Preisträger:innen
ARTE-Dokumentarfilmpreis
Durchgangsland
von Daniel Fill
Ein kühler, sonnenarmer Ort in den Bergen wird zum sicheren Abseits für Menschen, die sich anderswo nicht sicher fühlten. Andere wiederum waren schon immer da – und entscheiden sich zu gehen.
Transnationale Biografien und Identitäten werden erzählt – manche Einwohner*innen hat die Aussicht auf Arbeit hierhergebracht, andere sind vor teuren Mieten geflohen oder vor rassistischen Anfeindungen.
An diesem Durchgangsort in Südtirol, im Schatten einer nie gebrauchten Festungsanlage, wird schon immer an sichtbaren und unsichtbaren Großbauten gearbeitet – einem Verkehrsscharnier für globale Handelswege – deren Profite an anderer Stelle abgeworfen werden. Das permanente Rauschen der Brenner-Autobahn übertönt jenes des Flusses, der hier zum Staudamm wird.
In einer Balance aus Beobachtung und Nachfragen gelingt es dem Film, die Toleranzen und Widersprüche innerhalb der Gemeinschaft, dieser vielschichtigen Nachbarschaft, aufzuzeigen. Kommen. Bleiben. Und wieder gehen. Sich eine Zeit lang gebraucht und sicher fühlen. In diesem Transitraum hält der Regisseur inne: Zusehen, Zuhören, Verweilen. Erfahren. So ist der Film ein Plädoyer für die Neugierde – ein behutsames Porträt eines Ortes und „Nicht-Ortes“ zugleich.
3sat-Dokumentarfilmpreis
Was hast du gestern geträumt, Parajanov?
von Faraz Fesharaki
Ein Versuch über die Distanz und die unbedingte Nähe. Ein Versuch über das Zusammensein in Abwesenheit. Widerspenstig stemmt sich das verpixelte Webcam-Bild gegen jene knapp 4000 Kilometer, die zwischen dem Regisseur und seiner Familie – zwischen Berlin, Wien und Isfahan – liegen. Während Ton und Bild der Videotelefonie unsauber wabern, scheint das Familien-Band stabil. Es wird diskutiert, gelacht und einander selbst im Traum herzhaft verarscht, es werden Früchte en masse präsentiert, Toastrezepte feilgeboten und das Wetter kommentiert. Wir sind Gäste in diesem medial erweiterten Privatraum – in diesem familiären Niemandsland –, in dem sich vermeintlich Nebensächliches und politisch Brisantes poetisch und rhetorisch brillant artikuliert. Revolution, Gefangenschaft oder die omnipräsente Diaspora-Erfahrung – all das persönlich Erlebte wird spielerisch über die Bande verhandelt und durch die glaubwürdige Nähe und Offenheit des Miteinanderredens zu universellen Erfahrungsfragmenten.
Generell ist vieles bewusst fragmentarisch gesetzt und bleibt angeschnitten: der Kopf des Vaters in der Webcam etwa. Oder ein Wort, das mitten im Satz einfriert – als würde sich das Bild im Prozess der Aufzeichnung selbst zensieren, als würde die filmische Form repressive Realitäten im Iran und anderswo kommentieren. Es ist ein einzigartiger dokumentarischer Umgang, den der Film mit der Fragilität dieses Materials findet. Voller Humor und mit stilistischer Genauigkeit – in der Montage von Bild und Text, Musik und Sounddesign – werden Distanzen überwunden und Sehnsüchte gestillt: nach der Heimat, wo immer sie ist, den Liebsten, wo immer sie sein mögen. Liebe ist dann möglicherweise ein gemeinsames Glas Tee, ein Vorhang im neu bezogenen Zuhause, eine Umarmung, an einem Fluss, der lange kein Wasser führte … Wir haben uns in diesen Film verliebt.
Preis der Stadt Duisburg
Die Stimme des Ingenieurs
von André Siegers
„Himmel, Dorf, Strasse, Haus, Garten, Hecke, Eigenheim, Hund, Mund, Hand“. Am Anfang von André Siegers Film stehen Worte und Bilder mit denen wir unsere Realität beschreiben, begreifen und uns zu ihr in Beziehung setzen. Der Ingenieur, der Vater des Filmemachers, verliert seine Stimme und damit den Zugang zu diesen Worten. Ein Sprachprogramm soll sie neu zusammensetzen, ihren Klang bewahren. Und damit einen Teil seiner Identität. Ist es möglich, diesen Teil mithilfe von Technik zu reproduzieren, wenn die Stimme den Körper verlässt? Oder reicht dazu eine alte Kassette? Und was passiert später mit der Stimme im Computer? Zwischen Verschwinden und Bewahren-Wollen, wird die Technik auch zum moralischen Dilemma. Es sind weitreichende Fragen, die André Siegers in seinem Kurzfilm aufwirft. Er formuliert sie präzise in seiner filmischen Form, die behutsam mit der Fragilität seines Protagonisten umgeht und die Stimme als Brücke in unserer Beziehung zu Anderen thematisiert.
„Carte blanche“ Nachwuchspreis des Landes NRW
Brunaupark
von Felix Hergert & Dominik Zietlow
Eine Kampfansage gegen neoliberalen Turbokapitalismus und Spekulation, eine Feier der Solidarität und des Miteinander. Eine brutalistische Zürcher-Siedlung, erbaut in den 80er-Jahren von der Pensionskasse der inzwischen kollabierten Credit Suisse, entwickelt sich zu einem Ort, der gelebten Nachbarschaft. Menschen aus unterschiedlichen Nationen finden hier ein zahlbares Zuhause und setzen sich gegen die Kündigung aus Gründen der Gewinnmaximierung (bisher zumindest) gemeinsam erfolgreich zur Wehr. Mit großer Offenheit, Humor und Empathie verfolgt der Film von Dominik Zietlow und Felix Hergert seine kleinen und grossen Protagonist:innen über mehrere Jahre, entwirft ein buntes Kaleidoskop dieser Siedlung zwischen Ciccio’s Speak Easy, Latte Art, Joggern, Schafen und dem obdachlosen Poeten in der Tiefgarage. Erzählt wird eine Geschichte, wie sie sich grad in vielen europäischen Städten abspielt, eine Parabel auf die Gentrifizierung. Die Stärke dieses Erstlings liegt darin, dass er zwar ihre Mechanismen offenlegt aber nicht die Anklage in den Vordergrund stellt, sondern die kreative Kraft der Gemeinschaft Brunaupark. Rettet die Zigarette.
Dokumentarfilmpreis der Goethe-Instituts
Reproduktion
von Katharina Pethke
Dieser Film schafft ein komplexes Mehrgenerationenporträt über die Unvereinbarkeit künstlerischen Schaffens und Mutterschaft. Er führt uns an die Hochschule für bildende Künste Hamburg, an der drei Generationen von Frauen nacheinander ihr Studium absolvieren. In genauen Betrachtungen der Geschichte dieses Ortes, seiner Architektur und der ihn schmückenden Werke bildender Kunst macht Katharina Pethkes Film die dort vorherrschenden Geschlechterordnungen sichtbar. Im Kunstbetrieb bleibt die Frage, ob Kind oder Kunst bis heute eine schmerzhafte. Katharina Pethke macht dies durch formalästhetische Kraft erfahrbar. So heißt es in REPRODUKTION: „Man sieht, dass die Frau durch diese Kinder fest am Boden gebunden ist. Sie kann nicht schreiten, wohin sie will. Sie kann sich nicht bewegen, wie sie mag. Das Leben der Mutter wird durch anderes Leben am Erdboden gefesselt.“ .
