Film

Carte Blanche
von Heidi Specogna
CH 2011 | 91 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 35
09.11.2011

Diskussion
Podium: Heidi Specogna, Thomas Keller (Kamera)
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Ann Katrin Thöle

Synopse

Die Wunden liegen offen. 2002 kam es in Zentralafrika zu Vergewaltigungen, systematisch verübt von Soldaten unter Jean-Pierre Bemba. Nun gibt es Hoffnung auf ein Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs. Der Rechtsmediziner, der Chefankläger und die Expertin für Opferfragen bemühen sich um Gerechtigkeit. 

Protokoll

„Die Opfer, die sitzen dir im Nacken!“

Eigentlich lautet die Devise des Internationalen Strafgerichtshofs „Film teams never go on mission.“ Dass Heidi Specogna die Institution in Den Haag trotzdem davon überzeugen konnte, das laufende Verfahren gegen den Kongolesen Jean-Pierre Bemba filmisch begleiten zu dürfen, ist schon erstaunlich. Doch so groß die Unterstützung des Chefanklägers Luis Moreno-Ocampo und seinen Ermittlern von Anfang an war, es bedurfte doch einiger Bemühungen, den Gerichtshof für den eigenen dokumentarischen Ansatz zu gewinnen. Also kein journalistisches Vorgehen, keine Nachdrehs, keine inszenierten Interviewsituationen usw.

Zunächst sah das Konzept vor, den Film lediglich aus der Ermittlerperspektive heraus zu entwickeln. Das wurde schnell verworfen, weil es auch darum gehen musste, eine eigene Haltung zu finden, einen Standpunkt einzunehmen. So fuhren Specogna und ihr Team noch vor Beginn der offiziellen Untersuchungen in die Zentralafrikanische Republik, machten sich mit der Umgebung vertraut, suchten und fanden eigene Protagonisten. Menschen, die von Bembas Truppen in den Jahren 2002-2003 terrorisiert worden waren und sich bereit erklärten, zu erzählen.

Daraus ergab sich eine dramaturgische Zweiteilung, die für Vrääth Öhner zu den Qualitäten des Films gehört. Als Gerichtsfilm macht CARTE BLANCHE zunächst ein juristisches Verfahren sichtbar. Die institutionalisierten, genau regulierten Abläufe dieses Verfahrens – Zeugenbefragung, Gerichtssaal, Anhörung– nehmen dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das hier verhandelt wird, seine Wucht. Demgegenüber steht die Zeugenschaft einzelner Opfer. Ihre körperliche Präsenz, ihr Blick und die Ungeheuerlichkeit ihrer Aussagen schaffen eine sinnliche Dimension, die das Leiden begreifbar macht. Peter Ott wird das etwas später die „Kontamination mit dem Menschlichen“ nennen. Die übrigens jeden anspricht und uns in die Kette der Verantwortlichkeiten einreiht: Bembas Reichtum gründet sich u. a. auf die Herstellung von Handyteilen.

Dreieinhalb Jahre haben Specogna und ihre Kollegen die Untersuchungen des Gerichtshofs verfolgt. Die Tatsache, dass es sich um ein schwebendes Ermittlungsverfahren handelte, verlangte ihnen dabei einiges an Improvisation und Geduld ab. Zeugen und Dolmetscher mussten während der Interviews anonymisiert werden, willkürliche Entscheidungen der lokalen Behörden verzögerten den Drehablauf, es war unklar, wann genügend Material vorhanden war, um einen Schlusspunkt zu setzen, und schließlich erreichte sie zwei Wochen vor Produktionsende die Nachricht, der Prozessauftakt werde auf unbestimmte Zeit verschoben.

Das „Filmemacher-Ich“ ist da immer etwas angegriffen, so Specogna, aber andererseits galt es die Arbeit der Ermittler auf keinen Fall zu gefährden und mit der Situation kreativ umzugehen. Insbesondere für die Kameraarbeit ergaben sich dann laut Thomas Keller sogar interessante Herausforderungen – Alternativen finden, andere Perspektiven, Detailaufnahmen… Man muss unbedingt flexibel sein, dreht mit kleiner Technik und muss doch im Hinterkopf behalten: Das

hier ist fürs Kino, für die große Leinwand!

Aus dem Kreis der Diskutanten schlägt der Filmemacherin durchweg positive Resonanz entgegen. Der Film sei großartig, er greife den Zuschauer körperlich an. Die Entscheidung, die Glaubwürdigkeit und das Engagement des Strafgerichtshofs und seiner Mitarbeiter in keinster Weise anzuzweifeln, genau richtig. Ebenso klug sei es gewesen, sich filmisch nicht darauf einzulassen, nach der Wahrheit zu fragen, denn – Werner Ružička folgt hier den Worten des Philosophen und Physikers Heinz von Foerster – die „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“. Bembas Familie findet auch einen Platz in diesem komplizierten Film. Sie an Weihnachten in ihrem Haus in Belgien zu besuchen, wo sie private Bilder und die selbst getöpferten Geschenke des Angeklagten präsentieren dürfen, das zeugt von einer gewissen „dokumentarischen Dreistigkeit“. Aber die Tränen von Bembas Tochter gehören eben auch zu dieser Geschichte.

Die Dramaturgie der Montage lässt sich Öhner zufolge an einer der wichtigsten Szenenfolgen festmachen: Bevor man das schicke Haus der Bembas betritt, fällt der titelgebende Begriff der „Carte Blanche“ – den Rebellen der MLC soll von ihrem Anführer eine unbeschränkte Handlungsfreiheit erteilt worden sein. Nach den Bembas geht es zurück nach Zentralafrika: wir sehen ein junges Mädchen mit einer offenen Wunde am Knie. Sie schreit vor Schmerzen. Für so ein Bild musste man den richtigen Platz finden, erläutert Specogna, „damit der Zuschauer diesen Schrei auch aushalten kann.“

Die Redakteurin Sabine Rollberg (WDR/ARTE) hat die Regisseurin und ihren Kameramann zur Filmwoche begleitet. Ohne ihr Zutun, ohne ihr Verständnis für die schwierigen Rahmenbedingungen, wäre die Realisierung dieses Filmprojekts nicht möglich gewesen. Rollberg selbst verweist auf die Politik der Sendeanstalten, die solche dokumentarischen Arbeiten ermöglicht oder eben nicht. Und sie kritisiert, dass notwendige Spielräume durch die veränderten Produktions- und Sendebedingungen in Zukunft sehr viel schwieriger durchzusetzen sein werden.