Film

Die große Passion
von Jörg Adolph
DE 2011 | 144 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 35
08.11.2011

Diskussion
Podium: Jörg Adolph, Anja Pohl (Schnitt)
Moderation: Peter Ott
Protokoll: Mark Stöhr

Synopse

Hinter den Kulissen der Oberammergauer Passionsfestspiele, von den Vorbereitungen 2008 bis zur letzten Aufführung im Herbst 2010. Alle zehn Jahre wird hier die „Größte Geschichte aller Zeiten“ mit den Dorfbewohnern inszeniert. Ein Mammutprojekt, das nur mit der Hingabe aller Beteiligten möglich wird. 

Protokoll

In dem bayerischen 5000-Seelen-Dorf Oberammergau wird seit 1634 alle zehn Jahre die „größte Geschichte aller Zeiten“ aufgeführt, die Passion Christi. In dem Schauspiel, so eine der vielen historisch überkommenen Regeln, dürfen nur Oberammergauer mitwirken. Es bestimmt das Leben des Dorfes in jeder Hinsicht, auch in der Zeit zwischen den Aufführungen. An der Seite des impulsiven Spielleiters und Kettenrauchers Christian Stückl geht der Film den langen Weg zu den Passionsspielen 2010 mit. In 144 bemerkenswert kurzweiligen Minuten.

Peter Ott offenbart gleich zu Beginn seine eigene Passion: Er kommt nicht auf den Namen des Regisseurs Jörg Adolph. Das passiere ihm immer, sagt er. Warum, sagt er nicht. Dafür malt er aus dem Stand mehrere „große Bögen“ in den Diskurshimmel, die sich seiner Meinung nach über Oberammergau und Jörg Adolphs Film aufspannen lassen.

Das Jahr 1634 markiere den Beginn einer politisch-ökonomischen Epoche, „die sich Kapitalismus nennt und die wir wahrscheinlich bald verabschieden werden“. Bogen eins. Bogen zwei: Die Passionsspiele seien eine Urform des Theaters und verdankten – Bogen drei – im Falle Oberammergaus ihre Entstehung der furchtbaren Pestepidemie zu jener Zeit. Zudem diene das Traditionsschauspiel dem Andenken an die Ahnen. In dem Bergdorf gibt es wohl keine Familie, in der nicht schon ein Vater, Großvater oder Urgroßvater bei der Passion mitgemacht hat. Vierter und letzter Bogen.

Adolph, der Protestant aus Nordhessen, ist bekanntlich mehr auf dem Boden als im Himmel zuhause. Die Ottschen Kurven und Bögen interessieren ihn mehr aus Höflichkeit. Er habe am Anfang nur wenig über das Dorf und die Passion gewusst. Sein erster Zugang sei Christian Stückl gewesen, der umtriebige Spielleiter. „Ich dachte sofort, das ist ein super Protagonist, wie gemacht für einen Dokumentarfilm.“ Zumindest für Adolphs beobachtende Methode, für die starke Charaktere als Motoren der Geschichte substantiell sind.

Adolph plaudert ein wenig aus dem Nähkästchen. Über die viele Überredungsarbeit, die nötig war. Beim Bayerischen Rundfunk etwa, um „diesen Erbbauernhof“ aus der normalen Berichterstattung herauszulösen. Oder beim Oberammergauer Gemeinderat, der mehr an einem Werbefilm interessiert war und nur dank der klugen Schachzüge von Stückl bereit war, einen differenzierten Blick auf das Geschehen zuzulassen. An Stückl, so Adolph, sei im Dorf alles ausgerichtet. Er sei der große Strippenzieher, für seine Feinde auch der „Passionsdiktator“. Er, Adolph, habe daher versucht, den Film vom Zentrum aus zu erzählen. Und das ist nun mal Christian Stückl. Insgesamt drei Jahre hat der Regisseur mit ihm verbracht, 200 Tage davon vor Ort.

Peter Ott wird unruhig. Er will wieder höher hinaus. Sein Thema nun: das Ritual. „Ein Ritual macht Erinnerung durch Performanz, Wiederholung und Körperlichkeit.“ Der Text, so sein Eindruck, fresse sich während der Proben und Aufführungen der Passion Christi immer mehr in die Körper der Darsteller. Eine schöne Vorstellung. Findet auch Jörg Adolph, geht aber nicht weiter darauf ein.

Michael Girke will auch was sagen. Für ihn sind die Vorgänge auf der Bühne und im Ort parallelisiert. Er sieht im Film die Passionsgeschichte Christi, aber auch die Passionsgeschichte eines Künstlers, also der von Stückl. Girke bringt den Begriff „Kunstreligion“ ins Spiel, mit dem Adolph aber so gar nichts anfangen kann. Kunstreligion verbindet er mit „Kitsch“ und „Erleuchtung“, dabei sei es ihm doch um das genaue Gegenteil gegangen. In einem Punkt gibt er Girke aber recht. Dass Stückl nämlich tatsächlich sein eigenes Kreuz zu schleppen gehabt habe. Und nicht nur, weil man ihm seine permanente Qualmerei untersagen wollte.

Apropos Kreuz: Er, Ott jetzt wieder, sei überrascht gewesen über die „Unfrömmigkeit“ der Beteiligten, die bei den Proben auch in besonders heiligen Szenen Witze gerissen hätten. Adolph erklärt das Verhalten mit der großen Pragmatik, die nötig sei, um ein solches Projekt auf die Bühne zu bringen. Stückl lege auch keinen gesteigerten Wert auf eine besondere Gläubigkeit seiner Mitstreiter. Das war 1990, erzählt Adolph, noch ganz anders. Damals war der Jesus-Darsteller zum ersten Mal ein Evangele, „der Dorfpfarrer sah die Welt untergehen.“ Mit allzu „agnostischen“ Äußerungen sollte man sich aber in der Öffentlichkeit auch heutzutage noch zurückhalten: Zu jeder Schauspielsaison reisen rund 300.000 schwer bigotte Amerikaner an.

Die Oberammergauer erfanden die Passionsspiele im 17. Jahrhundert, um ihr Dorf vor den Heimsuchungen der Pest zu bewahren. Dieser Plan ging auf. Doch sind die weltberühmten Aufführungen nicht längst selber zu einer Art Pest für die Bewohner geworden? Peter Ott nennt das „Gefangenheit in den Spielen“. Jörg Adolph bestätigt den Befund. Er sieht das Mammutprojekt an den Grenzen seiner Größe und Vermarktbarkeit. Die Hotels, die Gastronomie, die komplette Infrastruktur der Gemeinde sei auf dieses eine Ereignis ausgerichtet, das nur jede Dekade stattfindet. Ein Minusgeschäft in den Zwischenjahren.

Und doch ist auch der Regisseur mit seinem Film Teil des Passions-Zirkusses geworden. Eine 45 Minuten-Version wurde zum Start der Spiele fertiggestellt und in den Verkauf gegeben. Eines der Zugeständnisse an die Macher. Die sind mit dem Ergebnis offensichtlich sehr zufrieden. Adolph zitiert Christian Stückl nach der Premiere der Langfassung des Films mit den Worten: „Die Passionspiele gibt es seit 400 Jahren. Das ist das beste Dokument darüber, das wir haben.“