Publikumspreis der Rheinischen Post
Dear Beautiful Beloved
von Juri Rechinsky
Jurys
ARTE-Dokumentarfilmpreis
Enoka Ayemba, Christiane Büchner, Stefanie Gaus
3sat-Dokumentarfilmpreis
Britt Beyer, Laura Coppens, Sebastian Höglinger
Preis der Stadt Duisburg
„Carte blanche“ Nachwuchspreis des Landes NRW
Dariusz Kowalski, Nicole Reinhard, Helena Wittmann
Dokumentarfilmpreis der Goethe-Instituts
Katarina Bock, Jonathan Schörnig, Marlena von Wedel
Kommission
Ute Adamczewski
arbeitet als Videokünstlerin und Filmemacherin in Berlin. Ihre Videoinstallationen wurden unter anderem auf der Architektur Biennale Venedig, der Shanghai Kunst Biennale und in der Pinakothek der Moderne München gezeigt. Ihre Videoinstallationen NEUE ORDNUNG (2013) und LA VILLE RADIEUSE CHINOISE (2015) wurden von den KW-Institute for Contemporary Art in Berlin coproduziert. Ihr Dokumentarfilm ZUSTAND UND GELÄNDE war auf zahlreichen Festivals und im Kino zu sehen. Er wurde u.a. mit der Goldenen Taube des DOK Leipzig (2019) und dem Preis der deutschen Filmkritik (2020) ausgezeichnet. Im April 2022 wurde ihr der Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum (2021) verliehen.
Mischa Hedinger
ist Filmemacher und Editor. Er studierte Video an der Hochschule Luzern, Design & Kunst und Film an der ECAL in Lausanne. 2013 realisierte er den Dokumentarfilm „Assessment“, der an der Duisburger Filmwoche mit dem „Carte Blanche“-Nachwuchspreises des Landes NRW ausgezeichnet wurde. Sein erster Kinodokumentarfilm „African Mirror“ (2019) feierte Premiere an der Berlinale, wurde für den Schweizer Filmpreis nominiert und gewann den Berner Filmpreis. Er lebt und arbeitet in Zürich.
Patrick Holzapfel
arbeitet als Autor, Filmkritiker und Kurator. Er ist Herausgeber und Chefredakteur von „Jugend ohne Film“ und setzt sich dort für „literarische Filmkritik“ ein. Im Oktober 2022 erschien die erste Printausgabe. Im Jahr 2016 erhielt er das Siegfried-Kracauer-Stipendium vom Verband der deutschen Filmkritik. 2022 erhielt er das Startstipendium Literatur vom Österreichischen Bundeskanzleramt. Außerdem wurde er zum Temnitzschreiber für „Nature Writing“ ernannt und ist Gewinner des Open-Mike-Finales für junge Literatur in Berlin.
Therese Koppe
ist freie Regisseurin und Autorin für dokumentarische Formen. Ihre künstlerische Praxis bewegt sich an der Schnittstelle zu Film und künstlerischer Forschung, die meist in kollaborativen Prozessen entsteht. Sie studierte Soziologie (Jena), Documentary Practice (London) und Dokumentarfilm-Regie in Babelsberg. Sie ist aktuell Stipendiatin des Berliner Künstlerinnenprogramms Film/ Video und Mitbegründerin der Produktionsfirma TILDA Films.
Alexander Scholz
Redakteur, Autor, manchmal Dozent u. a. bei Schnitt-Filmmagazin, Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, Diagonale in Graz, Internationale Filmschule Köln. Bei der Duisburger Filmwoche seit 2013 Protokollant, Pressereferent, Herausgeber von „AusSichten. Öffentliches Reden über Dokumentarfilm“ (2017, mit Werner Ružička), Redakteur des Archivs der Filmgesprächsprotokolle protokult.de. Seit 2021 Leiter des Festivals. Seine literaturwissenschaftliche Dissertation „Lesemodi schriftlicher Äußerlichkeit“ erschien im Frühjahr 2024 im Aisthesis Verlag.
Serpil Turhan
arbeitet als freie Regisseurin und Autorin in Berlin. Vor ihrem Studium der Medienkunst/Film bei Thomas Heise an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe war sie mehrfach Hauptdarstellerin in Filmen von Thomas Arslan und Rudolf Thome. Ihr Dokumentarfilm „Herr Berner und die Wolokolamsker Chaussee“ hatte 2010 seine Uraufführung auf der Duisburger Filmwoche und erhielt den Förderpreis der Stadt Duisburg. 2013 legte sie mit dem Dokumentarfilm „Dilim dönmüyor – Meine Zunge dreht sich nicht“, der auf zahlreichen Festivals gezeigt wurde, ihr HFG-Diplom ab. Der lange Kinofilm „Rudolf Thome – Überall Blumen“ feierte 2016 Premiere im Forum der Berlinale. Von 2019 bis 2023 war sie Gast-Professorin für Film an der HfG Karlsruhe. Ihr Film „Köy“ eröffnete 2021 die 45. Duisburger Filmwoche und kam anschließend in die deutschen Kinos.
Filme
DOM (Svetlana Rodina, Laurent Stoop | CH 2024)
HAUBI (Nizan Kasper | DE 2023)
Mâine Mă Duc (Maria Lisa Pichler, Lukas Schöffel | AT/RO 2024)
Da haben wir getanzt (Andreas Boschmann | DE 2023)
Henry Fonda for President (Alexander Horwath | AT/DE 2024)
Dreaming Dogs (Elsa Kremser, Levin Peter | AT DE 2024)
Arancia Bruciata (Clémentine Roy | DE/FR 2024)
Die Stimme des Ingenieurs (André Siegers | DE 2024)
Spuren von Bewegung vor dem Eis (René Frölke | DE 2024)
Dear Beautiful Beloved (Juri Rechinsky | AT 2024)
Ernte (Sebastian Schönfeld, Pauline Cemeris | DE 2024)
Der unsichtbare Zoo (Romuald Karmakar | DE 2024)
Sayyareye dozdide shodeye man (Farahnaz Sharifi | DE 2023)
Landschaft und Wahn (Nicole Vögele | CH 2024)
sr (Lea Hartlaub | DE 2024)
Avec la 4e Division Marocaine de Montagne (Stefania Smolkina | AT 2024)
Brunaupark (Felix Hergert, Dominik Zietlow | CH 2024)
Was hast du gestern geträumt, Parajanov? (Faraz Fesharaki | DE 2024)
Reproduktion (Katharina Pethke | DE 2024)
Ó mǎ (Mengzhu Xue | DE 2023)
Durchgangsland (Daniel Fill | AT 2024)
Extras
Primary (Robert Drew | USA 1960)
Vortrag von Esther Kinsky
Parabola d’oro (Vittorio De Seta | IT 1955)
Contadini del mare (Vittorio De Seta | IT 1956)
Nahes anders sehen. Bilder von Europa
Keine Denkmalpflege. Thomas Heise in Duisburg
In/direct Cinema: Positionen des beobachtenden Dokumentarfilms
Motto
ENTFERNTES SORTIEREN
„Heute dies, morgen jenes zu tun“ wünschte sich Karl Marx. Morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren, wie er gerade Lust habe, wollte er. Und das „ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ Labels entfernen! Etwas zu tun oder zu sagen, ohne gleich an einen gesellschaftlichen Ort sortiert zu werden. Von Beziehungen und Verhältnissen ausgehen, statt von dem, was man schon zu wissen meint.
Dokumentarfilme können uns lehren ebenso zu schauen: als sei die Welt noch nicht vollends verwaltet, als gäbe es noch Entferntes zu entdecken, noch Vertrautes neu anzusehen, als könnten wir eingeübte Geschichten wieder verlernen. Im Kino haben sie die Kraft, die Wirklichkeit aus ihrer Geltung zu montieren, die Verhältnisse neu zu sortieren. Auf der Leinwand sehen wir Menschen, die heute dies, morgen jenes tun; die würdevoll und souverän sind oder zweifelnd und schwach, aber niemals Pappkamerad:innen für altkluge Thesen. So – intervenierend und offen – wünschen wir uns die dokumentarischen Bilder jedenfalls.
Auf unseren heimlichen Watchlists begegnet uns das Dokumentarische allerdings auch in seiner konventionellen, mithin kommodifizierten, Form: „Dokus“ bieten uns die Welt als Produkt an, holen die Wirklichkeit griffbereit und mundgerecht in unsere Nähe: vorportioniert und vorsortiert. Derart Formatiertes mag unterhalten, oft lässt es uns aber schweigend zurück. Wenn Filme schon alles wissen, gibt es nichts mehr zu sagen. Wenn man Leute schon einsortiert hat, hört man nicht mehr hin, was sie nach dem Film zu sagen haben.