Film

American Passages
von Ruth Beckermann
AT 2011 | 120 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 35
11.11.2011

Diskussion
Podium: Ruth Beckermann
Moderation: Peter Ott
Protokoll: Judith Funke

Synopse

„American Passages“ führt in einer assoziativen Reise durch die USA: von desillusionierten Irak-Veteranen über homosexuelle Adoptivväter, schwarze Richterinnen, weiße Partylöwen bis zu einem „high roller“ am Spieltisch eines Casinos in Las Vegas. Ein episches Panorama Amerikas.

Protokoll

Ein Film wie ein dokumentarisches Netz, das über das Land, die Utopie Amerika geworfen wird – eine so naheliegende wie ergiebige Metapher, die Peter Ott zum Diskussionseinstieg anbietet.

Dieses Netz zu knüpfen sei ein langer Prozess gewesen, berichtet Beckermann. Der ausschlaggebende aktuelle Anlass war die Wahl Obamas 2008. Damals war es Beckermann ein Anliegen, die Wahlnacht in Harlem zu drehen, einen „historischen Moment, der bleiben wird“ – und so darf der Zuschauer mit den Eindrücken dieser Nacht, die Beckermann selbst sehr berührt haben, in den Film einsteigen.

Nach diesem Beginn widmete sie sich erst einmal ein Jahr lang einer gründlichen Recherche, bei der vor allem das Lesen im Mittelpunkt stand: „Bücher sind immer die wichtigsten Begleiter bei einem Projekt“. Für sie war es eine „verrückte Herausforderung“, ein Projekt über ein Land zu machen, von dem schon so unendlich viele Filme und Bilder existieren. Die Fotoserie „The Americans“ von Robert Frank beispielsweise, der im Abspann genannt wird. Ein „generic America“ wollte Beckermann zeigen, deshalb kommen kaum Stadtaufnahmen vor. Dafür vor allem die Orte dazwischen, Flughäfen, Highways, Diners, Malls, die Strukturen, die das Land verbinden. Bei der Auswahl der einzelnen Themenfelder, der Knotenpunkte des Netzes, wurde nur berücksichtigt, was Beckermann persönlich interessierte. Das Thema der Native Americans etwa gehörte ursprünglich nicht dazu, zu oft wurde diese Geschichte schon erzählt, dem hätte sie nichts hinzuzufügen, dachte sie. Erst durch eine ganz bestimmte Begebenheit, ein Bild im Nationalmuseum der Indianer, das wiederum mit einem ihrer Protagonisten verknüpft war, wurde Beckermanns Interesse geweckt.

Was für einen Auftrag sie denn bei diesem Film gespürt hat, interessiert Ott. Beckermann nicht, sie möchte lieber noch etwas über Robert Frank sprechen, der sie schon inspiriert hat, als sie in den 70ern in New York lebte und selbst viel fotografierte. Mit Fotografien das Land zu vermessen, diese romantische Idee, der sich auch andere amerikanische Fotografen verschrieben haben, Stephen Shore beispielsweise – in dieser Tradition sieht auch Beckermann ihre Herangehensweise an diesen Film. Eine Europäerin, die mit hoffentlich offenen Augen das Land bereist.

Was ist der utopische Entwurf, das normative Projekt dieses Amerikas, und wie reibt sich die Wirklichkeit daran? Dieses Gezerre zwischen unterschiedlichen Interessengruppen habe sie interessiert, die Tea Party beispielsweise und ihre Gegner (die Occupy-Bewegung gab es noch nicht), und über all dem die Constitution als Verbindungstext.

Polemik aus dem Publikum: Der Bezug zu Robert Franks Bildern sei ja sehr interessant, aber warum hat sie denn ihren Protagonisten die Köpfe abgeschnitten? Wohl eher anals abgeschnitten, entgegnet Beckermann, und zwar habe das mit ihrer Vorliebe für extreme Großaufnahmen zu tun. Eine Art, Gesichter zu filmen, wie es heute kaum noch gemacht wird, die Gesichter nämlich wie Landschaften lesbar zu machen. Die gängigen Dokumentarfilmeinstellungen langweilen sie, am liebsten würde sie nur noch Großaufnahmen und Totalen verwenden.

Im Gegensatz zu Franks Fotografien bewegen sich Beckermanns Bilder durch die Landschaft, merkt Werner Ruzicka an, gerade dieses Rhythmisierte, die Bewegung, fasziniert ihn. Im übrigen geht es in diesem Film ja nicht um die USA, sondern um Amerika, die utopische Idee, den Nicht-Ort.

Cutter Dieter Pichler beschreibt das Vorgehen im Schnitt: Wichtig war ihnen, dass nicht Reisen von A nach B beschrieben werden, sondern Bewegung nur um ihrer selbst willen stattfindet. Dass Autofahrten also nicht der räumlichen oder zeitlichen Orientierung dienen, sondern als Momente funktionieren, die den Film ins Rollen bringen.

In der Montage habe man erst einzelne Blöcke herausgeschält, um dann die Verbindungen zu setzen. Dabei musste man sich immer wieder durchs Material bewegen und doch an der Essenz bleiben. Beckermann widerspricht: Man baut nicht einfach Blöcke fertig. Einen Film muss man wie ein Haus bauen, er braucht stabile Grundfesten, erst wenn die stehen, kann der lustvolle Prozess des Dekorierens beginnen. Eine tolle Arbeit, wie ein Spiel.

Was die Grenze zwischen Realität und Fiktion betrifft, hier verschwimmt sie. Das Hollywood-Kino ist doch viel näher am Leben, als sie immer dachte, sagt Beckermann. Man findet diese Figuren ja tatsächlich, die reden wie in einem Film, die wirklich daran glauben, dass sie diese Rolle jetzt spielen.

Das verblüffendste Beispiel ist wohl die Tea-Party-Aktivistin, die sich in ihren ultrapatriotischen Vortrag hineinsteigert, bis die Tränen fließen. Das ist kulturell anders, und auch lustig, findet Beckermann. Dann aber der Schwenk auf einen in sich gekehrten Invaliden. Auf einmal begreift man, dass der Krieg nicht weit weg ist, dass das wirklich traurig ist. Ein merkwürdiger Moment, „komisch, aber auch wahr“.

Zum Schluss kommt Ott noch auf die Ökonomie, in Krisenzeiten bleibt das nicht aus. Im Film lernen wir, dass für Rechtsanwälte sehr gute und sehr schlechte Zeiten die einträglichsten sind. Sind es für Dokumentarfilmer vielleicht eher die Zeiten dazwischen? Beckermann kontert mit einer Gegenfrage: Soll das heißen, das Dokumentarfilmer jemals Geld verdienen?