Film

Abendland
von Nikolaus Geyrhalter
AT 2011 | 90 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 35
09.11.2011

Diskussion
Podium: Nikolaus Geyrhalter
Moderation: Andrea Reiter
Protokoll: Judith Funke

Synopse

Ein Kontinent bei Nacht. Nachtarbeit gegen selbstvergessene abendliche Ablenkung, Geburt und Tod, Fragen im Halbdunkel, Sprachengewirr, Nachrichtenroutine und politische Verhandlungen. „Je länger man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.“ (Karl Kraus)

Protokoll

Das Abendland – ein viel gebrauchter, viel missbrauchter Begriff. Für seinen Film hat Geyrhalter ihn zunächst ganz wörtlich genommen, ein Europa der Nacht sollte erkundet werden, in vielen kleinen Einzelstatements, aus denen sich ein Gesamtbild zusammensetzt. Ein Beispiel für das Leben, das wir führen. Die Grenzzäune, die Exzesse der Menschen und Maschinen, die permanente Abwehr des Draußen. Aber was beschützen wir denn eigentlich?

Mit dem Schnitt wurde sehr früh während der Dreharbeiten begonnen, wie eine Spirale hat sich daraus das weitere Vorgehen entwickelt. Bei Dreh und Schnitt – „Außendienst und Innendienst“ – arbeiteten Geyrhalter und Wolfgang Widerhofer sehr autark, mit großem gegenseitigem Vertrauen.

Bei der Auswahl der Locations war Geyrhalter das „Mastermind“, Hunderte seien es ursprünglichgewesen. Mit der Vorrecherche habe sich allerdings sein Team abgequält,beivielen weiß Geyrhalter bis heute nicht, wie die Drehgenehmigungen zustande gekommen sind. Letztendlich wurden dann die meisten Orte aussortiert, andere rückten ins Zentrum, dort wurde bei Bedarf auch nach 2 Jahren noch einmal nachgedreht.

Das einzige Thema, an dem man sich vergeblich die Zähne ausgebissen hat: Eine Abschiebung zu filmen, war nicht möglich. „Das ist politisch nicht gewollt, dass man den Menschen dabei in die Augen schaut.“

Und dann die leidige Frage nach den Persönlichkeitsrechten: „Ja, das ist ganz wasserdicht“, freut sich Geyrhalter, die rechtliche Situation hat sein Team geklärt, die notwendigen Einwilligungen eingeholt. Die Zielpersonen der Londoner Überwachungskamera, die wir in erschreckender Unmittelbarkeit mitverfolgen können, konnten allerdings nicht gefragt werden. Ja, das sei grenzwertig. Aber es geht ja gerade darum, zu sehen, welche tiefen Eingriffe die Videoüberwachung ermöglicht; das Thema war Geyrhalter zu wichtig, um auf die Aufnahmen zu verzichten. Sollte es zu einem Rechtsstreit kommen, die Argumente liegen parat.

Der zweite Problemfall in Sachen Menschenwürde: Die „Kunden“ der Wiesn-Sanitätsstation mussten unkenntlich gemacht werden. Schwarze Balken waren für Geyrhalter keine Option, und so wurden in der Postproduktion kurzerhand Gesichtspartien umverteilt: Fix die Wange eines Sanitäters eingefügt, und der lädierte Trunkenbold ist nicht mehr wiederzuerkennen. Was für ein Coup – das Publikum ist baff.

Auch über konkrete Drehauflagen hinaus wurden Vorabsprachen zur Inszenierung getroffen. „Das ist ja kein Tierfilm, bei dem man nur auf der Lauer liegt“. Eine leichte Künstlichkeit sollte erhalten bleiben – die Kamera verstanden als Bühne, die die Realität abbilden soll.

Nur durch penible Planung sind die durchkomponierten, dramaturgisch zugespitzten Tableaus aber nicht zu erklären, hier zeigt sich für Ruzicka eine neue Qualität in Geyrhalters Kameraarbeit: Die Fähigkeit, die Bilder so lange auszuhalten, bis sie aus sich heraus eine Geschichte offenbaren. Zeit für Bescheidenheit: Ohne Widerhofers intuitive Montage, das subtile Einbetten der Bilder würde das so überhaupt nicht funktionieren, gibt Geyrhalter das Kompliment weiter. Mit neuen technischen Möglichkeiten habe das nichts zu tun.

Zurück zu den großen Fragen, Peter Ott zieht Bilanz. Große Haufen dekadenter Menschen, dysfunktionale Körper, eine leer laufende Bürokratie – das Projekt des Abendlandes kommt zu seinem Schluss. Richtig verstanden?

Eigentlich habe er ja eher Fragen formulieren wollen als Statements, sagt Geyrhalter. Aber dass das aufgeweckte Duisburger Publikum die Signale gehört hat, darüber freut er sich trotzdem.

Kulturpessimismus sei bedingt ja schon angebracht, und es ist kein Zufall, dass am Ende diese unglaublichen Bilder des Rave stehen: erst hier offenbart sich „der Europäer in seiner schönsten Form“.