persönlichen Körper. Er will aber etwas anderes wissen: Wenn die gezeigten Ereignisse in diesem Jahr stattgefunden hätten, würden sechs von zehn Leuten ihr Handy nehmen und selber filmen, bliebe also der Moment nicht ihm, Karmakar, alleine überlassen. Karmakar missversteht diese Anmerkung, berichtet von Thomas Heise, der wohl beim (diesjährigen) Papstbesuch in Erfurt gedreht habe und ihm ebenfalls vom Rollenspiel der Leute berichtet habe, die auf ein Spiel eingingen, ähnliche Beobachtungen habe er, Karmakar, auch bei Fußball-WM oder –EM-Übertragungen auf dem Ku’damm gemacht: Merkten Leute, sie würden gefilmt, nähmen sie eben Rollen ein, wollten lustig sein usw., halte er seine Kamera länger auf sie, käme eine gewisse Aggressivität auf, weil die Leute spürten, dass er nicht ihre Rolle, sondern sie als Menschen wolle. In Marktl habe das große Medienaufkommen dafür gesorgt, dass die Leute innerhalb von vier Tagen gelernt hätten, jegliche Kameras für ihre Werbung zu nutzen, etwa sei der Mann mit der Papst-Torte auf ihn zugekommen und nicht umgekehrt.

Ob eine kleine Kamera besser handhabbar gewesen sei, oder ob er sie aus einer ästhetischen Haltung heraus verwendet habe, um nichts Bildgewaltiges zu produzieren, wird Karmakar gefragt. Beides gehöre zusammen, so Karmakar, und nennt Musikfilme als Beispiel: Man könne mit einer Kamera filmen, dann müsse man sich einen Standpunkt suchen, für bestimmte Vorgänge entscheiden usw., oder (wie etwa Martin Scorsese für seinen Stones- Film) mit unzähligen Kameras anreisen und dann alle möglichen Perspektiven auf ein Konzert einnehmen. Letzteres sei für ihn nicht denkbar.

Und dann beichtet Karmakar ein letztes Mal; dass er im Nachhinein erfahren habe: Er hätte auf dem Petersplatz gar nicht drehen dürfen.

 Werner Dütsch, Romuald Karmakar v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Werner Dütsch, Romuald Karmakar v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald